Ein altbekannter Hochzeitsbrauch ist folgender:
Wenn die Neuvermählten aus dem Kirchenportal treten und in die Gesichter der Hochzeitsgäste und Gratulanten schauen, die bereits vor der Kirche auf sie warten, dann nimmt die Ehegattin irgendwann ihren Hochzeitsstrauß und wirft ihn in die Menge. Und es heißt, daß diejenige junge Frau, welche diesen Strauß auffängt, als nächste zum Traualtar treten wird.
Ein schöner Brauch. An ihn mußte ich in einem ganz anderen Zusammenhang denken. Und zwar bei einer Beerdigung. Dort wird, wenn für den betreffenden Verstorbenen und für alle Verstorbenen gebetet wird, in den Fürbitten auch desjenigen gedacht, der als nächster vor Gottes Thron treten wird. Auch hier wird eine Art Blumenstrauß überreicht, diesmal in Art einer Fürbitte, für einen anderen Hochzeitsstag, nämlich den endgültigen, da die Seele ihrem himmlischen Bräutigam Christus auf immer vermählt werden soll.
Wenn man diese beiden hohen Tage zusammendenkt, dann gewinnt man eine Vorstellung vom Realismus der Kirche. Sie geht unbeirrt durch die Zeiten und reicht einem jeden der Gläubigen die helfende Hand – dem, der Hochzeit feiert, und dem, der stirbt. Dabei ist die Ausrichtung der Kirche stets die gleiche: Sie will, daß durch die Zeiten hindurch der ihr Anvertraute die Tage seines Lebens gut lebt.
Gut leben heißt mehr als satt sein und sich alles leisten können, was nun mal zum Leben dazugehört.
Gut leben im Sinne der Kirche heißt, den Ernst des Lebens zu erfassen und jeden Tag
sub specie aeternitatis zu leben, was meint: Im Blick der Ewigkeit.
Das ist keine Vertröstung auf das Jenseits, wie billige Christentumskritik meint. Es ist vielmehr die Blickrichtung, die dem Leben die einzig sinnvolle Tiefe oder auch Höhe verleiht, denn sie gibt jedem Tag die unausdenkbare Fülle und den unverlierbaren Ernst.
Wer an einem offenen Grab steht und auf den herabgesenkten Sarg schaut, wem sodann der Totengräber die Schaufel mit Erde in die Hand drückt, damit der Gläubige einen letzten Gruß der Erde dem Verstorbenen mit auf den Weg gibt, der weiß, daß der Realismus der Kirche zugleich radikal bis zum Äußersten und befreiend bis zur Schmerzgrenze ist.
Denn die katholische Kirche macht einem nichts vor. Du Mensch, so sagt sie ungeschönt, bist sterblich. Die nackte Wahrheit wird nicht vertuscht, sondern in die Mitte gerückt. Denn nur wer sich der Wahrheit aussetzt, darf hoffen, in die Weite zu gelangen. Der Blumenstrauß der Braut wird verwelken, aber das macht nichts. Die neue Braut, die auserwählte, die einst den Blumenstrauß ihrer Vorgängerin in Empfang nahm, tritt nach vorne und gibt heute am Altar ihr Jawort.
Doch einmal wird das letzte Jawort fällig. Für diese Bereitschaft bereitet die Kirche vor, auf daß wir, wenn es soweit ist, ein volles, kräftiges, furchtloses Ja zu sprechen vermögen. Dies geht freilich nur, wenn wir uns in der Kirche und mit der Kirche in die
ars moriendi haben einüben lassen, in die Kunst des täglichen Sterbens.
Bei Hebbel heißt es in einem wunderbaren, wehmütigen Gedicht:
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
So weit im Leben ist zu nah am Tod!
Ja, Leben und Tod, wie nahe. Welche untrennbaren Geschwister! Der Hochzeitsstrauß, die Schaufel Erde, die Fürbitte für den nächsten Abschiednehmenden – man könnte starr vor Staunen sein, wären sie nicht allesamt Hinweise für den anderen Tag, der nicht verwelkt: Für den jungen, den blühenden, den ewigen Tag.
Die Alten mahnten:
Carpe diem! Pflücke den Tag! Es ist allerdings eine Verkürzung, wenn man dies so interpretiert, als hätten sie mit diesem Imperativ dem grenzenlosen Genuß das Wort geredet beziehungsweise dem, was man heute in die Formel preßt: Man muß alles aus dem Leben herausholen. Während die Moderne verzweifelt von einem Vergnügen ins andere taumelt, sich derart in einem Schein von Leben verbeißend, an dessen ewiges Zuhause sie nicht länger glaubt, waren die Alten klüger.
Carpe diem sagen sie. Aber das besagt mehr, viel mehr, als ein gieriger Griff wähnt. Es besagt: Schau die Rose, schau den Tod. Und pflücke das Leben, das ewige.
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