Freitag, 23. Februar 2018

Nimm, lies

Hamlets Frage: Sein oder Nichtsein? heißt im modernen Film: Die rote Pille oder die blaue Pille?

Vor dieser Entscheidung steht der Held im Science-Fiction-Film Matrix, der nachgerade zum Klassiker des Genres mutierte.

Wer die blaue Pille schluckt, bleibt weiterhin der tumbe Sklave des Systems, wer die rote Pille nimmt – und natürlich nimmt der Held die rote Kapsel –, der wacht auf aus seinem Schlaf der Unwissenheit, ist nicht länger Sklave, sondern Freier, verläßt die Welt des Scheins und dringt vor ins Reich der Erkenntnis und des reinen Seins.

Kant läßt grüßen. Neo, so der Name des aufgeklärten Adepten, ist der postmoderne Kantianer, der es wagt, aus der Unmündigkeit den Schritt in die Taghelle des Bewußtseins zu setzen.

Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als um die Wahrheit. »Bedenke, alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, nicht mehr«, so der schwarze Mentor, der Neo die beiden verführerischen Pillen hinhält.

Tatsächlich ist dies der springende Punkt: Die Wahrheit. Was ist Wahrheit? Und wie komme ich zur Wahrheit? Und wie weiß ich, daß das, was ich finde, die Wahrheit ist?

1600 Jahre vor dem modernen Science-Fiction-Helden gibt es einen anderen Neo, der es wissen will. Er gehört zu den gescheitesten Männern seiner Zeit. Im Grunde kann ihm niemand das Wasser reichen. Er ist nicht nur ein blendender Rethoriker, er ist auch ein intellektuelles Schwergewicht. Die Menschen sind beeindruckt von seiner Brillanz und Schlagfertigkeit. Er gilt als der zünftigste Aufgeklärte seiner Zeit.

Und doch ist da in ihm ein kontinuierliches Unbehagen und eine Unruhe, die ihn treibt und treibt. Eigentlich hat er doch alles erreicht: Stellung, Ansehen, Wissen, Bewunderung. Woher die dennoch nicht auslöschbare Unruhe? Woher der andauernde innere Kampf?

Es muß ein Kind auftauchen, um den Knoten endgültig zu lösen:
»Auf einmal hörte ich aus einem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens wiederholt sagen: Nimm, lies, nimm, lies. Sogleich veränderte sich mein Gesicht, und ich begann, angestrengt darüber nachzudenken, ob Kinder bei irgendeinem Spiel etwas derartiges zu singen pflegen; doch ich entsann mich nicht, es je gehört zu haben. Ich dämmte die Tränenflut und stand auf, ich wußte keine andere Deutung, als daß Gott mir befehle, ein Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die ich als erste stieße.«
Und der Zerrissene kehrt zu dem Platz zurück, wo er soeben noch in den Briefen des Apostels Paulus gelesen hatte. Und er schlägt aufs Geratewohl das heilige Buch auf. Und er liest den ersten Satz, der seine Augen trifft. Und es gehen ihm die Augen auf: »Weiter wollte ich nicht lesen, es war nicht nötig. Denn kaum hatte ich den Satz zu Ende gelesen, ergoß sich wie ein Licht die Gewißheit in mein Herz, und alle Schatten des Zweifels waren zerstoben.«

Es genügt nicht, die rote Pille zu schlucken, wenn man anschließend lediglich bei seinem Ich ankommt. Denn die Wahrheit ist mehr als dieses kleine Ich.

Die echten Neos verstehen irgendwann das Wesentliche: Daß sie von der Wahrheit gefunden werden. Und diese Wahrheit offenbart sich und zeigt in diesem Offenbarungsvorgang, daß sie von Ewigkeit her ist und daß sie Person ist und daß sie den Suchenden seit je umfängt.

Und derjenige, der gefunden ist, jubelt. Wie Augustinus. Und all die Anderen.

