Samstag, 6. November 2021

Karl und Jüri

Es gibt sie – gute Filme. Filme, die nicht die gängigen Klischees bedienen, Filme, die sich den Fragen des Lebens stellen, die wirklich zählen. Filme, die abseits von Hollywood gedreht werden. Zum Beispiel: Brüder, Feinde.

Erzählt wird vom Schicksal der Esten während des Zweiten Weltkriegs.

Daß kleine Länder im politischen Geschehen stets aufs Neue Spielball der Großmächte wurden, ist historische Tatsache. Estland ist ein Beispiel unter anderen.

Von der russischen Armee 1940 gewaltsam annektiert, werden in der Folgezeit tausende von Esten zwangsdeportiert in die Sowjetunion, etliche kommen in den Gulags um.

Schon ein Jahr später, nach der Aufkündigung des Nichtangriffspaktes zwischen Deutschland und der Sowjetunion, besetzen die Nazis das kleine Land und rekrutieren Esten mit Gewalt in die deutsche Armee. Damit ergibt sich plötzlich die furchtbare Konstellation, daß zwangsrekrutierte Esten der deutschen Wehrmacht zwangsrekrutierten Esten der roten Armee in den mörderischen Kriegsschauplätzen gegenüberstehen. Landsleute, Brüder, geraten unfreiwillig zwischen die Fronten und werden im Maelstrom des Krieges zerrieben.

Genau davon erzählt Brüder, Feinde.

Der Film ist zweigeteilt. Während im ersten Teil die Geschichte des Soldaten Karl erzählt wird, der auf Seiten der Deutschen gegen die Besatzermacht der Russen kämpft, erzählt der zweite Teil von Jüri, der, gleichfalls Este, als Rotarmist gegen die Deutschen in den Krieg zieht. Und das Unausweichliche geschieht. Die beiden Landsmänner treffen in einem Gefecht aufeinander, wobei Jüri Karl erschießt.

Mit dieser Tatsache kann Jüri fürderhin nicht leben. In der Brusttasche des Getöteten findet er einen Brief Karls an eine Frau. Jüri nimmt den Brief, gleichsam als Testament des Verstorbenen, an sich und bringt in einer späteren Szene, als die russische Armee in Tallinn einmarschiert, das Schreiben an die auf dem Brief notierte städtische Adresse.

Die Empfängerin des Briefes, so ergibt sich aus der anschließenden Begegnung, ist nicht Karls Frau, sondern dessen Schwester. Womit Jüri nicht rechnete: Er, der Karl getötet hat, verliebt sich in die fremde Frau, vermag freilich nicht auf deren Frage nach den Umständen des Todes ihres Bruders die ganze Wahrheit zu gestehen. Er weicht aus, um zu verschweigen, daß er der Täter ist. Aber eine Träne rinnt seine Wange hinunter, als Karls Schwester beiläufig feststellt, er habe eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl, und daß die Unschuldigen stets die Schuld spüren würden, während die wirklichen Schuldigen nichts spürten.

Mehr soll an dieser Stelle nicht gesagt werden. Nur noch so viel. Der Film endet mit einer schwebenden Frage Jüris. Sie wird aus dem Off gestellt. Es ist die Bitte um Vergebung: … bitte verzeih mir, wenn du kannst.

Wann erfährt man dies in einem modernen Film? Daß die Frage der Schuld nicht kleingeredet wird, daß die Arbeit des Gewissens nicht kleingeredet wird, daß die Frage des Verzeihens still, aber prägend das Geschehen grundiert?

Und auch dies ist dieses filmische Meisterwerk aus Estland: Eine Erzählung über Mut und Ehrlichkeit, über Menschlichkeit trotz unmenschlicher Bedrohung, über Einzelne (denn es sind immer Einzelne), die sich der Lüge widersetzen, und über die vielen Anderen (denn es sind immer Viele), die Mitläufer sind und gegebenenfalls wortwörtlich über Leichen gehen.

Und schließlich: Brüder, Feinde zeigt unsentimental die uralte Geschichte: Daß der Stärkere untergeht und genau so siegt. Und daß der weite, stille, hohe Raum der Kirche, in welcher das Kreuz unübersehbar den Blick beherrscht, der gemeinsame Ort ist, wo zwei Liebende sich finden können.

                                                                  

Samstag, 30. Oktober 2021

Berührend

 
Gidon Kremer, der weltberühmte Geiger, erzählt in seinem Buch Obertöne gleich zu Beginn über eine kurze Begegnung.

Es ist nach einer Konzertprobe (Brahms), als eine Mutter mit ihrem Kind ihn anspricht. Das junge Mädchen, welches, wie sich herausstellt, von Geburt an blind ist, sagt ein Gedicht auf russisch auf. Danach fragt die Mutter Kremer, welche Geige er spiele. Kremer gibt zur Antwort: »Eine Stradivari.« Die Mutter, die daraufhin zur Tochter sagt: »Stell dir vor, zum ersten Mal hast du eine echte Stradivari gehört«, fragt anschließend den Geiger, ob ihre Tochter die Stradivari berühren dürfe. Kremer berichtet:

»Natürlich«, sagte ich. Das Mädchen begann tastend mit seinen Fingern über die ganze Geigenfläche zu wandern, mit äußerst sachten Bewegungen, als ob es einen lieben Menschen zu erkennen versuche. Dem Gesicht waren dabei Aufregung und Begeisterung deutlich anzumerken. Die geschlossenen Augen standen dazu in schmerzhaftem Widerspruch.«
Kremer läßt die Geschichte damit nicht enden. Die Begebenheit mit dem blinden Mädchen wirkt weiter. Die Berührung der Stradivari wirkt weiter. Denn als Kremer am selben Abend schließlich das Brahmskonzert spielt, hat er, bereits bei den ersten Tönen, das Gefühl, als sei das Instrument »von einem besonderen Geist beseelt«.

Hier wird keine esoterische Geschichte erzählt. Es ist vielmehr eine Geschichte von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Berührung. Davon, was ein versehrter Mensch, in diesem Fall ein blindes junges Mädchen, an Strahlkraft auslöst, wenn er die Welt nicht herrisch in Besitz nimmt, sondern behutsam sich schenken läßt.

Und es ist auch die Geschichte über das Wunder der Musik. Über Töne, die zu Herzen gehen und die, wenn man nur aufnahmebereit ist, einen verwandeln, da die große Musik das macht, was alle große Kunst macht: Sie führt ins Leben, ins echte.

Montag, 25. Oktober 2021

Denn es war klar

Für V. H.

»Ich schlug an einem Weihnachtsabend in Potsdam die Heilige Schrift auf und floh nach wenigen Kapiteln auf die kalte dunkle Straße. Denn es war klar: Unter diesem Anspruch der Wahrheit kehrt sich das Leben um. Dieses Buch ist kein Buch, sondern eine Lebensmacht. Und es ist unmöglich, auch nur eine Zeile zu begreifen, ohne den Entschluß, sie zu vollziehen. Darauf beruht ja die härteste Unmöglichkeit menschlicher Verständigung, daß den Glauben nur versteht, wer glaubt.«

Reinhold Schneider 

Grafik: wikicommons

Samstag, 16. Oktober 2021

Marsch für's Leben, Wien 2021. Karlskirche


Werte Mitbrüder im priesterlichen Dienst, liebe Gläubige, liebe Freunde des Lebens,

im Tagesgebet der heutigen heiligen Messe, die der heiligen Hedwig von Schlesien gedenkt, heißt es: »O Gott, Du hast die hl. Hedwig gelehrt, mit ganzem Herzen von weltlicher Prunkliebe zur demütigen Kreuzesliebe überzugehen«, und dann heißt es: »in der Umarmung Deines Kreuzes alles, was sich wider uns erhebt, zu überwinden.«

Ich will anhand dieses Tagesgebetes sechs kurze Hinweise geben, um aufzuzeigen, wie diese Worte für uns heute von Belang sind, für uns, die wir für das Leben kämpfen und heute durch die Straßen Wiens gehen, um Zeugnis abzulegen für die Heiligkeit jedes Lebens, auch des ungeborenen Kindes im Mutterleib.

1. Wenn wir den Sieg im Lebensschutz erringen wollen, dann wird dieser Sieg durch demütige Kreuzesliebe errungen. Was heißt das konkret?

Ich habe den Lebensschutz betreffend sehr viel, wenn nicht das Meiste, von Msgr. Reilly gelernt. Manche von Ihnen werden diesen Priester aus New York kennen. Er ist der Gründer der weltweiten Bewegung der Helfer für Gottes kostbare Kinder und damit der Initiator der Gebetsvigilien vor den Abtreibungsstätten. 

Monsignor, wie er von seinen Freunden genannt wird, schreibt in einem seiner Briefe: »Allzu oft wollen wir die Leute zum Glauben bringen, ohne daß zuallererst wir selbst mal Zeugen Christi sind, vor allem Zeugen, Märtyrer der Passion Christi. (…) Aber ohne Kreuz gibt es keine Bekehrung!«

Monsignor hat diese Gewißheit in den prägnanten Satz gefaßt: »There is no short cut.« - zu deutsch: »Es gibt keine Abkürzung!«

Die Kultur des Todes wird nicht triumphal überwunden, sondern im alltäglichen Auf- und Annehmen des Kreuzes, wobei das Kreuz das Siegeszeichen Christi ist.

Nochmals anders gesagt: Es geht darum, die hl. Messe – das, was wir jetzt feiern – die hl. Messe nicht nur zu besuchen, sondern die hl. Messe zu leben – im Alltag, - als Verwandelte nach draußen zu gehen, so daß die Menschen in der Welt an die Liebe glauben können, die der himmlische Vater und Sein Sohn Jesus Christus für diese verwundete Welt haben.

Und diese Liebe zeigt sich für alle überdeutlich – vorausgesetzt, man will sehen lernen – am Kreuz. Ein Erstkommunionkind hat mal gesagt, vor dem Kreuz stehend: Wie lieb uns Jesus hat. Dieses Kind hatte eigentlich alles verstanden.

2.
Wenn wir versuchen, die demütige Kreuzesliebe, von der das Tagesgebet spricht, zu leben, dann werden wir – Schritt für Schritt – von Jesus selbst in die Perspektive Gottes eingeführt werden! Auch dies hat Msgr. Reilly sehr klar gesehen.

Wenn wir dabei stehen bleiben würden, andauernd von den zwei Lagern zu sprechen: Hier die Lebensschützer, dort die Anhänger der Kultur des Todes, dann würden wir letztlich unsere Kräfte vergeuden. Denn Gott will, daß wir mit Seinen Augen schauen lernen.

Aber das muß man gut verstehen.

Naturgemäß weiß jeder Christ um die Unterscheidung der Geister und folglich um die Tatsächlichkeit des Kampfes zwischen Gut und Böse, Leben und Tod, zwischen – wie der hl. Ignatius von Loyola es ausdrückte – zwischen Jerusalem und Babylon.

Doch der Herr will nicht, daß wir dabei stehenbleiben. Wir sind aufgerufen, weiter zu schauen, tiefer/höher zu schauen, nämlich uns einführen zu lassen in die Perspektive Gottes hinein.

Was erfahren wir dann?

