Freitag, 29. September 2017

Der Spiegel


»Denn die angstfrei verkündete Wahrheit, wie bitter und unverständlich sie anfangs auch erscheinen mag, bleibt für immer im Gedächtnis eines Menschen. Und sie wird ihm so lange den Spiegel vorhalten, bis er sie annimmt oder für immer verwirft. Beides liegt ganz und gar in der Hand des Einzelnen.«

(Aus der wunderbaren Neuerscheinung: Bischof Tichon Schewkunow, Heilige des Alltags, Sankt Ottilien 2017, 182. Das Buch gehört mit zwei Millionen verkauften Exemplaren in Rußland mittlerweile zu den Meilensteinen der zeitgenössischen geistlichen Literatur.)

Grafik:    EOS Verlag

Freitag, 22. September 2017

»Und die Kinder?«

Ein cineastisches Meisterwerk ist anzuzeigen: Die Kinder des Fechters.

In einer geschwätzigen, lauten, alles zerredenden Welt kommt ein Film daher, der das Dezente, Diskrete und Sparsame zu seinen Gegenmitteln erwählt. Und es ist wie immer: Das sanfte Gesetz, von dem der österreichische Dichter Adalbert Stifter schrieb, überzeugt.

Ein neuer Lehrer kommt in eine Schule in Estland, nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Dorf, wo er hinkommt, ist ein trostloses Nest. Die sowjetische Besatzungsmacht hat das Sagen, und das heißt, das Regime regiert mit brutaler Unterdrückung. Wer nicht systemkonform spurt, wird abtransportiert in die Lager.

In diesem Umfeld der Angst und des Mißtrauens will der neue Sportlehrer Endel Nelis, ein versierter Fechtmeister, der auf der Flucht vor Stalins Geheimpolizei in besagtem Nest untertaucht, seinen Eleven das Fechten beibringen.

Die Handlung soll hier nicht vorweggenommen werden. Nur soviel:

In wunderbaren, gänzlich unaufdringlichen Bildern, in Zwischentönen und ruhigen Einstellungen, die mehr mitteilen im Schweigen als in vielen Worten, zeigt dieser Film, was einen Vater zu einem Vater macht: Die Bereitschaft zum Leiden und zur Verantwortung.

In der finalen Zuspitzung des Dramas wählt der Lehrer, weil ihm die Kinder ans Herz gewachsen sind, nicht die egoistische Flucht (wiewohl ihm ein Freund schon die Tickets in die sichere Zone besorgt hat), sondern das Opfer der Verantwortung.

In einer Schlüsselszene des Films, ebenso unaufdringlich wie soundsoviele andere stillen Sequenzen, trifft der Fechtlehrer in Leningrad auf den Direktor der Schule, an der er angestellt ist. Dieser Direktor ist der Funktionär, der stets die Treppe hochfällt, gleich unter welchem Regime, denn er versteht sich anzupassen und mitzulaufen. Der Direktor als Wendehals, Karriere inklusive.

Die Szene spielt, auch dies paßt, auf einer Treppe. Der Sportlehrer will nach unten, ins Freie, als er plötzlich feststellen muß, daß auf dem Stiegenabsatz der Direktor zigaretterauchend den Weg versperrt. Offensichtlich gibt es keinen Ausweg. Der Lehrer versteht, daß der Direktor mit der staatlichen Geheimpolizei unter einer Decke steckt, daß der Direktor ihn denunziert hat.

Was tun?

Als der Direktor erkennt, wer sich da die Treppe hinabgehend ihm nähert, drückt er die Zigarette aus, rechtfertigt sein Verhalten und gibt, die Treppe hochgehend, Endel den zynischen Rat, sich aus dem Staub zu machen, die Sowjetunion sei schließlich ein großes Land … . Endels Frage an den Direktor besteht aus drei Wörtern: »Und die Kinder?«

Es ist die Frage nach den Opfern.

Denn die Macht steht stets auf der Seite der Täter. Die Opfer werden entweder zu Schuldigen deklariert oder ihr Opferstatus wird brutal ausgeblendet, so daß derjenige, der gleichwohl die Opfer in die Mitte stellt, als der Idiot gebrandmarkt wird, der die Welt verkennt.

Der Fechter Endel Nelis stellt sich auf die Seite der Opfer. Als ihn die Geheimpolizei abführt, geht er zugleich auf das Kreuz zu und dem Licht entgegen, denn die Kamera zeigt diese Abführung derart, daß im Hintergrund ein schwarzes Kreuz ins Bild ragt – freilich ein Fensterkreuz und also ein Kreuz zum Licht hin.

