Wer über Lourdes, den französischen Wallfahrtsort schreibt, der schreibt naturgemäß über Maria. Und über Bernadette, die Seherin, der das Privileg zuteil wurde, achtzehnmal die Muttergottes zu sehen.
Man vergißt über soviel Bevorzugung vielleicht die Kehrseite dieses Lebens, die der lichtumstrahlten Gestalt der Erscheinungen korrespondiert: Nämlich daß Armut, Krankheit und Erniedrigung die lebenslangen Gefährtinnen der begnadeten Seherin waren.
Im Kloster, in welches Bernadette nach den Erscheinungen eintritt, wird ihre Profeß immer wieder hinausgeschoben, da man sie für ein kleines, dummes Ding hält. Daß sie von Kindheit an eine Kranke ist, die an Asthma leidet, und im Kloster eine gedemütigte Schwerkranke, die an schmerzlichster Knochenmarkstuberkulose dahinsiecht, sind nur einige Fakten dieses Lebens, das, je mehr man über es erfährt, um so unbegreiflicher wird.
Zum Beispiel die dritte Erscheinung am 18. Februar 1858.
Da sagt Maria zu der vierzehnjährigen Bernadette: »Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, sondern in der anderen«.
Wer, wenn er diese himmlische Aussage vernimmt, fährt nicht innerlich zusammen? Hat Mariens Sohn nicht selbst gesagt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«
(Johannesevangelium 10,10). Gilt diese Zusage Jesu nicht für Bernadette?
Doch, sie gilt auch Bernadette. So wie sie für jeden Christen gilt, der tatsächlich Christ sein will. Aber nur, wenn der Christ – und da kann Bernadette die unerbittliche, prophetische Lehrmeisterin für uns heute sein –, wenn der Christ ernst macht damit, die omnipräsente Vergötzung der Welt zu beenden. Denn dem Christen ist die Welt nicht das, für was sie sich gemeinhin präsentiert. Sie ist nicht das glitzernde Sesamöffnedich für die totale Erfüllung. Die Welt und ihre sogenannten Schätze, dies der nüchterne biblische Befund, vergehen. Wer sich daran festhält, ist über kurz oder lang nicht der Glückliche, sondern der Betrogene.
Mit Trübsinn hat das nichts zu tun, mit billiger Vertröstung auf Jenseitiges ebenso wenig. Alles dagegen mit Augen, die sich öffnen und zu sehen anfangen und derart einzuschätzen vermögen, was die Welt zu bieten hat und was nicht. Klug ist derjenige, der die Welt als eine vorläufige wahrnimmt und auf diese desillusionierende Weise der von Christus verheißenen sehr realen Lebensfülle nahekommt. Wer in der Welt in der ersten Reihe sitzen will und sich dort
einrichtet, so als sei diese Welt die bleibende Stätte, wird unglücklich. Bernadette hatte selbst die geliebte Grotte loszulassen … Wer dagegen klaglos in der Welt den letzten Platz einnimmt und sich
ausrichtet auf die zukünftige Stadt hin, die himmlische, die bleibende, der hat gute Chancen, schon jetzt glücklich zu werden.
Hat sich also die Muttergottes geirrt, als sie zu Bernadette sagte, sie werde in dieser Welt
nicht glücklich?
Nein, die Muttergottes hat die Wahrheit gesagt. Man muß nur genau hinhören.
In dieser Welt, sagt Maria. Und so stimmt es.
In dieser Welt wurde Bernadette nicht glücklich, denn niemand wird in dieser vergänglichen Welt glücklich. Nur
in der anderen. Doch diese andere Welt kann, wer will, jetzt anfangen.
Darum ist es die pure Wahrheit, wenn Bernadette bekennt: »Sehen Sie, meine Geschichte ist ganz einfach. Die Jungfrau hat sich meiner bedient, dann hat man mich in die Ecke gestellt. Das ist nun mein Platz, dort bin ich glücklich, und dort bleibe ich.«
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