Wir werden erfahren, daß es keine zwei Seiten gibt, denn Gott hat keine Feinde.

Msgr. Reilly stellt fest: »Wir, die Geschöpfe, mögen uns abwenden und Feinde Gottes werden. Gott jedoch wendet sich nie von dem ab, was Er erschaffen und durch Sein kostbares Blut erlöst hat. Wir sind heutzutage – (ich ergänze: heute, an diesem 16. Oktober 2021, dem Festtag der hl. Hedwig) - aufgerufen, den Menschen unserer Zeit diese immerwährende, bedingungslose Liebe Gottes präsent zu machen. Über das Retten ungeborener Babies hinaus meint pro-life zu sein daher den Wunsch, daß allen, die in der Dunkelheit von Sünde und Tod gefangen sind, ewiges Leben zuteil werden möge. Pro-life zu sein heißt, Christus gegenwärtig zu machen, Seinen Geist und Sein Leben zu bringen, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Die Person Jesus Christus ist durch uns gegenwärtig zu setzen, durch Gottes heiliges Volk.«

Diese Perspektive Gottes zeigt sich für alle sichtbar und hörbar am Kreuz. Jesus hält am Kreuz Fürbitte noch für die Mörder, denn seine Liebe will alle umfassen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Dieses Kreuzeswort Jesu trägt der Lebensschützer mit sich und in sich.                                                                                                               

3. Die demütige Kreuzesliebe ist keine spekulative, keine Liebe, die sich in netten Gedanken erschöpft, sondern eine Liebe, die zur Tat führt. 

Das frühe Christentum wurde – das kann man in der Apostelgeschichte nachlesen – der (neue) Weg genannt. Die Christen blieben nicht im Sessel hocken, sondern brachen wortwörtlich auf. Sie brachen auf.

Darum auch gehen wir heute durch Wien. Weil wir aufbrechen. Oder wir beten vor der Abtreibungsstätte am Fleischmarkt und am Westbahnhof, weil wir aufbrechen.

Aufbrechen sollte man zweifach lesen.

Es ist einerseits der Bruch mit dem alten Leben der Bequemlichkeit.

Und es ist zum Zweiten die Bewegung des AUF. 

Wer aufbricht mit Christus, geht den ganzen Weg mit: Zum Kreuz und durch das Kreuz zur Auferstehung.

Das aber bedeutet nichts anderes, als heute die Feinde zu lieben. 

Einer Welt, die sich von Gott abkehrt – und wo ist diese Abkehr evidenter als dort, wo unschuldiges Leben getötet wird –, zeigt der Beter weiterhin das Gesicht der Zuwendung. Er geht durch Wien und er steht vor der Abtreibungsstätte, um für alle dazusein: Für das Kind, das erste Opfer, für die Mutter und den Kindsvater als die zweiten Opfer, aber auch für den Abtreiber und sein Personal und für alle die Mitläufer, die, in den Worten des Gekreuzigten, nicht wissen, was sie tun.

Der Beter steht nicht abseits. Er wartet nicht in seinem Sessel, bis das Opfer zu ihm kommt, sondern er bricht auf und bringt das Heil zum Opfer. Das ist die Logik der Erlösung. Die Logik des Kreuzes.
          
4. Das Tagesgebet spricht in seinem zweiten Teil nicht von der Betrachtung des Kreuzes, sondern von der Umarmung des Kreuzes.

Und hier, an dieser Stelle des Gebetes, wechselt die Sicht von der hl. Hedwig ausdrücklich hin zu uns allen. Hieß es zunächst: Du hast die heilige Hedwig gelehrt, so heißt es schließlich: laß uns lernen.

D.h. wir alle sollen diese Umarmung des Kreuzes, welche die Heilige vorbildlich gelebt hat, gleichfalls beherzigen und genau so alles, was sich wider uns erhebt, überwinden.

Wohlgemerkt: Alles überwinden, also noch das, was uns vielleicht als unüberwindlich vorkommen mag. Und in dunklen Stunden mag es bisweilen vorkommen, daß wir uns angesichts der geballten finanziellen, medialen und politischen Macht der Kultur des Todes als ohnmächtige Däumlinge vis-à-vis einer gigantischen Unüberwindlichkeit sehen.

Aber das ist Täuschung. Die Umarmung des Kreuzes - wir haben es gehört, und das sagt nicht irgendjemand, sondern die heilige Liturgie – die Umarmung des Kreuzes versetzt uns in die Lage, alles zu überwinden.

Für den Lebensschützer könnte dies heißen: Er bringt seine Schmerzen, seine Leiden, Krankheiten, Mühsale, Widerstände, Anfeindungen, Müdigkeiten und noch die eigenen Sünden zum Kreuz Christi, verbindet sie mit dem Kreuz Christi und bittet den Herrn, das Dargebrachte fruchtbar zu machen für das Reich Gottes. Konkret z.B. für die Bekehrung eines Abtreibungsarztes.

Ganz im Sinne der hl. Theresia vom Kinde Jesu und vom Heiligsten Antlitz, die aus Erfahrung sagen konnte: »Leiden, die gerne für andere getragen werden, belehren mehr Menschen als Predigten.«

5. Maria
Der Teufel, das gehört zu seinen perfiden Strategien, versucht zu spalten und dem Lebensschützer einzureden, er sei allein.

Wie alles Teuflische ist auch das eine Lüge.

Die Lebensschützer – und also wir – stehen, wenn wir das Kreuz umarmen, gerade nicht allein, sondern wir sind am Kreuz immer mit Maria.

Wir sind wie der Lieblingsjünger Jesu, der mit Maria beim Kreuz gestanden ist, der nicht davongelaufen ist und der hört, wie Jesus zu ihm sagt: »Siehe, deine Mutter!«, und der daraufhin Maria in sein Eigenes aufnimmt (wie es wörtlich im griechischen Text heißt).

Und mit diesem Eigenen ist nicht nur gemeint, daß Johannes die Muttergottes in sein eigenes Zuhause aufgenommen hat. Es ist tiefer gemeint, daß er – im Gehorsam gegenüber dem testamentarischen Wort Jesu – Maria als geistliche Mutter in seine Herzkammer aufgenommen hat.

Denn wo der Sohn ist, da ist auch die Mutter. Und diese Mutter, Maria, wird uns am Kreuz geschenkt.                                                                

6. Ein Letztes.
Die heutige Tagesheilige, die Herzogin von Schlesien (sie starb im Oktober 1243) hat in ihrem Leben schwere und schwerste Rückschläge erlebt. Sie hat zum Beispiel den Tod ihres Gatten und den Tod ihrer sieben Kinder ertragen müssen. Beim Tod ihres letzten Sohnes, Heinrich II., der bei der Schlacht von Liegnitz fiel, sprach sie an dessen Bahre die Worte: »Gottes Wirken um uns und mit uns muß vorzüglich unser Trost sein, weil wir Seine Geschöpfe sind.«  

Sie drückte damit die Gewißheit aus, die ihr Leben prägte: Gott ist der Herr der Geschichte. Jeder Geschichte. Und also auch der unseren.

Einer ihrer Biographen, Otto von Habsburg, schreibt im Blick auf diese große Frau und ihr Verständnis von Frömmigkeit, christlichem Lebenswandel und tatkräftigem Einsatz: »Unsere Aufgabe ist es nicht, die Geschichte zu erdulden, sondern sie mit Gott zu formen. Für uns gläubige Menschen darf es keine Resignation geben. Wer resigniert, ist pflichtvergessen (…) Die heilige Hedwig sagt uns, wozu wir berufen sind. Was gibt es Schöneres, als Mitarbeiter Gottes zu sein! Und wer mit Gott die Geschichte baut, der kann und wird nicht umsonst bauen.«

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen
 

Grafik: wikicommons
       

Samstag, 9. Oktober 2021

Fides et ratio

Gewiß gehört zu jeder großen wissenschaftlichen Leistung ein Geist, der demütig ist. 

Der Stolze vermag zwar auch zu erkennen, aber nur bis zu einem gewissen Grad, denn aufgrund seines Hochmuts, der laut der bekannten Redensart vor dem Fall kommt, wird er über kurz oder lang fehlgeleitet werden, sei es in seinen Axiomen, sei es in seinen Hypothesen, sei es in seinen Schlußfolgerungen. Diese Dynamik der Abwegigkeit ist dem Stolz inhärent, noch dann, wenn der Keim des Stolzes zu Beginn nur dem geschulten Auge sichtbar sein mag.

Der Vater der modernen Zytogenetik, Jérôme Lejeune, Entdecker des überzähligen 47. Chromosoms bei der Trisomie 21 Erkrankung, war sich zeit seines Lebens dieser Zusammenhänge bewußt, nicht zuletzt deswegen, weil er in die Schule des Evangeliums ging, welches den Hörer und Täter des Wortes auf Schritt und Tritt in die Wahrheit und in die Demut einführt.

Stellvertretend für etliche andere, vergleichbare Texte Lejeunes mag der folgende stehen: Eine kurze Meditation zum Evangelium der Heimsuchung (siehe Lukasevangelium 1, 39-56). Derjenige, der hier meditiert, ist beides: Christ und Forscher, ohne eine Seite seiner Existenz gegen die andere auszuspielen. Vielmehr befruchten sich beide, denn beide – die Wissenschaft und der Glaube – sind zwei Lichtquellen, derart, daß das Licht der Offenbarung das natürliche Licht der Vernunft ordnet, klärt und hinführt zu den Tiefen/Höhen der Schöpfung, die dem bloß menschlichen Blick im Trüben bleiben.

Lejeune schreibt:

»Lesen Sie erneut die Heimsuchungsszene. Welches Alter hatte der kleine Prophet, der im Schoß Elisabeths hüpfte, als Maria kam, die ihrerseits Unseren Herrn in sich trug? Sechs Monate in utero (…) Und wie alt war die menschliche Gestalt Jesu damals? Der heilige Lukas sagt es nicht, sondern stellt lediglich fest, daß die Jungfrau auf die Ankündigung des Engels hin sich eilends zu ihrer Cousine auf den Weg macht: Maria festinavit (…)
Zur Zeit der Heimsuchung war die menschliche Gestalt Jesu also unglaublich jung, nur ein paar Tage alt, vielleicht eine Woche... und doch jubelte Johannes, der kleine Prophet, der erst sechs Monate Ältere, bei seiner Ankunft! Wenn die Ärzte unserer Tage dieses Evangelium lesen würden, würden sie von Herzen verstehen, daß die Wissenschaft sie nicht täuscht, wenn diese sie, aufgrund der Vernunft, nötigt, die Tatsache anzuerkennen, daß das Sein bei der Empfängnis beginnt. Ebenso wie die Weisen und wie jeder Mensch, so haben auch die Ärzte alles in der Schule Jesu zu lernen.«

 

Grafik: wikicommons     

Samstag, 2. Oktober 2021

Zola oder: Je confesse

Für diejenigen, die sich in Literatur auskennen, gehört er zu den französischen Begründern der naturalistischen Schule. Man denke nur an sein Werk Der Bauch von Paris aus dem 20bändigen Rougon-Macquart Zyklus, in dem er seitenlang schwelgt in den genüßlich ausgebreiteten Käsegerüchen der Pariser Markthallen.