Und darum endet die Geschichte auch nicht mit der Verhaftung des Fechtlehrers. Sie endet … aber das muß jeder selbst sehen.

Donnerstag, 14. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge II


Es gehört zum Signum großer Kunst, daß sie es nicht dabei beläßt, Zeitläufe, zumal wenn diese Zeitläufe schreckliche sind, bloß abzubilden und sodann dem beschmutzten Leser zu überlassen, was er nun mit dem Schrecklichen, das ihm übergestülpt wurde, anfängt.

Große Kunst will zur Katharsis. Sie will zur Wahrheit, die befreit.

Bereits die formale Anlage des Romans Der Jüngling macht deutlich, worum es Dostojewski geht. Der Ich-Erzähler ist kein Daherredender, sondern im Grunde ein Beichtender. Seine Aufzeichnungen sind eine einzige große Konfession.

Zu dieser Konfession gehört, daß sie aufrichtig zu sein hat. Daß sie nicht verschleiert, sondern die Dinge beim Namen nennt. Das tut der Jüngling Arkadij Makarowitsch Dolgorukij.

Das deutsche Wort Aufrichtigkeit drückt es sehr gut aus. Die Vorsilbe auf gibt die Richtung vor. Derjenige, der wirklich aufrichtig ist, ist bereits auf dem Weg der Besserung, nämlich auf dem Weg des AUFwärts.

Es gäbe ja auch die falsche Alternative des Umdeutens. Die Dinge zwar zu zeigen, aber den Schrecken des Dargestellten aufzuhübschen zu einem notwendigen Prozeß, zur faszinierenden Chance, zum libertären Fortschritt.

In diese Falle läßt Dostojewski seinen Helden nicht gehen. Im Laufe des Romans gehen dem grünen Jungen mehr und mehr die Augen auf. Ihm wird der Star gestochen. Seine Illusionen, und dazu gehört auch seine stolze »Idee«, die ihm perfekte Autonomie sichern soll, werden ihm Schritt für Schritt genommen.

(Notabene: Man fühlt sich an die heilige Thérèse vom Kinde Jesu erinnert und deren Gebet, daß der Liebe Gott ihr sämtlichen Puder aus den Augen nehmen solle.)

Zu Beginn ist Arkadij noch nicht soweit. Aber sein Autor läßt ihn auf 800 Seiten so lange scheitern und irren und klagen und große Sprüche klopfen, bis er am Ende des Romans kein grüner Junge mehr ist, sondern, um in der angeschlagenen Farbensymbolik zu verweilen, ein erdbrauner Jüngling, einer, der mit beiden Beinen halbwegs auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.

»Sie sind«, so kommentiert in dem abschließenden Epilog des Romans, der weniger ironisch ist als man vielleicht landläufig meint, ein Bekannter die Aufzeichnungen des Jünglings, »Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie«.

Und besagter Kommentator gibt zu bedenken, daß ein zukünftiger Künstler für die Darstellung der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden werde und daß Arkadijs Aufzeichnungen in diesem Sinne verwendet werden könnten als Material für die neu zu schaffende schöne Form.

Das aber heißt, der Roman selbst ist letztlich die künstlerische Anstrengung, den Weg aus der destruktiven Unordnung frei zu machen. Dostojewski versucht das Chaos der zufälligen, zerbrechenden Familien in seinem Roman gleichsam apotropäisch zu bannen. Seine eigentliche Hauptperson ist nicht Arkadij, auch nicht dessen Vater oder der Pilger Makar, sondern die Wahrheit beziehungsweise die AUFdeckung der Wahrheit, die der verborgen-offenkundige Motor der Beichte des Jünglings ist.

Denn die Wahrheit bleibt da. Sie ist nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß nicht das Chaos, nicht die Destruktion, nicht die Unordnung zur Lebensfülle führt, sondern das sich Ausrichten an den nicht zufälligen, sondern an den sinnvollen, gültigen Gesetzen des Lebens, und zu diesen Gesetzen zählt, daß ein Land untergeht, wenn die Familien nur mehr zufällige sind.

Und da die Unordnung dermaßen fortgeschritten ist, zeigt Dostojewski ein Weiteres: Der je Einzelne muß beginnen. Denn zur Unordnung gehört auch dieses, daß es mehr und mehr nur mehr Vereinzelte gibt. Arkadij ist zu Beginn des Romans symptomatischerweise der Einzelgänger schlechthin, der sich verschanzt hinter seiner sogenannten Idee.

