Freitag, 27. März 2020

Die Liebe in Zeiten der Epidemie III


»Solange man nicht in der Seele einen Punkt der Ewigkeit hat,
der vor jeder Ansteckung durch das Unglück geschützt ist,
kann man kein Mitleid mit Unglücklichen haben.
Entweder hält einen der Unterschied der Umstände
oder der Mangel an Einbildungskraft von ihnen fern,
oder wenn man sich wirklich nähert, ist das Mitgefühl
mit Grausen, Widerwillen, Furcht, unüberwindbarer Abscheu vermischt.
Jede Regung von reinem Mitleid in einer Seele
ist ein neues Herabsteigen Christi zur Erde, 
um gekreuzigt zu werden.«

Simone Weil


Grafik: Photo by Randall Greene on Unsplash

Samstag, 21. März 2020

Die Liebe in Zeiten der Epidemie II


»Alle, die glauben, es gebe oder werde eines Tages hienieden erzeugte Nahrung geben, lügen. Die himmlische Nahrung läßt in uns nicht nur das Gute wachsen, sie zerstört auch das Böse. Das bringen unsere eigenen Anstrengungen niemals zu Wege. Das Quantum an Bösem in uns vermag nur gemindert zu werden durch den Blick, der sich auf eine ganz reine Sache richtet.«

Simone Weil


Grafik: Photo by Francesco Alberti on Unsplash 

Samstag, 14. März 2020

Die Liebe in Zeiten der Epidemie


»Schon mehrmals habe ich Ihnen gegenüber den Gedanken geäußert, daß der zuverlässigste Weg zum Glück nicht der Wunsch ist, glücklich zu sein, als vielmehr das Streben, andere glücklich zu machen. Dazu aber muß man für die Nöte der Menschen ein offenes Ohr haben, sich ihrer annehmen, keine Mühen scheuen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen, die Menschen einfach liebhaben. Diese Liebe wird immer stärker, je öfter sie bekundet wird. Sie wirkt wie die Kraft eines Magneten, die nur erhalten bleibt oder noch zunimmt, wenn der Magnet ständig in Gebrauch ist.«

Dr. Friedrich Joseph Haass
(10.08.1780 – 16.08.1853),
der heilige Doktor von Moskau,
in einem Brief an seinen Schützling Nikolaj. 
 
 
 
Grafik: wikicommons

Freitag, 6. März 2020

Laurus

Vielleicht wird es in späteren Jahren über dieses Buch heißen, endlich habe mal wieder ein Autor den Mut gehabt, Natur und Übernatur wie selbstverständlich in Einklang zu bringen. Und in der Tat, es ist selbstverständlich, sehr selbstverständlich sogar, doch in verwirrten Zeiten, in denen eine grassierende Unkultur den Menschen einzementieren will in einer tristen immanenten Betonwelt, ein Desiderat

Vodolazkin ist Russe, wohnhaft mit seiner Familie in St. Petersburg. Und naturgemäß kommt ihm die literarische Tradition seiner Heimat entgegen, indem sie den Nachgeborenen nährt. Solowjow und Dostojewski und Gogol und Puschkin lassen grüßen. Und wie es nicht anders sein kann bei einem Russen, der aufs Ganze geht, sind die Themen da, die allein zählen: Schuld und Sühne, Liebe und Scheitern, Heil und Unheil, Krankheit, Pest, Tod und die Suche nach der Unsterblichkeit.

Der Leser wird mitgenommen auf eine mittelalterliche Queste, eine Suche der Leidenschaft und der Schmerzen. Der Held wird auf seinem Weg geliebt, gereinigt, gemartert, geprüft. Denn aus dem Menschenkind Arseni soll der Mitbürger der Heiligen werden.

Mancher ahnt, daß Vodolazkin bei dieser tour de force hätte abstürzen können in sentimentale, religiöse Peinlichkeiten. Aber weit gefehlt. Tatsächlich erzählt Vodolazkin mit schlafwandlerischer Sicherheit und Balance.

Ein Beispiel. Die Wallfahrt nach Jerusalem, mit dem Höhepunkt des Ankommens beim Heiligen Grab, bricht der Verfasser radikal ab, noch bevor das Grab erreicht wird. Denn der Sensationssüchtige wird nicht bedient, wohl aber derjenige, der sich sehnt, wie der Pilger Arseni sich sehnt. Warten ist eine Tugend. Geduld ebenso. Und wer brennend wartet und statt zu nehmen sich beschenken läßt, der wird erfahren, später, welches Gebet Arseni in der heiligen Stadt gebetet hat.

Während Vodolazkin nicht aufhört, unerhörte Begebenheiten aus den Jahren des Heils 1440 und folgende zu erzählen, weitet er zugleich den Blick - so als handele es sich bei den vergehenden Jahrhunderten um sich überlagernde und kreuzende geologische Formationen - in die Jetztzeit hinein, denn die Suche des Helden ist die Suche eines jeden, vorausgesetzt, Jedermann ist bereit zur Pilgerschaft der Endgültigkeit. Dazu gehört auch dies:

Eines Tages ist Arseni mit seinen Kräften am Ende. »Sogar die Hunde fliehen mich und wollen nichts mehr mit mir zu tun haben.« Die Winterkälte ist überall. Die Verlassenheit ist überall. Die Geliebte ist fern. Das Herz schlägt nur mehr schwach. Wozu weiter leben?

Und dann kommt ein wunderschöner Jüngling zu dem halb Erfrorenen.

»Sein Gesicht leuchtete wie ein Sonnenstrahl, in der Hand hielt er einen mit roten und weißen Blüten übersäten Zweig. Dieser Zweig sah nicht wie die Zweige der vergänglichen Welt aus, seine Schönheit war überirdisch.

Der Jüngling mit dem Zweig in der Hand fragte ihn:

Arsenije, wo bistu?

Ich sitze im Dunkeln, in eisernen Banden, an der Schwelle des Todes, antwortete Arseni.

Da schlug der Jüngling ihm mit dem Zweig ins Gesicht und sagte:

Arsenje, nimm hin das unbesiegbare Leben, das deinem Körper geschenkt wird, und seine Reinigung und Befreiung vom Leiden an dieser großen Kälte.«

Und Blütenduft zieht in Arsenis Herz. Blütenduft.

Das ist Vodolazkin. Das ist die Kunst, die wir brauchen.