Die Rede ist von Émile Zola.

Für politisch Interessierte ist Zola zudem bekannt aufgrund seines Brandbriefs J’ accuse, mit dem er sich seinerzeit in die Dreyfus Affaire einschaltete und für gehörige Furore sorgte.

Weniger bekannt oder nahezu gänzlich unbekannt ist eine andere Seite von Zola – die spirituelle, genauer: Die Geschichte seiner Bekehrung. Das Erstaunliche daran: Bereits Jahre vor seiner Hinwendung zu Gott und der katholischen Kirche hatte er, der doch so detailversessen den naturalistischen Sensationen nachging, sehr wohl die Natur, nämlich die unwiderlegbare Wirkmacht des christlichen Gottes kennengelernt. Doch statt den frommen positiven Belegen, die sich vor seinen Augen ereigneten, ehrlich Rechnung zu tragen, machte Zola genau das Gegenteil.

Aber der Reihe nach.

1858 erscheint in dem kleinen Pyrenäendorf Lourdes achtzehnmal die Muttergottes dem vierzehjährigen Mädchen Bernadette. Das Ereignis spricht sich herum und ist schnell die Sensation, nicht nur in Farnkreich, sondern auch in den Nachbarländern. Lourdes wird von Jahr zu Jahr berühmter als Ort der Wunder und Gnaden. Tausende von Menschen pilgern in das kleine Dorf und suchen Trost bei der Trösterin der Betrübten, bei der Unbefleckten Empfängnis, wie sie sich die Erscheinung selbst nennt.

Dem laizistischen Frankreich ist Lourdes naturgemäß ein Greuel. Zola ist Lourdes gleichfalls ein Greuel. Überzeugter Gottesleugner und darüber hinaus Logenmeister der Freimaurer, ist es für den Schriftsteller eine Affaire der Selbstbehauptung, gegen den marianischen Wallfahrtsort anzuschreiben.

Als er daher 1892 nach Lourdes reist, kommt er nicht als frommer Pilger, sondern als fanatischer Positivist, der endlich dem klerikalen Betrug mit ätzenden schriftstellerischen Enthüllungen den Garaus machen will. An der Grotte erlebt Zola jedoch das Folgende: Zwei Frauen, sterbenskrank (Tuberkulose im Endstadium), werden vor seinen Augen wundersam geheilt.

Nun sollte man meinen, dieses erschütternde Erlebnis habe Zolas antiklerikales Weltbild zum Einsturz gebracht. Doch weit gefehlt. Er kehrt nach Paris zurück und veröffentlicht zwei Jahre später den Roman Lourdes, in dem der Protagonist Pierre, seines Zeichens katholischer Priester, nicht die Wunder der Gnadenstätte besingt, sondern die korrupten Machenschaften der Kleriker und Geschäftsleute, denen die armen Pilger machtlos ausgeliefert sind.

Und es kommt noch krasser. Zola lügt. Er gibt vor, eine der Geheilten sei gestorben, wiewohl er genau weiß, daß diese Geheilte in Paris lebt. Und noch perfider: Zola bietet dieser Frau eine beträchtliche Geldsumme an, damit sie Paris verläßt, um solcherart die potentielle Zeugin gegen ihn, Zola, außer Landes zu schaffen und also in die ungefährliche Ferne.

Wieder vergehen zwei Jahre. Es ist 1896. Zola leidet an einem offenen Beinbruch. Die Wunde verschlimmert sich von Tag zu Tag, derart, daß, wenn keine Besserung eintritt, die Amputation des Beines unumgänglich ist.

In dieser kritischen Situation träumt Émile Zola am Heiligabend, er sei in einer Kirche, wo er vor dem Bild der Madonna mit dem Kind ein Weihnachtslied singe. Als er aus seinem Traum erwacht, hört er seine Frau, die eben dieses Lied singt. Er bittet daraufhin seine Frau, in die Kirche zu gehen, dort eine Kerze anzuzünden und vor dem Bild der Madonna für ihn zu beten.

Und das Wunder geschieht. Zolas Bein wird geheilt. Und mehr noch: Der kranke Geist Zolas wird geheilt. Er bereut, er beichtet, er beginnt zu beten, er geht zur heiligen Messe, er versöhnt sich mit der Kirche. Und mehr: In einer Erklärung gesteht er seine langjährigen Irrtümer ein, er bricht mit der Freimaurerei, demaskiert deren Destruktivität und Termitenarbeit gegen die katholische Kirche. Und noch mehr: Émile Zola schreibt an Papst Leo XIII. und erbittet vom Pontifex die Vergebung für seine antikirchlichen Schriften und Aktivitäten.

Die Geschichte Zolas ist beglückend und erschreckend zugleich. Wie zementiert, so fragt man sich bestürzt, kann die Verblendung eines sogenannten Intellektuellen sein, daß er selbst Tatsachen leugnet, ja verfälscht, aus dem einzigen Grund, das eigene marode Kartenhaus nicht preiszugeben? Und die zweite, unfaßbare Frage: Wie groß ist die Geduld Gottes, der nicht müde wird, noch dem verstocktesten Verleumder, Verfälscher und Verführer nachzugehen, um ihn zu retten, tatsächlich zu retten?

Sonntag, 26. September 2021

»Gestalten wir sie!«

                                                                                                         
»Wollen wir uns über die Zeiten beklagen? Nicht die Zeiten sind gut oder schlecht. Wie wir sind, so sind auch die Zeiten. Jeder schafft sich selber seine Zeit! Lebt er gut, so ist auch die Zeit gut, die ihn umgibt! Ringen wir mit der Zeit, gestalten wir sie! Und aus allen Zeiten werden heilige Zeiten.«

Aurelius Augustinus


Grafik:
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Samstag, 18. September 2021

»Wer Talent in sich birgt...«

Was darf Kunst?

Alles, so der moderne Zeitgenosse.

Dementsprechend fallen etliche der sogenannten Kunstprodukte aus. Blasphemien allenthalben. Obszönitäten als neue Regel. Scharlatanerie.

Wer wirklich wissen will, welche Verantwortung der Künstler hat, der sollte Gogol lesen. Zum Beispiel die längere Erzählung Das Bildnis (auch übersetzt als Das Portrait) aus den Petersburger Geschichten.

Gogol erzählt von einem Maler, der eines Tages, als er in einem Auftragswerk den Teufel, den »Geist der Finsternis«, porträtieren soll, das Bildnis eines Wucherers anfertigt, in dessen zwielichtiger Gestalt offensichtlich das Dämonische sein Unwesen treibt.

Zum Ernst des russischen Schriftstellers gehört, daß er im Laufe seiner Erzählung die Konsequenzen aufzeigt, die das dargestellte Dämonische in den Personen auslöst, die mit ihm in Kontakt kommen. Zunächst der Maler selbst: Sein Charakter wird durch die  Herstellung des Bildnisses affiziert derart, daß er, der bislang ehrlich und geradlinig lebte, von der Destruktionskraft des Dämonischen befallen wird.

Aber auch die wechselnden Käufer des Portraits kommen nicht ungeschoren davon. Gogol zeigt ohne jede melodramatische Überhöhung die Spur des Bösen im Leben derjenigen, die sich dem Bösen goutierend aussetzen.

Was den Maler selbst betrifft: Er versteht schließlich den Greuel seiner Tat, daß nämlich »sein Pinsel dem Teufel als Werkzeug gedient« hat, und geht in die radikale Bekehrung. Er zieht sich büßend in ein Kloster und endlich in eine Eremitage zurück und versucht auf diese Weise gutzumachen, was sein entweihter Pinsel an Unheil angerichtet hat.

Nach Jahren der Askese, des Verzichts, des Verstummens und der Reinigung ist er, auf Wunsch des Klostervorstehers, bereit, erneut den Pinsel zu ergreifen: »Jetzt bin ich bereit. So Gott will, werde ich mein Werk vollbringen.« Und das Werk, welches er wählt, ist die Geburt Christi.

Damit ist Gogols Geschichte noch nicht zu Ende.

Der Sohn des Malers, der gleichfalls Maler ist und also in die Fußstapfen seines Vaters tritt, besucht als Zwanzigjähriger seinen Vater in dessen klösterlicher Einsamkeit, um von ihm Abschied zu nehmen, bevor er auf eine Kunstreise nach Italien aufbricht. Er erwartet, einen ausgezehrten, vertrockneten Greis anzutreffen. Um so überraschter ist er, »als ich einen schönen, fast göttlichen alten Mann vor mir sah.«

Die Begegnung ist ergreifend in ihrer Schlichtheit und Größe. Der Vater spricht zu seinem Sohn über die Verantwortung des Künstlers: »Wer Talent in sich birgt«, so heißt es gleichsam testamentarisch, »dessen Seele muß reiner als alle anderen sein. Anderen wird vieles vergeben werden, ihm nicht.«

Es dürfte klar sein: Hier spricht jemand, der über die gefälligen Worte längst hinaus ist. Das Gesicht des Vaters, sein Leib, seine Augen, sein ganzes Wesen strahlen die herrliche Verantwortung aus, von der er in einfacher Festigkeit Zeugnis gibt. Leben und Kunst vereinen sich zur wunderbaren Einheit, ja, das Leben, das schöne, makellose Leben des Heiligen ist das Kunstwerk in seiner überzeugendsten Ausprägung.

Und der Vater segnet seinen Sohn und bittet diesen, das besagte Bildnis, sollte er es finden, um jeden Preis zu vernichten. Daß dies (ohne Schuld des Sohnes) vereitelt wird, spricht für die Unbestechlichkeit des gogolschen Realismus. Der Leser der Erzählung jedenfalls weiß genug. Er weiß, was Kunst darf. Und er weiß, was Kunst nicht darf.

Mittwoch, 8. September 2021

Der Tod

Wahrscheinlich würden die Meisten, wenn nicht sogar Alle, vorausgesetzt, man gibt ihnen die nötige Zeit zum Nachdenken, darin übereinstimmen, daß es nur eine brennende Frage im Leben gibt, nämlich diejenige, wie es sich mit dem Tod verhält.
                                                            
Der Tod macht uns alle gleich. Oder, in den pessimistischen Worten Schopenhauers: »Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt.«

Selbst derjenige, der dem Tod davonzulaufen versucht, entgeht ihm nicht. Der Tod wird eines Tages schneller sein und den Davonlaufenden einholen. Bekannte Erzählungen belieben dieses Motiv zu variieren, etwa indem sie von einem Geängsteten zu berichten wissen, dessen bevorstehender Tod an dem und dem Ort zu der und der Zeit angekündigt wird, und der daraufhin wähnt, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können, indem er sich zur angesagten Zeit an einen gänzlich anderen Ort begibt. Doch was geschieht? - Eben an diesem neuen, angeblich so sicheren Ort, erwartet ihn der Sensenmann mit der Selbstverständlichkeit dessen, der seit eh und je genau an diesem Ort auf den Todgeweihten gewartet hat.

Der Philosoph Paul Ludwig Landsberg (1901 – 1944) hat sich immer wieder mit der Todesfrage auseinandergesetzt.