Donnerstag, 15. Februar 2018

Der Schlüssel


»Einem anderen Menschen behilflich sein, daß er Gott liebe, heißt ihn lieben. Von einem anderen Menschen darin unterstützt werden, daß man Gott liebe, heißt geliebt werden.«

Sören Kierkegaard


Grafik:    Photo by Matt Artz on Unsplash

Freitag, 9. Februar 2018

Die Liebe, die wartet


Nehmen wir drei Meisterwerke.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Lew Tolstoi: Krieg und Frieden.

Was verbindet diese drei Meisterwerke?

Da es Meisterwerke sind, handeln sie, wie könnte es anders sein, von der Liebe. Denn die Liebe ist immer wieder und stets aufs Neue das herausragende Thema in den großen Werken der Weltliteratur. Und da stellt man nun fest, daß die Werke, die das Prädikat groß verdienen, die Liebe einmütig unter ein sehr konkretes Vorzeichen stellen, und das lautet: Die Liebe wartet.

Wie bitte? Warten?

Der moderne Zeitgenosse traut seinen Ohren nicht. Schließlich wird ihm genau das Gegenteil eingeredet. Alles muß schnell gehen. Nach dem ersten flüchtigen Kennenlernen kommt es sogleich zum Akt. Von Warten keine Spur. Der Wartende wird vielmehr als der Dumme dargestellt.

Wie meilenweit entfernt von dieser zerstörerischen Kurzsichtigkeit ist die große Kunst. Naturgemäß weiß auch sie um die Verführung zum schnellen Genuß. Sie weiß, daß zumal der junge Mensch sich schwer tut mit dem Warten und der Geduld. Daß die Verlockung der raschen Eroberung fortwährend lauert. Daß das Ungestüme den jungen Aufgewühlten hin und her reißt.

Aber die großen Meisterwerke sind ehrlich. Sie zeigen den rechten Weg. Gleich ob Austen, Stifter oder Tolstoi: Gezeigt wird, daß die Liebe deswegen zu warten hat, weil die Liebe reinigungsbedürftig ist. Die Liebe am Anfang ist bestenfalls Verliebtheit, jedenfalls nicht die Liebe, der es einzig zusteht, den hohen Namen der Liebe für sich beanspruchen zu dürfen. Vorurteile, falsche Sichtweisen, Irrtümer, Verblendungen, Stolz, Ungestümtheit und etliche andere Tücken umlagern denjenigen und diejenige, die sich auf den Weg der Liebe begeben.

Und nur der, der bereit ist, in einem schmerzlichen Prozeß der Reinigung und Reifung sich wandeln zu lassen von seinen selbstsüchtigen Verblendungen, wird schließlich gewürdigt, bei der tatsächlichen Liebe anzukommen.

Elisabeth Bennet, die Lieblingsheldin Austens, hat viel zu lernen. Und ihr zukünftiger Gemahl desgleichen. Ihre zunehmende Annäherung geht Hand in Hand mit einer Selbsterkenntnis, die mehr ist als ein nettes Geplänkel, die vielmehr echtes Hineinführen in die Wahrheit ist, und das heißt oft genug in die bittere Wahrheit, die das Verkehrte und Egoistische im eigenen Verhalten bloßlegt.

Paare, welche das Glück an sich reißen im schnellen, voreiligen Zugriff oder aus verletzter Eigenliebe das Gegebene falsch bewerten, sind nicht zu bewundern, sondern werden als das bezeichnet, was sie in Wirklichkeit sind: töricht. Sie verstehen nicht die Kunst des Lebens und der Liebe.

Der Preis, der für das schnelle, gierige Ansichreißen oder für ein allzu stürmisches Zerschlagen eines liebenden Beginns zu bezahlen ist, ist oft genug schneidend bis ins Mark. Der Nachsommer spricht darüber in verhaltener, stets präsenter Entsagung.

Auch die leidenschaftliche, blutjunge Natascha in Tolstois Werk, ebenso wie ihr Freund Pierre, muß bittere Lektionen lernen, bis sie versteht, daß die Liebe ein Werk ist, ein Kunstwerk, und zu einem Kunstwerk gehört die unsägliche Geduld des Bauens, des Reifens und des rechten Maßes.

