Zum großen Kunstwerk gehört, daß es dem Zugriff entzogen ist.
Das hängt damit zusammen, daß der Rezipient dieses Kunstwerks intuitiv spürt, daß hier etwas am Werk ist, das blitzgleich die menschlichen Fähigkeiten und das Vermögen des Künstlers übersteigt. Man mag dieses Etwas
Eingebung nennen oder
Inspiration oder
Begnadung. Jedesmal wird damit das Nämliche zum Ausdruck gebracht: Dieses Mehr, welches zu dem Bemühen des Künstlers dazukommt und die Sinfonie oder die Plastik oder das Buch herausnimmt aus dem Bereich des Verfügbaren und Manipulierbaren.
Dies läßt sich aufzeigen selbst
ex negativo. Denn dort, wo man wähnt, dem großen Kunstwerk zu Leibe rücken zu müssen, indem man es etwa vermarktet bis zum Gehtnichtmehr, selbst dort entzieht sich das Meisterwerk, läßt sich wortwörtlich nicht kleinkriegen, es gelingt der Welt nicht, um Schiller zu zitieren, das Strahlende zu schwärzen. Das Meisterwerk bleibt, wie man schließlich kapitulierend eingestehen muß, unverwüstlich.
Oder, wie es hohe Herzen nennen: Was bleibt, ist das Rätsel und ist das Staunen.
Wie war es möglich, daß ein Pergolesi mit gerade mal 26 Jahren sein
Stabat Mater komponieren konnte? Welche Kräfte waren am Werk, die Dantes
Divina Commedia inspirierten? Oder Berninis Engel?
Michelangelo hat dem Geheimnis, welches hier waltet und welches ein Geheimnis der Schöpfung ist, in dem ursprünglichen Schöpfungsakt sich anzunähern versucht, in seinem Fresko der
Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Die beiden Hände von Gott Vater und dem darniederliegenden Adam kommen einander näher und näher. Aber Michelangelo zeigt nicht die Berührung, er zeigt nur die Annäherung, denn das Geheimnis, wie könnte es anders sein, bleibt im Unsagbaren oder zwischen den Zeilen oder in der dem Zugriff entzogenen Stille.
Mit dem Leben ist es nicht anders.
Wahrscheinlich empfindet ein jeder, und sei es noch so vage, unbestimmt, beim Blick in die Augen eines Babies, daß auch hier sich Unsagbares ereignet, angesichts dessen die vielsagenden Reaktionen oftmals das Lächeln oder die kindliche Ehrfurcht sind, welche beide Verhaltensweisen recht eigentlich die zwei Seiten derselben Medaille sind.
Und es gehört zur Unverfügbarkeit dieses Lebens, daß es gerade in seiner Kleinheit uns aus den Angeln hebt. Denn der Erwachsene, nach soundsovielen Enttäuschungen und Niederlagen und Verzweiflungszuständen, ist stets in der Gefährdung, sich Welten auszudenken, in denen die Macht und das groß Daherkommende und die Waffen das Sagen haben.
Bis dann dieser selbe Erwachsene dem Blick des Babies begegnet und plötzlich sich über den Kinderwagen beugt und seltsamste Laute von sich gibt, um den kleinen, winzigen Erdenbürger, der da wehrlos in seinem fahrbaren Bettchen liegt, zu einer Antwort zu bewegen, während der ach so erwachsene große Erdenbürger zugleich weiß oder unbewußt ahnt, daß dieses kleine Geschöpf vor ihm eine unausdenkbare, unverfügbare Macht in sich trägt – die Vollmacht des Schöpfers.
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