Aus einer jüdischen Familie stammend, später jedoch zum katholischen Glauben konvertierend, hört er bereits in jungen Jahren solch berühmte Geistesgrößen wie Husserl und Scheler. Freiburg, Berlin und Bonn sind die Stätten seiner akademischen Laufbahn. Die Habilitationsschrift widmet er Augustinus.

Die philosophische Auseinandersetzung mit der Tatsache des Todes geht dem parallel. Seine Einführung in die philosophische Anthropologie stellt sich bereits der Grundfrage des menschlichen Daseins. Oder: Landsberg publiziert einen großen Essay unter dem Titel Die Erfahrung des Todes  (»Was bedeutet der Tod für uns Menschen? Die Frage ist unerschöpflich; es geht um das Mysterium des Menschen selbst, dem man sich mit dieser Frage von einer bestimmten Seite nähert. Jedes wahre philosophische Grundproblem enthält alle anderen in der Einheit des Geheimnisses.«) und veröffentlicht einen Aufsatz zur Thematik Das moralische Problem des Selbstmordes (seine Mutter scheidet 1938 durch Selbstmord aus dem Leben)..

Hinzukommt, daß seine Herkunft als gebürtiger Jude in der Nazidiktatur für Landsberg eine permanente existentielle Bedrohung darstellt. Er geht ins Exil, die Lehrbefugnis wird ihm entzogen, in Frankreich schließt er sich der Résistance an. 1943 fällt er aufgrund von Verrat in die Hände der Gestapo und wird in das KZ Sachsenhausen abtransportiert, wo er entkräftet vom unmenschlichen Lageralltag am 2. April 1944 stirbt.

Der Gefahr der nazistischen Verfolgung durchaus bewußt, trägt Landsberg stets eine Ampulle mit sich, die ein tödliches Gift enthält, welches er bei Bedarf sich verabreichen will, um der tödlichen nazistischen Unterdrückung zuvorzukommen.

Doch es kommt anders. Landsberg endet nicht im Selbstmord.

Mitten im Zweiten Weltkrieg, im Sommer 1942, zerstört Landsberg die tödliche Ampulle. In seinem Tagebuch schreibt er, er habe Christus gefunden, der sich ihm geoffenbart habe.

Dieses Finden ändert alles. Die Todesfrage ist endgültig beantwortet.

Samstag, 7. August 2021

Hl. Giuseppe Moscati V

Die Eucharistie

Als Giuseppe Moscati am 12. April 1927 in Neapel stirbt, stirbt er als Armer. Sehr still, unbemerkt, zuhause in seinem Sessel. Am Morgen hat er die heilige Messe besucht. Danach geht er wie gewohnt auf Visite ins Spital. Das Mittagsmahl nimmt er zuhause ein. Da er sich erschöpft fühlt, will er etwas ausrasten. Es ist seine letzte irdische Rast. Ein Schlaganfall, wie die Diagnose lautet. Es ist der Dienstag der Karwoche, gegen fünfzehn Uhr am Nachmittag.

Oft hatte er gesagt: »Hört doch auf mit dem Geld! Das Wichtigste ist doch, daß ich den Kranken besuche.« Diese Losung hatte er sein ganzes Leben lang wahrgemacht. Die Liebe zu den Armen war tatsächlich Liebe gewesen, so sehr, daß er der Arme unter den Armen wurde.

Und diese Armen kommen allesamt herbei, als sie von seinem Tod erfahren. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: È morto il medico santo. Das Begräbnis für den »heiligen Arzt«, wie er schon zu Lebzeiten immer wieder genannt worden war, gestaltet sich zu einem herrlichen Triumph.
 
1880 geboren als Giuseppe Mario Carolo Alphonse Moscati, als Sohn des hochangesehenen Gerichtsbeamten Francesco Moscati und dessen Gattin, der Gräfin Rosa de Lucca, vollendet sich 47 Jahre später dieses Leben der Hingabe im sinnfälligen Zeichen. Denn es ist der hohe Donnerstag, der Gründonnerstag, der Tag der Einsetzung der heiligsten Eucharistie, an dem Moscati zu Grabe getragen wird. Hatte er nicht aus dem bleibenden Sakrament der Liebe gelebt? Hatte er nicht in den ihm anvertrauten Armen das Antlitz des Herrn geschaut? War er nicht, in seinem Leben wie in seiner Arbeit, stets von einem Tabernakel zu dem anderen Tabernakel gegangen?

60 Jahre nach seinem Tod, am 25. Oktober 1987, wird Giuseppe Moscati heiliggesprochen. Das zur Kanonisation erforderliche Wunder ereignet sich an einem jungen Mann namens Giuseppe Fusco, der an Leukämie erkrankt ist. Dessen Mutter schaut in einem Traum einen Arzt im weißen Kittel, den sie später, als ihr Pfarrer ihr ein Foto des seligen Moscati zeigt, als eben den Mann erkennt, der ihr im Traum erschienen ist. Daraufhin wird Moscati um Fürsprache angerufen. Und der lebensgefährlich Erkrankte wird auf unerklärliche Weise wieder gesund und kann seine Arbeit wieder aufnehmen.

Der Gedenktag des Heiligen, welcher der erste heiliggesprochene Arzt der Moderne und Patron der Ärzte ist, ist der 12. April. Dargestellt wird er vorzugsweise im weißen Arztkittel. 

In der Kirche Gesu Nuovo, wo er seine letzte Ruhestätte fand, schmückt ein großformatiges Relief seine Grablege. Das Relief ist als Triptychon angelegt. Zur Linken ist Moscati als Professor am Katheter vor seinen Studenten abgebildet. Zur Rechten schaut der Betrachter den heiligen Arzt am Bett seiner Patienten. Der Mittelteil des Triptychons zeigt die Lebensmitte Moscatis. Der Arzt neigt sich zu einer Mutter, die ihm ihr Kind entgegenhält. Am Firmament leuchtet dabei die Sonne, die Arzt, Mutter und Kind bescheint – die Eucharistie.  

Grafik: Kapelle zur Ehre des Heiligen. Mit Dank an: sacerdos-viennensis.blogspot.com


Dienstag, 3. August 2021

Hl. Giuseppe Moscati IV

Die Liebe

Bereits während seines Studiums hatte er die unsäglichen Reduktionen einer Wissenschaft erlebt, die sich dünkte, das neue, allumfassende Erklärungsmodell der Welt zu sein. Häckels antihumanes biogenetisches Grundgesetz war in aller Munde. Feuerbachs vernichtende Kritik am Christentum erreichte die Hörsäle. Darwins Abstammungslehre mutierte zur neuen Religion. Wissenschaft, so das mehr und mehr um sich greifende Dogma, hatte positivistisch zu sein, naturalistisch, materialistisch – so oder so ähnlich hießen die Schlagwörter. Davon hatte sich Moscati nie beeindrucken, geschweige denn anstecken lassen. Sein Glaube war der Glaube seiner Väter: Stark, erdverbunden, fest verwurzelt, demütig-einfach. Und dieser Glaube war kein Widerspruch zu seiner eifrig betriebenen Forschung, sondern erhellte und überwölbte das wissenschaftliche Erkannte, so daß es ein intelligentes Ganzes wurde. Nicht die pompöse Parole war Moscatis Motto, sondern die unauffällige Mystik der alltäglichen, treuen Tat, die die Hierarchie der Werte kennt:  »Nicht die Wissenschaft, sondern die Liebe hat die Welt verändert«, schrieb er einem seiner Studenten, und diese Liebe vermöge jeder zu leben.

Zu dieser gelebten Mystik gehört gleichfalls das geduldige Ertragen von Kollegenneid, von Verunglimpfungen und Verleumdungen. Er ist bekannt dafür, daß er unfaire Stellenbesetzungen freimütig ablehnt, ebenso die Postenschieberei gemäß Beziehungen und gesellschaftlichem Einfluß. 

Mit 42 Jahren, im Oktober 1922, als ihn körperliche Schmerzen und die Opposition eines Kollegen, den er unterstützt hatte, besonders heimsuchen, gibt er sich selbst die Weisung: »Liebe die Wahrheit; zeige dich, wie du bist, ohne Verstellung, ohne Angst und ohne Rücksicht. Und wenn dich die Wahrheit Verfolgung kostet, so nimm sie an; und wenn es eine Qual ist, ertrag sie! Und wenn du für die Wahrheit dich selbst und dein Leben opfern müßtest, sei stark im Leid.«

Mit dieser Haltung des aufrechten Ganges geht Hand in Hand der gerade, weite Blick. Kunst interessiert ihn, ebenso Architektur und die klassische Antike. 1923, während der Sommerzeit, reist er nach Paris und London. In der englischen Hauptstadt besucht er die National Gallery und ist, wie er später notieren wird, begeistert von den großen italienischen und flämischen Malern - da Vinci, Rubens, van Dyck. Aber auch ein Zeitgenosse, der große amerikanische Portraitist John Singer Sargent, findet seine Bewunderung.

In den, nach Moscatis Tod, gesammelten Berichten und Zeugnissen fällt eines auf: Gleich ob Patient, Professor, Kollege, Student, Freund, sämtliche Gefährten auf dem Wege sind berührt von der ausstrahlenden Güte des bescheidenen Arztes. Diese ist offensichtlich keine aufgesetzte Pose, sondern der Habitus desjenigen, der in seinem Tagebuch festhält: »Deine Liebe, Herr, lenkt mich hin zu den Menschen und zur Schönheit alles Geschaffenen, zu Deinem Abbild und Gleichnis.« 

Grafik: Kapelle zu Ehren des Heiligen in Neapel. Mit Dank an: sacerdos-viennensis.blogspot.com

Samstag, 17. Juli 2021

Hl. Giuseppe Moscati III

Der Dienst

Es mag erstaunen, wenn man in einem Tagebucheintrag Moscatis, adressiert an die »Jungfrau Maria«, liest: »Das Leben ist jetzt für mich eine Pflicht. Du vereinst meine wenigen Kräfte, um sie für meine Mission umzuwandeln. Allzu sehr hat mich die Nichtigkeit der Dinge, vielleicht der Ehrgeiz, stärker an Wissen und Geist erscheinen lassen, als ich wirklich bin.«

 

Es ist das Geheimnis des Dienstes. Seine Überlegung, bei den Jesuiten einzutreten, scheitert. Man rät ihm, seine Aufgaben in der Welt fortzusetzen. Und er versteht mehr und mehr seine Sendung. Nicht er, Moscati, ist der große Arbeiter, sondern der Herr, der sich seiner bedient, um zu den Menschen, zumal den Leidenden, zu kommen. 

Moscati bezieht seine Kraft vor dem Tabernakel, im Knien. Bevor er seine Patienten untersucht, macht er sich der Gegenwart Gottes bewußt. Kranke, zumal solche, denen eine Operation bevorsteht, ermutigt er, die Sakramente zu empfangen. Manche Kranke vermag er wundersam zu diagnostizieren und zu kurieren, ohne sie auch nur von Auge zu Auge gesehen zu haben.