Und auch dies verbindet die Meisterwerke: Die wahren Liebenden, dessen sind sich die großen Dichter einig, werden einander finden. Sie erkennen sich untrüglich. Es mag viele Widerstände geben, die zu überwinden sind, viele Mißverständnisse, die den gemeinsamen Weg blockieren, viele Schmerzen, die in die eigene Haut schneiden. Und dennoch. Entscheidend bleibt der Wille der Beginnenden zur Wahrheit. Wo dieser Wille wirkt, werden die Liebenden sich finden, und sei es selbst nach Verlust und langem Abstand.

Elisabeth Bennet und Sir Darcy werden ein glückliches Paar. Freiherr von Risach und Mathilde erleben, wenn auch keine Ehe, so doch die neue Nähe und den rosengeschwängerten, reifen Nachsommer. Und da sie im Leiden wahrhaft gereift sind, vermögen sie die liebevollen Begleiter des jungen Paares Heinrich und Natalie zu sein. Natascha und Pierre schließlich sagen, nach etlichen Abschieden und Bekehrungen, ja.

Warten. Reifen. Lieben. In der Wahrheit. »Denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich« (Kierkegaard).

Grafik:    Von Foto H.-P.Haack, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11628626

Freitag, 2. Februar 2018

Mariä Lichtmeß


Und Simeon nahm das Kind auf seine Arme, pries Gott …

So heißt es im Bericht des Evangelisten Lukas über die Darstellung Jesu im Tempel (s. Lk 2,28).

Und Rembrandt hat das gemalt. Es war seine letzte Komposition. Seine Unvollendete. Und wie bei etlichen anderen unvollendeten Werken (etwa Bruckners Neunter oder Michelangelos Rondanini Pieta), so geht es einem auch hier: Man braucht nicht mehr. Denn was man wahrnimmt, das ist tief genug.

Ein Greis mit Namen Simeon hat sein Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Auf die heilige Stunde, in der er dem sehnsüchtig erwarteten Gesalbten des Herrn, dem Messias, begegnet. Es wurde ihm von Gott selbst verheißen, daß er diese Stunde erleben würde. Aber es wurde ihm nicht gesagt, wann genau es sein würde.

Also gilt es zu warten. Und weiter zu warten. Aber nicht in Müdigkeit oder gar Niedergeschlagenheit, sondern in der geduldigen Spannung des aufmerksamen Wächters, der Ausschau hält und sich zugleich reinigen läßt für das Unvorstellbare. Denn der Tag wird kommen. Die Stunde wird kommen.

Und dann ist es so weit. Der Gesalbte kommt. Er ist ein sehr kleines Kind. Der alte Mann begegnet dem Neugeborenen. Die Sehnsucht begegnet der Erfüllung.

Und was geschieht?

Simeon greift nicht zu. Er nimmt sich nichts. Er verschließt sich nicht. Simeon empfängt.

Rembrandt malt die Hände des Greises, die beinahe gefaltet sind. Und die vorgestreckten Unterarme. Und auf diesen Unterarmen liegt das göttliche Kind. Die langersehnte Begegnung wird zur stillen Gebärde der Liebe, die allen gebührenden Abstand wahrt, denn der Abstand ist die Seele des Schönen.

Wie könnte man die vom Heiland seliggepriesene Armut besser darstellen? Hier kommen zwei Arme zusammen. Der Ärmste überhaupt, der der Erlöser der Welt ist, und dieser alte, ergriffene, dem Tod entgegengehende Mann, der sich wunderbar einfältig öffnet für das Leben, welches ihm auf die Unterarme gelegt wird.

Was bleibt, ist das Licht und das Loslassen und die Liebe. Die Liebe, die anbetet. Die Liebe, die singt. Denn meine Augen haben das Heil gesehen.

 

Grafik: wiki.public domain