Vielleicht ist der Mann vierzig oder fünfzig oder älter. Weiß man nicht. Was man jedoch weiß, ist, daß er seit 38 Jahren krank ist, schwer krank. Und seit 38 Jahren wartet er auf Heilung.
An diesen Mann stellt der berühmte Arzt, der um die lange Krankheit des Darniederliegenden weiß, die Frage:
Willst du gesund werden?
Soll das ein Witz sein? Der Mann ist ein Langzeitkranker. Der sieht seit 38 Jahren andere herumrennen und arbeiten und Feste feiern. Und ausgerechnet diesen Kranken fragt der berühmte Arzt:
Willst du gesund werden?
Es ist kein Witz. Denn das Evangelium nach Johannes erzählt keine Witze, sondern wahre Geschichten. Und diese Geschichte steht zu Beginn des fünften Kapitels des Evangeliums.
Was also meint der Arzt Jesus, wenn er ernsthaft diese Frage stellt?
Läßt man die Frage wirken, so enthüllt sich das Gemeinte und damit die Berechtigung der Frage. Denn tatsächlich hat der Kranke genau dies zu wissen: Ob er wirklich gesund werden will.
Wirklich.
Man denke sich einen alten Raucher, der seit fünfzig Jahren einen Glimmstengel nach dem anderen sich anzündet, der ein Lungenkarzinom hat und der gefragt wird, ob er gesund werden will. Ja, wird er vermutlich antworten. Wenn man ihn anschließend auffordert, die gehorteten Glimmstengel in den Abfallkübel zu werfen, wird er vermutlich entgegnen, das sei in der Bitte um Gesundung nicht eingeschlossen gewesen.
Das Beispiel zeigt, worum es geht.
Da der Mensch nicht nur Leib ist, sondern zugleich Seele und Geist, ist Gesundung kein partielles Geschehen, sondern ein ganzheitliches. Die tiefsten Krankheitsprozesse liegen freilich nicht im Leib, sondern im Geist. Und die geistigen Pathologien werden oft genug nicht erkannt, geschweige denn beim Namen genannt. Dies hängt damit zusammen, daß die Gewohnheit Rechte für sich reklamiert, gerade auch die kranke Gewohnheit. Und schließlich hält man die Gewohnheit, wenn sie nur durch die Zeit und das gesellschaftliche Komplizentum ausreichend zementiert worden ist, für eine berechtigte Gewohnheit, sprich für eine Wahrheit. Nur, wie bereits Tertullian feststellte, hat Christus nicht gesagt: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit
(non consuetudo sed veritas).
Eine noch so tief verwurzelte Gewohnheit ist, wenn sie das Leben mindert oder schädigt oder zerstört, nicht als vermeintliche Wahrheit zu hätscheln, sondern zu verwerfen. Wer jedoch will das?
Wirklich.
Was, wenn nach 38 Jahren ein Gedankengebäude, an welches man sich seit 38 Jahren klammert und welches man für eine Art zweite Haut nimmt, durch die Gesundung einstürzt? Will man das?
Denn die Frage:
Willst du gesund werden? ist die Frage danach, ob man zu dem eindeutigen, tiefen, unverwechselbaren
Ja kommen will, das jedes Leben erst zu dem macht, was es von Hause aus ist: LEBEN. Sagt man JA zu seinem Leben? Oder hält man, zumeist sehr subkutan, die
Aber bereit und die Dementis und die Widersprüche, die im Letzten allesamt
nein zum Leben sagen und damit das Leben schleichend vergiften?
Ja oder
nein sind keine theoretischen Konstrukte. Da Ja ist sehr pragmatisch, das Nein gleichfalls. Denn beide Haltungen haben Konsequenzen. Paulus sagt es in aller gebotenen Eindringlichkeit:
Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündigt wurde - durch mich, Silvanus und Timotheus -, ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum rufen wir durch ihn zu Gottes Lobpreis auch das Amen (2 Kor 1,20).
Antworte ich auf die Frage Jesu mit
Ja, dann entscheide ich mich damit für die Zustimmung zur Welt. Ich bin einverstanden. Einverstanden mit der Fundamentaltatsache, daß es Welt und also mich gibt. Und mehr noch: Damit, daß mein Leben kostbar ist. Immer.
Will ich
diese Gesundheit? Das Ja zur Kostbarkeit meines Lebens?
Wenn ja, dann bin ich dort angekommen, wo der göttliche Arzt mich hinführen will: Zu dem Einverständnis, welches eine Form der Anbetung ist.
Darum auch setzt sich die Geschichte des Geheilten, die das Johannesevangelium erzählt, aus zwei Begegnungen zwischen dem Arzt und dem Patienten zusammen. Bei der zweiten Begegnung, nach der Heilung, sagt Jesus zu dem Geheilten:
Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt.
Die Begegnung findet bezeichnenderweise im Tempel statt, also dort, wo Gott gepriesen wird. Und jetzt erfährt der Geheilte den Namen des Arztes. Dieser Name –
Jesus - bedeutet übersetzt:
Gott rettet, Gott heilt. Mit anderen Worten: Im Tempel, an der Gottesstätte, wird dem ehemals Kranken offenbart, daß in dem Arzt Gott selbst auf ihn zugekommen ist, um ihn gesund zu machen. Der Spender des Lebens hat ihn heil gemacht. Und dort, im Tempel, wird die Heilung bezeugt und besungen, denn im Gotteshaus ist das Ja zum Leben grundgelegt.
Und die Geschichte geht noch weiter. Offenbar hat der Geheilte das Wesen seiner Heilung verstanden, denn es heißt:
Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, daß es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. Er weiß nun erstens um den Urheber seines wirklichen Lebens, und er weiß zweitens, daß er dieses Leben zu bezeugen hat. Denn das Leben, das wirkliche, will bezeugt sein.
Grafik: Pieter Aertsen, Heilung des Gelähmten von Bethesda. 1575, Rijksmuseum Amsterdam. wikicommons