Sein Beichtvater ist P. Pio, der stigmatisierte Kapuzinerpater, der Jahre später mehr und mehr berühmt werden wird. Wenn es die Umstände erlauben, ministriert Moscati beim heiligen Meßopfer. Seine Liebe zur Muttergottes ist bleibend, sie beginnt in früher Kindheit. Es ist das Hochfest der Muttergottes, der 8. Dezember, Tag der ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria, an dem er die Erste Heilige Kommunion empfängt. Der Rosenkranz ist sein ständiger Begleiter, in einer Kirche, vor dem Bild der Muttergottes, legt er in jungen Jahren sein Keuschheitsgelübde ab, das Angelusgebet strukturiert wie selbstverständlich seinen Tagesablauf, der schließlich rund um die Uhr ein ausgefüllter ist. 

Visiten (in Notfällen auch nachts), Operationen, Untersuchungen, Besprechungen, Vorlesungen, Forschungsarbeit, wissenschaftliche Publikationstätigkeit, Erledigung von Verwaltungsaufgaben, zudem die Patientenbetreuung in der Privatpraxis zuhause. Oft genug geschieht es, daß er die mittellosen Patienten ohne Honorar behandelt. Oder es kommt vor, daß er einen Patienten mit einem Kuvert nach Hause schickt, und in dem Umschlag ist das Rezept und ein 50-Lire-Geldschein, um das Rezept einzulösen.

Er ist der Arzt, der sich hingibt, ohne zu murren, ohne sich wichtig zu machen. Denn er liebt seinen Beruf, er weiß um das hohe Ethos des Arztes, er wird nicht müde, seinen Studenten die Schönheit der medizinischen Mission zu vermitteln und sie anzuspornen, Ärzte zu sein, die ihrer großen Verantwortung bewußt sind. Er ist Mitglied der Königlichen Akademie der Chirurgischen Medizin und Leiter mehrerer Hospitäler. In seinem Laboratorium forscht er unermüdlich, er gehört zu den Pionieren der Insulin-Forschung und der modernen Biochemie. Aber er weiß zugleich um die Begrenztheit jeder menschlichen Kenntnis und daß es eitel ist, der Wissenschaft einen unfehlbaren, absoluten Rang zu geben, der ihr per definitionem nicht zusteht.

In einem Brief vom 4. September 1921 heißt es: »Bedenken Sie, daß Sie mit dem Beruf des Arztes eine große Sendung auf sich genommen haben. Harren Sie darin aus, mit Gott im Herzen, mit den Lehren Ihres Vaters und Ihrer Mutter vor Augen, mit Liebe und Mitgefühl für die Verlassenen, mit Glaube und Begeisterung, taub für Lobsprüche, unbeugsam gegenüber dem Neid, zum Guten bereit.«

Zwei Jahre später schreibt er demselben Adressaten: »Ja, was können wir Ärzte denn eigentlich? Sehr wenig! Und darum wollen wir der Seele helfen, wenn wir dem Körper nicht helfen können.«


Grafik: Die Reliefs zeigen die dreifache Tätigkeit Moscatis, links der Professor mit den Studenten, rechts als Arzt im Spital und in der Mitte der Heilige, erleuchtet durch die hl. Eucharistie. sacerdos-viennensis.blogspot.com


Samstag, 3. Juli 2021

Hl. Giuseppe Moscati II

Die Medizin

Wie es überhaupt dazu kommt, daß Moscati, der als siebtes von neun Kindern aus einer angesehenen Juristenfamilie stammt, nicht gleichfalls die juristische Laufbahn einschlägt, sondern die Medizin als sein Fach wählt, entzieht sich genauer Kenntnis. Einer seiner Biographen verzeichnet eine frühe Reminiszenz Moscatis; da heißt es: »Als Knabe schaute ich mit Interesse auf das Krankenhaus der Unheilbaren, auf das mein Vater mich von der Terrasse unseres Hauses hingewiesen hatte. Der Anblick gab mir Empfindungen des Mitleids ein mit dem namenlosen Leid, das in jenen Mauern gelindert wurde. Eine heilsame Verwirrung erfaßte mich, und ich fing an, an die Hinfälligkeit aller Dinge zu denken, und die Illusionen vergingen, so wie die Blüten von den Orangenbäumen fallen.«

Und die Illusionen vergingen … Moscati ist dreizehn, vierzehn Jahre alt, Gymnasiast in Neapel, als ihm die Hinfälligkeit der Dinge in der eigenen Familie drastisch vor Augen geführt wird.

Einer seiner Brüder, Alberto, der, zehn Jahre älter als Giuseppe, neunzehnjährig zum Artillerieleutnant in der Militärakademie zu Turin avanciert ist, kehrt 1893 zu seiner Familie nach Neapel zurück. Er ist schwerkrank. Was ist passiert? Bei einer Militärparade stürzt der versierte Reiter Alberto von seinem Pferd und schlägt mit dem Kopf auf dem Boden auf. Danach ist er für immer gezeichnet. Der Sturz hat schwere Hirntraumata ausgelöst, die trotz etlicher Kuren und Therapien nicht heilen. Alberto, der ein Jahr lang seinen Zustand vor der Familie geheim hält und auf Heilung hofft, muß schließlich 1893 krankheitsbedingt seinen Militärdienst aufgeben und nach Hause zurückkehren. Er ist Invalide, schwere, epileptische Anfälle und Krämpfe beeinträchtigen ihn sein Leben lang.

Giuseppe, der jüngere Bruder, sitzt oft bei Alberto, nimmt wahr, wie viel Pflege der Kranke braucht, erkennt die körperlichen und seelischen Bedürfnisse seines Bruders. 

Vier Jahre später, 1897, immatrikuliert er sich an der Fakultät in Neapel im Fach Medizin. Nur zwei Monate später, im Dezember desselben Jahres, stirbt plötzlich sein Vater im Alter von 61 Jahren. Der Tod des Familienoberhauptes, der noch die Sterbesakramente empfangen kann, ist für alle ein Schlag. Giuseppe, dies geht aus seinen Aufzeichnungen hervor, hat seinen Vater sehr verehrt. Oftmals begleitet er den angesehenen Juristen zur heiligen Messe. Das väterliche Vorbild ist für das Leben des Sohnes prägend. Der Vater strahlt aus in der Familie - durch seine Güte, seine Autorität, seine durch und durch unprätentiöse, starke, gefestigte Frömmigkeit. Und Giuseppe eifert diesem Vorbild nach.

1903 wird er zum Doktor med. promoviert. Seine Leistungen sind hervorragend, und dies wird so bleiben. In den etwas mehr als zwanzig verbleibenden Jahren bis zu seinem Tod wird er in der wissenschaftlichen Welt als medizinischer Experte bekannt und anerkannt. 1911 erhält er den Doktortitel in physiologischer Chemie. Etliche Publikationen tragen seinen Namen, »seine Forschungen über Art und Wirkung des Glykogens«, so einer seiner Biographen, »erregten Aufsehen in der Fachwelt.« 

Doch trotz seiner fachärztlichen Reputation und seiner späteren Professoren- und Dozententätigkeit, die eine lukrative Karriere, Ruhm und Prestige geradezu nahelegen, wählt Moscati den Weg der Einfachheit und des unauffälligen Dienstes bei den Kranken. Er bleibt exakt dort, wohin sein früher, kindlicher Blick einst gerichtet war: In Santa Maria del Popolo, im Spital der Unheilbaren.

Und er ist von Anfang an der Arzt, der im leidenden Patienten mehr wahrnimmt als den Bettlägerigen, den Kranken, den nicht mehr Funktionierenden. Da Moscati, bevor er seinen Dienst aufnimmt, sich angewöhnt, die Morgenmesse zu besuchen und die heilige Kommunion zu empfangen, ist die Arbeit im Spital eine verwandelte. Im Patienten begegnet ihm das Antlitz des leidenden Christus, und dies nicht als fromme Phrase dahergesagt, sondern als tatsächliche nackte Erfahrung. Es ist das, was Mutter Teresa, Jahrzehnte später, immer wieder betonen wird: Daß das Brot des Lebens, welches der Gläubige in der heiligen Kommunion empfängt, derselbe Leib ist, den man berührt, wenn man den Leib des Kranken, des Aussätzigen, des Armen berührt.

Und Giuseppe Moscati berührt die Armen, auch unter Lebensgefahr. Als im April 1906 der Vesuv ausbricht und die Dorfbevölkerung an den Abhängen des Berges akut gefährdet sind, begibt sich Moscati freiwillig in die Gefahrenzone, um der heimgesuchten Bevölkerung beizustehen. Er ist es, der unter Einsatz des eigenen Lebens dafür sorgt, daß in der Kleinstadt Torre del Greco, die nur wenige Kilometer entfernt vom Krater liegt, Alte und Kranke aus dem städtischen Hospital evakuiert werden. Es gelingt ihm, alle Patienten ins rettende Freie zu bringen; danach stürzt das Spitalsgebäude unter dem Aschenregen und dem Lavagestein ein. Als er zwei Tage danach den Generaldirektor des Spitalswesens in einem Brief ersucht, den ehrenamtlichen Helfern eine Belohnung zukommen zu lassen, bittet er im selben Brief: „Ich bitte Sie, erwähnen Sie meinen Namen nicht.“

Fünf Jahre später, als in Neapel eine furchtbare Choleraepidemie ausbricht, ist Moscati wiederum zur Stelle und schont sich nicht. Er geht in die Elendsquartiere, hilft selbstlos Tag und Nacht, ordnet sanitäre Rettungsmaßnahmen an, koordiniert die Hilfetrupps. 

Im Ersten Weltkrieg meldet er sich zum Einsatz, wird aber abgelehnt. Dies veranlaßt ihn, ein Spital für die Verwundeten des Krieges zu eröffnen, in dem er schätzungsweise 3000 Soldaten betreut. Dies alles in einer unspektakulären Weise, der es nicht um Sensationen und Rampenlicht geht, sondern um das Notwendige, das es zu tun gilt.

Grafik: Arbeitszimmer Moscatis. Sacerdos-viennensis.blogspot.com

Freitag, 25. Juni 2021

Hl. Giuseppe Moscati

Teil I

Es ist der 14. Februar 1927. 

In Neapel findet in der medizinisch-chirurgischen Akademie eine Konferenz statt, auf welcher der bekannte Psychiatrieprofessor, Gehirnforscher und ehemalige Bildungsminister Leonardo Bianchi spricht. Bianchi gehört zu den Wissenschaftlern, die streng positivistisch vorgehen. Sein Hauptwerk ist die Meccanica del cervello (Die Mechanik des Gehirns). Der Mensch gilt gleichsam als eine Art Maschine, die analysiert und erforscht wird. Die Frage nach der Geschöpflichkeit des Menschen, gar die Frage danach, ob der Mensch als das der Transzendenz fähige Wesen (Augustinus sprach davon, daß der Mensch capax Dei sei und also gottfähig) nicht mehr ist als seine biologisch meßbaren Funktionen, diese Frage wird bewußt ausgeklammert.

Als der berühmte Redner, der umgeben ist von Professoren, Ärzten, Studenten, schließlich aufsteht, passiert das Unvorhergesehene: Professor Bianchi bricht zusammen.