Doch mag der Einzelne noch so verwundet sein – und der Jüngling ist aufgrund seiner familiären Biographie ein zutiefst verwundeter –, es werden ihm, wenn er nur den Willen zur Wahrheit hat, anders gesagt, wenn er nur den Willen zur Wirklichkeit hat, wenn er diese Wirklichkeit nicht illusionär retuschiert, sondern seinsgemäß wahrnimmt, es werden ihm dann neue, heilsame Kräfte zufließen, die ihn, den Einzelnen, sowohl aus seinem sollipsistischen Gefängnis herausfinden als auch ineins damit zur Wahrheit echter Mitmenschlichkeit finden lassen.

Mit einem Wort: Die Zerrüttung wird aufhören. Die schöne Form wird keimhaft neu aufblühen.

Und wo bleibt die Liebe in dem Ganzen?

Die Liebe ist stets da, gleich wie die Wahrheit. Aber auch der Liebe muß man sich zu nähern verstehen. Denn der zerrüttete Mensch weiß nicht, was Liebe ist. Er hat Vorstellungen über die Liebe, Wünsche, Begehren, Leidenschaften. Das freilich genügt nicht. Wenn er jedoch bereit ist, sich durch den Anspruch der Wirklichkeit von seinen Zerrissenheiten reinigen zu lassen, wird er anfangen zu lieben. Wohlgemerkt: Anfangen.

Am Ende von Dostojewskis Roman gibt es, was nun nicht weiter verwundern dürfte, etliche solcher Anfänge.

Grafik:    Wassili Grigorjewitsch Perow, wiki commons.

Freitag, 8. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge I

Der Vater hat zwei eheliche und zwei außereheliche Kinder. Er lebt, als Witwer, zusammen mit einer Frau, die eigentlich mit einem anderen verheiratet ist, der jedoch seine Frau großzügig an den Witwer abgegeben hat und danach auf Pilgerschaft geht.

Der eine uneheliche Sohn, der Jüngling, liebt leidenschaftlich Katerina, die Tochter des alten Fürsten Ssokolskij. Sein Vater liebt leidenschaftlich dieselbe Frau. Die legitime Tochter des Vaters beabsichtigt den alten Fürsten zu heiraten, so daß sie – wenn die Ehe zustande käme – die Schwiegermutter ihres eigenen Vaters würde. Alles klar?

Nein, nichts ist klar in diesem späten Roman Dostojewskis. Anything goes wird es exakt 100 Jahre später heißen, ein nachgerade populär gewordener philosophischer Slogan, der einem Musical entstammte. Bei Dostojewski ist das philosophische Kürzel längst Wirklichkeit geworden, denn das wabernde Konturlose ist termitengleich überall am Werk.

Doch kein Musical entsteht, sondern bitterste Realität. Daß dazu wie selbstverständlich Selbstmorde gehören, versteht sich. Ein desillusionierter Revolutionär gibt sich die Kugel, eine sozial Deklassierte erhängt sich, ein Gauner erschießt sich gleichfalls.

Wo der Kern jedes sozialen Gefüges zerbricht – und dieser Kern ist die Familie –, dort zerbricht die Welt.

Das ist kein wohlfeiles Bonmot, sondern der auf 800 Seiten dargelegte Realismus in dem 1875 veröffentlichten Roman Dostojewskis Der Jüngling, neuerdings als Ein grüner Junge ins Deutsche übersetzt. Die Risse der zerbrechenden Welt sind überall. Und diese Risse sind keine nebensächlichen Blessuren, sind nicht euphemistisch herunterzuspielen, sondern werden von Dostojewski bis aufs Mark bloßgelegt.

Vielleicht zeigt nichts mehr den schonungslosen Chirurgen Dostojewski als die folgende Szene, die, dessen darf man gewiß sein, der russichen Seele des Autoren ein Letztes abverlangte:

Andrei Petrowitsch, der Vater des Jünglings, dieser zutiefst Zerrissene, der nicht umsonst von seinem Ich und von seinem Doppelgänger-Ich spricht, nimmt in einem Anfall gesteigerten Wahnsinns ein Heiligenbild, eine dem Russen so verehrungswürdige Ikone, um eben dieses heilige Bild mit aller Kraft an die Kante des Kachelofens zu schleudern, wo die Ikone in zwei Teile zerbricht.

Was bleibt, so die quälende Frage, die im Grunde auf jeder Seite in Dostojewskis Roman Der Jüngling sich stellt, wenn die Welt aus den Fugen gerät?

Samstag, 2. September 2017

Frage


»Wie ist es möglich, daß der wundersamste und heiligste Raum im Menschen – der Mutterschoß – zum Ort unsagbarer Gewalt geworden ist?«

Papst Benedikt XVI., 17. Juli 2008, Sydney, in seiner Ansprache beim Willkommensfest der Jugendlichen.