Und ein weiteres Unvorhergesehenes geschieht. Es ist offensichtlich, daß die Augen des Sterbenden jemanden aus dem Auditorium suchen. Dieser Jemand ist der Arzt Giuseppe Moscati, der den stummen, flehentlichen Anruf des Sterbenden schlagartig erfaßt. Er geht zu dem tödlich Getroffenen und kniet an dessen Seite nieder. Bianchi umklammert die Hand Moscatis. Es ist sehr still im Raum, als Moscati die Order erteilt: »Ruft einen Priester!«

Und dann betet Moscati im Angesicht des Sterbenden laut die katholischen Reuegebete, die der am Boden Liegende stammelnd nachspricht.

Moscati, der nur knapp zwei Monate später selbst an seinem letzten Tag ankommen wird, schreibt wenige Tage nach dem Tod Bianchis an dessen Nichte, eine Ordensschwester, einen Kondolenzbrief. Darin heißt es: »An Ihrem Onkel hat sich bewahrheitet, was die Parabel des Evangeliums sagt: Die zur elften Stunde kommen, werden den gleichen Lohn empfangen, wie die zur ersten Stunde Gerufenen. Ich spüre noch immer den Blick, der mich dort unter den vielen Menschen suchte. Leonardo Bianchi wußte um meine religiöse Einstellung, denn er kannte mich seit meiner Studentenzeit. Ich ging zu ihm hin und betete ihm die Worte der vertrauenden Reue vor, während er meine Hand hielt, kaum noch fähig zu sprechen.«

Diese Zeilen Moscatis sind um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, was der Briefschreiber zusätzlich notiert: »Ich wollte nicht zu jener Konferenz gehen, da ich mich schon eine Zeitlang von der Universität ferngehalten hatte. Aber an jenem Tag drängte mich eine übernatürliche Macht dorthin, der ich nicht zu widerstehen vermochte.«

In dieser kurzen Episode aus dem Leben des heiligen Arztes Giuseppe Moscati läßt sich wie in einem Brennpunkt bündeln, was Moscati auszeichnet. Hier ist ein Mensch, der als Arzt sich zeit seines Lebens um das leibliche Wohl seiner Patienten sorgt, der aber darüber nie vergißt, daß die Seele derselben Patienten gleichfalls ihre Rechte beansprucht, denn diese Seele ist kein Konstrukt obsoleter Theologen, sondern Realität, ja die Wirkmacht, die den Leib, den gesunden wie den kranken, formt und zusammenhält.

Darum wird Moscati nicht müde, seinen Studenten oder seinen Kollegen das Wesentliche in stets neuen Anläufen zu vermitteln. Er spielt nicht den medizinischen Beruf gegen die Seelsorge aus. Was er tut, ist, die Gewichte recht zu justieren: »Wir Ärzte, die wir oftmals nicht in der Lage sind, die Krankheit zu beheben, sind gesegnet; wir sind gesegnet, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß wir in der Gegenwart kranker Menschen nicht bloß Leiber kurieren, sondern ebenso göttliche und ewige Seelen, und wir müssen sie lieben wie uns selbst.«

Grafik: wikicommons

Montag, 21. Juni 2021

»Denn die Schöpfung…


 … wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes.« 
(Römerbrief 8,19)
 
 
Grafik: Twitter, Dominikus J. Kraschl OFM

Samstag, 12. Juni 2021

2 Sekunden

Wie stellt man in der Gebärdensprache die Abtreibung dar?


 

2 Sekunden, um die Tötung eines ungeborenen Kindes darzustellen. Da erübrigt sich jeder Kommentar.


Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=gTOpXthCf4k

Montag, 31. Mai 2021

Neue Schöpfung

Gibt es das? Neue Schöpfung? Genauer: Neue Schöpfung nach einem ruinierten Leben?

Für den Apostel Paulus ist das keine Frage, sondern eine Gewißheit, wenn er schreibt: »Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.«

Paulus benennt hier, was die Taufe tatsächlich ist: Hineingeboren werden in Christus und damit der Beginn des neuen Lebens, des christlichen Lebens.

Ist diese paulinische Theologie nicht zu schön, um wahr zu sein?

Reden wir mal über Torsten Hartung.

Hartung ist ein verurteilter Mörder. Sein Leben: Von früh auf eine Katastrophe. Ein kalter, gewalttätiger Vater. Eine kalte, lieblose Mutter. Der geprügelte, getretene, verstoßene Junge – das ist die tägliche Erfahrung. Auch in der Schule.

Doch das geschlagene Kind schlägt irgendwann zurück. Um zu überleben in einer Welt des Brutalen, trainiert sich Hartung die Härte an. Und das funktioniert. Als Jugendlicher und junger Mann ist er bald der Schläger und der Unbesiegte.

Und so geht es weiter. Erste Gefängnisaufenthalte folgen. Die Spirale von Gewalt, Kriminalität, Haß und Mißbrauch nimmt ihren Lauf. Menschen sind dazu da, gebraucht und ausgenutzt zu werden. Liebe? Ein Fremdwort. Hartung beweist, »wie böse ich bin«.

Und dann eines Tages der Mord. Ein Komplize der Autoschieberbande, deren Boß Hartung ist, hintergeht ihn. Hartung macht, als er es erfährt, kurzen Prozeß mit Dieter. Er bringt den Anderen um. Kaltblütig.

Wenig später fliegt die Verbrecherbande auf. Hartung wird, ebenso wie seine Komplizen, verhaftet und verurteilt. Hartung bekommt fürs erste fünf Jahre Einzelhaft.

Und jetzt, in der Einsamkeit und Ausgesetztheit der Zelle, allein mit dem Tagebuch, in welches er seine verzweifelten, auf ihn einstürzenden Gedanken aufzuschreiben beginnt, fängt ein anderer Prozeß an: Die Frage Hartungs nach seiner Schuld. Und die Frage, wie mit dieser Schuld umzugehen ist? Es ist ein Prozeß, in dem der Täter mehr und mehr erkennt, wer er wirklich ist und wie er zu dem geworden ist, der er ist.

Und: Hartung findet in der Ehrlichkeit der Selbstentblößung zum Glauben. Wer will, kann das nachlesen in seinem ergreifenden Rechenschaftsbericht, den er nach Abbüßung seiner fünfzehnjährigen Haftstrafe schließlich veröffentlicht.

Was hier interessiert, ist dies: Hartungs Bekehrungsweg führt ihn schließlich in die katholische Kirche. Am 20. Juni 2000 läßt er sich, nach einer intensiven Zeit der betenden und fastenden Vorbereitung, in der Kapelle der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel vom Gefängnispfarrer taufen.

Neue Schöpfung? 

»Erst später«, so der kurze Satz in Hartungs Rechenschaftsbericht Du mußt dran glauben, »wird ihm bewußt, daß die Taufe auf den Tag genau acht Jahre nach dem Mord an Dieter stattfindet.«

 

Sonntag, 23. Mai 2021

Pfingsten 2021

Haben wollen wir alle. Gesundheit (»Vor allem Gesundheit!«). Schönheit. Beliebtheit. Intelligenz. Geld und was sonst noch das Verlangen begehrt. Und wenn man eine Ahnung von den Gaben des Heiligen Geistes hat, dann will man naturgemäß auch diese haben. Weisheit zum Beispiel. Oder Stärke.

Doch da ist ein Haken. Der Empfang der Gaben des Heiligen Geistes ist an Voraussetzungen geknüpft. Das bloße Mantra Ich will haben genügt nicht.

Ein Blick in das Evangelium des Pfingstsonntags kann da weiterhelfen. Wir wollen unser Augenmerk auf ein Wort heften, das in diesem Evangelium - über den Apostelkreis hinaus - durchaus auch für uns Anspruch ist. Es steht geschrieben: 

»Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus und trat in die Mitte.«
Mitte sei das Wort. Mitte ist mehr als eine Ortsangabe. Mitte meint wirklich Mitte. Zentrum. Mittelpunkt. In medio.

Das ist nicht beiläufig vom Evangelisten Johannes festgehalten. Es will besagen: Bist du bereit, Jesus in die Mitte zu lassen? In die Mitte deines Lebens, in die Herzmitte, derart, daß Jesus der Mittelpunkt deines Denkens, deines Gedächtnisses und deines Willens ist?

Wir hätten zwar gerne die schönen göttlichen Gaben, aber wir behandeln den Lieben Gott meist wie einen Kaffeeautomaten. Ein Euro wird in den Schlitz geworfen, und dann hat der Automat gefälligst den Capuccino auszuspucken. Und tut er es nicht, dann ist der Automat defekt.

Beim Lieben Gott deponieren wir unsere Wünsche. Wir hätten gerne dies und das. Und der Liebe Gott hat zu parieren, automatengleich. Tritt das Gewünschte nicht sogleich ein, dann liegt es offensichtlich an Gott, der taub ist oder sonst einen Defekt hat. Daß tatsächlich wir einen Defekt haben, dieser Gedanke ist zu verstörend. Dann lieber keinen Capuccino.

Und doch ist Jesus weiterhin da und will in die Mitte kommen, in die Mitte unseres Daseins, und dies nicht als der Versüßer unseres Lebens, sondern als dessen Herr. Wenn wir bereit sind für diese Mitte, wenn wir einverstanden sind, nicht länger unsere Mitte zu behaupten, sondern diesen Platz Jesus zu überlassen, dann kommen auch unsere Wünsche in die rechte Ordnung.

Frohe Pfingsten!

Grafik: Cathedra Petri. Petersdom. Bernini. Wikicommons by Dnalor.

Samstag, 15. Mai 2021

»Und Petrus stieg aus dem Schiffe.«

Von Schiller stammt das bekannte Wort: »Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen.«

Ich kenne Kirchgänger, die ohne viel Federlesens den Herrn anschwärzen, wenn es darum geht, die eigenen kleinlichen Glaubenszweifel zu rechtfertigen. Dann heißt es, Jesus selbst habe schließlich am Kreuz ausgerufen: »Mein Gott mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Danach die banale Schlußfolgerung: Was der Herr kann, kann auch der Knecht, und schon ist der eigene faktische Unglauben absolviert.

Die Heiligen müssen gleichfalls herhalten.

Zum Beispiel der heilige Petrus.

Fragt man einen halbwegs Gebildeten nach dem Apostelfürsten, so kann man nahezu sicher sein, daß ein Kennzeichen (meist das einzige) des Profils des ersten Papstes todsicher hervorgekehrt wird: Petrus ist derjenige, der verleugnet hat. Und das gleich dreimal. Das war's.

Es ist nicht schwer, die Motive des Schillerschen Schwärzens zu ermitteln. Zumeist artikuliert sich darin die Absicht, das Große, das man sich selbst nicht zutraut, herunterzuziehen auf das Mittelmaß. Auf das Gewöhnliche. Da man, warum auch immer, in der Mühe des Alltags nach etlichen Niederlagen kapituliert hat (auch wenn man diese Kapitulation sich nicht eingesteht), versucht man nun, das wirklich Hohe und Unbesiegte zu diskreditieren, um ein für allemal den Uneinsichtigen zu übertölpeln: Siehst du, das Hohe ist eine Fiktion. Machen wir uns nichts vor, wir sitzen alle im selben Boot.

Um beim letzten Bild zu bleiben: Nein, wir sitzen nicht alle im selben Boot. Und um beim Boot und bei Petrus zu bleiben: Petrus ist derjenige, der aus dem Boot steigt. Darüber sollten wir Kleinmütigen mal nachdenken.

Reinhold Schneider hat dies getan. Er widmet ein paar Seiten diesem Petrus, dem Großherzigen. Schneider nennt seine kurzen Bemerkungen: Und Petrus stieg aus dem Schiffe.

Es zeichnet Schneider, der selbst zu den Großherzigen gehört, aus, daß er in seiner Meditation die Macht und die Herrlichkeit und die Schwäche des Petrus ineins aufstrahlen läßt. Er vermag die einfachen, herrlichen Sätze zu schreiben: »Und da nun Jesus das einfache Wort spricht: Komm!, so geschieht das Größte: Und Petrus stieg aus dem Schiffe...« 

Und Schneider - anders als die modernen Vorwitzigen - wahrt die ehrfürchtige Distanz zu dem großen Mann auf den Wellen:

»Aber wir können uns nicht denken, daß Petrus gezögert hat: Er ist augenblicklich auf die hochgeschwellten Wogen getreten und auf Christus zugeschritten. Dies muß mit völliger Sicherheit geschehen sein, nicht in einer Art magischer, traumwandlerischer Sicherheit, sondern in einer über das Irdische erhobenen Wirk­lichkeit: In der Gegenwart Christi. Wie lange diese Sicherheit währte, wie viele Schritte Petrus getan, wissen wir nicht; es ist einer der wunderbaren, in der Vorstellung kaum mehr vollziehbaren Au­genblicke, die sich so oft zwischen den Worten der Heiligen Schrift öffnen. Wir wagen kaum die Augen zu erheben, wir wagen es nicht, uns ein Bild zu machen; wir fühlen nur, im Sturm und Wogenschlag geschieht etwas Stilles, Ungeheures: Petrus schreitet über die Wellen.«
Und endlich: Schneider beläßt es nicht bei der Meditation des Vergangenen. Denn der Herr und die Tat des Petrus gehören nicht dem Vergangenen an, sondern sind Anspruch an das Heute und folglich an jeden von uns, der zu glauben bereit ist. Und daher sollten die weiteren Sätze Reinhold Schneiders unsere Herzen erreichen und erschüttern:

»Und wenn wir nun selbst im Schiffe wären im Sturm und zum anderen Ufer strebten, ohne es zu erreichen, und der Herr erschiene auf den Wellen, würden wir dann aus dem Schiffe steigen wie Petrus? Es müßte ja leichter für uns sein als für ihn, weil wir seine Geschichte kennen und wir besser wissen, als er damals wissen konnte, was der Herr erwartet und wie Er uns beistehen wird. Und vielleicht würden diejenigen, die mit uns im Schiffe sind, die Erscheinung wieder für einen Geist halten wie die Jünger, und von uns würde eine Tat verlangt, die unseren Glauben an die Macht des Herrn bezeugt. Unser Leben strebt vom Ufer unseres Ausgangs zum Ufer des Todes über die Geschichte hinweg, die aufgewühlt wird vom Sturm. Sind wir bereit, auf die Wellen zu treten, wenn die heilige Gestalt über ihnen erscheint? Wenn wir uns nur ein wenig besinnen, so wissen wir: Darum ward dem Sturme die Macht gegeben, damit wir ein Zeugnis ablegen. Alles ist in des Herrn Hand, Sturm und Wellen, das Schiff und die Gefährten und wir. Nicht darum geht es, daß das Schiff gerettet wird; – wir können es dem Herrn anvertrauen, Er kann es retten zu einer jeden Stunde, und es wäre doch eine törichte Antwort am Tage des Gerichtes, daß wir für das Schiff hätten sorgen müssen und daß wir es nicht verlassen konnten. Es geht vielmehr um das Zwiegespräch, das einst Petrus mit Christus geführt hat, um des Apostels gläubige Frage und um das einfache, mächtige Wort Komm!«

Freitag, 7. Mai 2021

Ecclesia militans V

»Ein guter Christ wacht beständig mit dem Schwert in der Hand, der Teufel kann nichts gegen ihn tun, weil dieser ihm widersteht wie ein Krieger in voller Rüstung: Er fürchtet ihn nicht, weil er aus seinem Herzen alles Unreine verbannt hat.«

Hl. Pfarrer von Ars



Grafik: Photo by Nik Shuliahin on Unsplash




Montag, 3. Mai 2021

Ecclesia militans IV

»Reinheit des Herzens ist, in Wahrheit Eines zu wollen, und zwar das Gute, das seinen Lohn in sich selber trägt.«

Sören Kierkegaard

 

Grafik: Photo by Ricardo Cruz on Unsplash

Freitag, 23. April 2021

Modicum

Für manche oder auch etliche scheint die katholische Kirche erst mit dem Zweiten Vatikanum zu beginnen. Die Zeit davor wird geschmäht als vorkonziliär. Gemeint ist damit eine Zeit der Engstirnigkeit, der rigiden Strenge, der klerikalen Abgehobenheit und wie die Verdikte sonst noch lauten.

Da tut es gut, sich ein konkretes Beispiel aus dieser vorkonziliären Zeit zu Gemüte zu führen. Das Beispiel von Clemens August.

Er ist 10 Jahre alt. Zusammen mit seinem Bruder Franz geht er am 27. April 1890 zur Ersten Heiligen Kommunion. 

Seine Mutter schenkt Clemens als Andenken an diesen hohen Festtag das kleine Büchlein der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen. Und wie es sich gehört, schreibt die Mutter ihrem Sohn eine Widmung in das Buch. Diese besteht aus einem einzigen Wort: modicum.

Es ist das Wort, welches im Tagesevangelium vom Dritten Ostersonntag, dem Kommuniontag der beiden Brüder, aufscheint. Da steht geschrieben: Joh 16,22

In illo tempore: Dixit Jesus discipulis suis: Modicum, et jam non videbitis me; et iterum modicum, et videbitis me: quia vado ad Patrem.

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Noch eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen: und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich sehen, denn Ich gehe zum Vater.       

Eine kleine Weile – dahin lenkt die Mutter den Blick ihres Sohnes. Und der Sohn mit seinen gerade mal zehn Jahren ist – engstirnig? - offensichtlich bereit und geistig so weit, dieses Wort aufzunehmen und zu verstehen.

In einem Brief, exakt 18 Jahre später, schreibt Clemens August an die Mutter: »Heute vor 18 Jahren gingen der Kleine und ich zur ersten heiligen Kommunion. Wieviel Jahre mag das modicum, das Du uns damals in den Thomas schriebst, wohl noch dauern?«

Das Leben von Clemens dauert nach der Ersten Heiligen Kommunion noch 56 Jahre. Am 22. März 1946 stirbt er. 

2005 wird Clemens August seliggesprochen.

                                                               

Samstag, 17. April 2021

Zeugen dafür

Wofür?

Im Evangelium des 3. Ostersonntags heißt es:

»Jesus sagte zu ihnen: So steht es in der Schrift: Der Messias wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen, und in seinem Namen wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, sie sollen umkehren, damit ihre Sünden vergeben werden. Ihr seid Zeugen dafür.« (Lk 24,48)
Der Zeuge bezeugt den Tod und die Auferstehung Jesu, er bezeugt, daß wir Sünder sind, er bezeugt die Notwendigkeit unserer Umkehr und also die Lebensnotwendigkeit der Beichte.

Das setzt voraus, daß der Zeuge das Grundlegende verstanden hat: Was die Welt zu bieten hat und was sie nicht zu bieten hat. Der Zeuge hat keine Illusionen. Er weiß, wie es um ihn steht und wo das wirkliche Glück ist und wie man es erreicht.

Was arg theoretisch klingen mag, leuchtet bald ein, wenn man zum Beispiel das Leben von jemandem betrachtet, der ein Zeuge im oben genannten Sinne war. Nehmen wir die heilige Bernadette, die Seherin von Lourdes, die achtzehnmal die Muttergottes schauen durfte.

Man vergißt über soviel Bevorzugung vielleicht die Kehrseite dieses Lebens, die der lichtumstrahlten Gestalt der Erscheinungen korrespondiert: Nämlich daß Armut, Krankheit und Erniedrigung die lebenslangen Gefährtinnen der begnadeten Seherin waren.

Im Kloster, in welches Bernadette nach den Erscheinungen  eintritt, wird ihre Profeß immer wieder hinausgeschoben, da man sie für ein kleines, dummes Ding hält. Daß sie von Kindheit an eine Kranke ist, die an Asthma leidet, und im Kloster eine gedemütigte Schwerkranke, die an schmerzlichster Knochenmarkstuberkulose dahinsiecht, sind nur einige Fakten dieses Lebens, das, je mehr man über es erfährt, um so staunenswürdiger wird.

Während der dritten Erscheinung am 18. Februar 1858 sagt Maria zu der vierzehnjährigen Bernadette: »Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, sondern in der anderen«.

Wer, der diese himmlische Aussage vernimmt, fährt nicht innerlich zusammen? Hat das die Muttergottes tatsächlich gesagt? Jesus selbst sagt doch: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben«  (Joh 10,10). Gilt diese Zusage Jesu nicht für Bernadette?

Doch, sie gilt auch für Bernadette. So wie sie für jeden Christen gilt, der tatsächlich Christ sein will. Aber nur, wenn der Christ – und da kann Bernadette die unerbittliche, prophetische Lehrmeisterin für uns heute sein - , wenn der Christ ernst macht damit, die omnipräsente Vergötzung der Welt zu beenden.

Denn dem Christen ist die Welt nicht das, für was sie sich gemeinhin präsentiert. Sie ist nicht das glitzernde Sesamöffnedich für die totale Erfüllung. Die Welt und ihre sogenannten Schätze, dies der nüchterne biblische Befund, vergehen. Wer sich daran festhält, ist über kurz oder lang nicht der Glückliche, sondern der Betrogene.

Mit Trübsinn hat das nichts zu tun, mit billiger Vertröstung auf Jenseitiges ebenso wenig. Alles dagegen mit Augen, die sich öffnen und zu sehen anfangen und derart einzuschätzen vermögen, was die Welt zu bieten hat und was nicht.

Klug ist derjenige, der die Welt als eine vorläufige wahrnimmt und auf diese desillusionierende Weise der von Christus verheißenen sehr realen Lebensfülle nahekommt.

Wer in der Welt in der ersten Reihe sitzen will und sich dort einrichtet, so als sei diese Welt die bleibende Stätte, wird unglücklich. Bernadette hatte selbst die geliebte Grotte loszulassen.

Wer dagegen in der Welt den letzten Platz einnimmt und sich ausrichtet auf die zukünftige Stadt hin, die himmlische, der hat gute Chancen, schon jetzt glücklich zu werden.

Hat sich also die Muttergottes geirrt, als sie zu Bernadette sagte, sie werde in dieser Welt nicht glücklich?

Nein, die Muttergottes hat die Wahrheit gesagt. Man muß nur genau hinhören. In dieser Welt, sagt Maria. Und so stimmt es. In dieser Welt wurde Bernadette nicht glücklich, denn niemand wird in dieser vergänglichen Welt glücklich. Nur in der anderen. Doch diese andere Welt kann, wer will, jetzt anfangen.

Darum ist es die pure Wahrheit, wenn Bernadette bekennt: »Sehen Sie, meine Geschichte ist ganz einfach. Die Jungfrau hat sich meiner bedient, dann hat man mich in die Ecke gestellt. Das ist nun mein Platz, dort bin ich glücklich, und dort bleibe ich.«

Grafik: wikicommons


Samstag, 10. April 2021

Emmaus 2021

Wer sieht den Auferstandenen?

Nennen wir anhand des Berichts der Emmausjünger drei menschliche Voraussetzungen, um den Auferstandenen sehen zu dürfen. Nennen wir sie die drei Bereitschaften.

Die erste Bereitschaft ist die, ein offenes, waches, bereites Herz zu haben.

In der Fastenzeit ermahnt die Kirche die Gläubigen stets aufs neue mit der Weisung: Verhärtet nicht euer Herz! Ein verhärtetes Herz ist ein verstocktes, besserwisserisches, uneinsichtiges Organ. Dieses Herz ist blind für die Zuneigung Gottes.

Die Emmausjünger sind anders. Bei aller Niedergeschlagenheit und Traurigkeit wahren sie sich ein Herz der Sehnsucht. Man erkennt es daran, daß ihr Herz sich gerade nicht verhärtet, sondern tatsächlich in Brand setzen läßt: Brannte nicht unser Herz in uns, als Er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete? (Lk 24,32)

Die zweite Bereitschaft ist die Bereitschaft zur Verwandlung. Will ich mich verwandeln lassen vom Blick Jesu, von Seinem Wort, von Seiner Liebe? 

Kleopas und sein Gefährte ändern sich. Das Kennzeichen? Sie lassen ihre depressive Zweisamkeit aufbrechen zum Dritten hin. Und mehr noch: An diesen Dritten, den Auferstandenen, richten sie ihr Gebet: Bleibe bei uns; denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt! (Vers 29)

Schließlich die dritte Bereitschaft. Es ist die Bereitschaft, sich senden zu lassen und damit Zeugen des Auferstandenen zu sein. Auch hier das eindeutige Zeichen: Nach der Begegnung mit dem Auferstandenen brechen die Beiden auf und gehen zurück nach Jerusalem, um den Jüngern dort die Frohe Botschaft zu künden.

Sehnsucht. Verwandlung. Zeugenschaft. Diese sind notwendig, was den Menschen betrifft.

Und was Gott betrifft?

Da gilt: Jesus offenbart sich dem, dem Er sich offenbaren will. Er unterliegt keinem Zwang. Doch wo der Auferstandene die genannten drei Bereitschaften antrifft, da wirken diese in Art eines Magnets. Sie ziehen an. Sie ziehen die Liebe an. Und dann kann es geschehen, daß einem selbst die Augen aufgehen und das Herz zu brennen beginnt.

Und dann sollten wir es wie die Emmausjünger machen: Wir sollten den Herrn bitten, bei uns zu bleiben.

Dieses Gebet, womöglich das erste überhaupt an den Auferstandenen, ist das Gebet für uns heute. Dringender denn je.

       
Grafik: Emmaus. Willem Herreyns (1743-1827), Emmaus. wikicommons
 

Freitag, 2. April 2021

Karfreitag 2021

»Die Krone ist uns vom Haupt gefallen. Weh uns, wir haben gesündigt!«

Klagelieder 5,16

 

Grafik: https://pixabay.com/de/photos/schule-mundschutz-maske-corona-5058305/

Freitag, 26. März 2021

Ave Maria

»Die Gebete zu Maria sind Gebete auf Vorrat. Das sind sie, Gebete auf Vorrat. Es gibt kein einziges davon, in der ganzen Liturgie kein einziges, verstehst du, das der elendeste der Sünder nicht wirklich sagen könnte. Im Mechanismus des Heils ist das Ave Maria die letzte Zuflucht. Mit ihm kann man nicht verlorengehen.«
      
Charles Péguy
(1873 - 1914)

 Grafik: Caravaggio, Madonna di Loreto. wikicommons

Montag, 22. März 2021

Hildegard von Bingen – Die Geliebte

VI.

Geboren wird Hildegard in eine »weibische Zeit«. So kennzeichnet sie selbst ihr Zeitalter. Es ist eine Zeit der großen Gefährdungen und Versuchungen, eine Zeit der Betrügereien, der Täuschungen, der Häresien. Es ist vor allem die Zeit geistigen und moralischen Niedergangs, in der selbst der Klerus seine Aufgaben sträflich vernachlässigt: »Weh, wehe – die heutige Zeit ist nicht kalt, sie ist auch nicht warm, sie ist einfach lau.«  

Dem Menschen ist jedoch aufgetragen, was sie einst dem Erzbischof von Bremen vorschreibt: »Sei ein heller Stern, der in der Finsternis der Menschen in ihrer Verderbnis leuchtet (…).«

Sie selbst, Hildegard, ist zeitlebens eine im Licht Lebende. Das Licht, das unfaßbare, das ursprüngliche, hat ein Beiwort. Hildegard spricht immer wieder vom lebendigen Licht. Auch das Adjektiv wahr legt sie dem Licht bei. Oder das Adjektiv mild. Oder geheimnisvoll.

Und dann gibt es noch den Schatten des Lichts, in dem Hildegard, so sie, beständig lebe, gleichsam das Fenster zum übergroßen lebendigen Licht.

Spät, vier Jahre vor ihrem Tod, schreibt sie an Wibert ausführlich über das Geheimnis ihrer visionären Gabe. Da heißt es:

»Von meiner Kindheit an, als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreue ich mich dieser Gabe der Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, da ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin (…) Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel, viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als der Schatten des Lebendigen Lichtes bezeichnet (…) Die Gestalt dieses Lichtes vermag ich aber nicht zu erkennen, wie ich ja auch die Sonnenscheibe nicht ungehindert anschauen kann. In diesem Licht sehe ich zuweilen, aber nicht oft, ein anderes Licht, das mir das lebendige Licht genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen.«

Als die Seherin Hildegard 1179 in ihrem Kloster auf der Bergeshöhe stirbt, bleibt das Licht. Denn es sei – so steht es in ihrer Lebensbeschreibung – am Tag ihres Heimgangs in die Ewigkeit am Himmel eine wunderbare Lichterscheinung aufgestrahlt, welche »die nächtliche Finsternis vom Sterbehaus zu vertreiben« schien. »In diesem Lichte«, so fährt die Vita fort, »sah man ein rotschimmerndes Kreuz, das zuerst klein war, dann aber zu ungeheurer Größe anwuchs.« Die Lichterscheinung hüllt schließlich »den ganzen Berg in strahlendes Licht«

Und die Verfasser der Vita bezeugen abschließend: »Wir müssen wohl glauben, daß Gott durch diese Zeichen offenkundig machte, mit welcher Lichtfülle Er seine Geliebte im Himmel verherrlicht hat.«

Am 7. Oktober 2012 hat Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin (Doctor Ecclesiae universalis) erhoben.

Samstag, 13. März 2021

Hildegard von Bingen – Die Feder

Vielleicht denkt mancher, eine Visionärin sei eine in ihrem religiösen Elfenbeinturm Lebende, die wenig von den aktuellen Weltläuften erfahre. Weit gefehlt.

Der Briefwechsel Hildegards macht überdeutlich das prophetische Sprechen Hildegards in ihre Zeit hinein. Und dieses Sprechen ist von stupender Aufrichtigkeit, Geradheit und Unbestechlichkeit. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen.

1178, und also ein Jahr vor ihrem Tod, läßt Hildegard einen mutmaßlich exkommunizierten Adligen auf ihrem Klosterfriedhof beerdigen. Tatsächlich hat sich jedoch dieser Adlige vor seinem Tode durch den Empfang der Sakramente wieder mit der Kirche versöhnt. Da die Wiederaufnahme in die Kirche jedoch nicht offiziell stattgefunden hat, sondern lediglich im quasi privaten Rahmen, verlangt das Mainzer Domkapitel von Hildegard die Entfernung der Leiche aus der geweihten Erde.

Der Erzbischof von Mainz ist, als diese Auseinandersetzung beginnt, nicht in Mainz, sondern in Rom, und kann daher nicht eingreifen. Hildegard weigert sich standhaft, der ungerechten Anordnung des Domkapitels nachzukommen. Daraufhin wird die Kirchenstrafe des Interdikts über sie und über ihre Klostergemeinschaft verhängt. Das heißt im Klartext: Verbot der gottesdienstlichen Handlungen, Verbot der Sakramentenspendung, Verbot des Gesangs der Tagzeitenliturgie.

Die Beschneidung des klösterlichen Lebens konnte drastischer nicht sein. Bedenkt man allein die Tatsache, daß der tägliche Psalmengesang, der das benediktinische Klosterleben strukturiert und prägt, für Hildegard, die Schöpferin etlicher geistlicher Hymen und Antiphonen, zugleich geschuldetes Gotteslob wie musikalischer himmlischer Balsam für Körper, Geist und Seele ist, mag man die Grausamkeit der Maßnahme ermessen.

Die Replik Hildegards an die Mainzer Prälaten läßt an geistlicher Schärfe nichts zu wünschen übrig (was man, notabene, auch in Zeiten wie den unsrigen gut bedenken sollte): 

»Diejenigen also, die der Kirche in Bezug auf das Singen des Gotteslobes Schweigen auferlegen, werden – da sie auf Erden das Unrecht begingen, Gott die Ehre des Ihm zustehenden Lobes zu rauben – keine Gemeinschaft haben mit dem Lob der Engel im Himmel, wenn sie das nicht durch wahre Buße und demütige Genugtuung gutgemacht haben.«
Und dennoch: Hildegard ist bereit, den Schmerz des Verzichts zu leben, wenn es die Wahrheit verlangt. Sie ist zu keinem fadenscheinigen Kompromiß, erst recht nicht zu einer Lüge bereit (die Lüge nennt sie »das Laster der Unmenschlichkeit«). Und die Wahrheit, die nicht auslöschbar ist, setzt sich endlich durch. Nach Monaten schrecklicher Prüfung wird das Interdikt aufgehoben. Zeugen bestätigen, daß der Exkommunizierte tatsächlich im Frieden mit der Kirche verstorben ist; sogar der Priester, der ihm die Beichte abgenommen hatte, sagt zu Hildegards Gunsten aus.

Mit diesem letzten Kampf neigt sich das Leben der Äbtissin dem Ende zu. Ein Leben, welches bei aller Begnadung zugleich ein Leben der steten Angefochtenheit ist: »Ich (...) bin ständig von zitternder Furcht erfüllt. Denn keine Sicherheit des Könnens erkenne ich in mir.«

Sie weiß, daß sie die Arme ist, die ganz zu Gott hin Geöffnete, die alle ihre vorzüglichen Gaben nicht sich verdankt, sondern ihrem Schöpfer, in dessen liebender Umarmung sie sich aufhält: »Und so bin ich keineswegs durchtränkt mit einer menschlichen Wissenschaft, auch nicht mit besonderen Geisteskräften, strotze auch keineswegs von körperlicher Gesundheit, sondern fuße allein auf der Hilfe Gottes.«

Sie ist »eine kleine Feder«, die nicht aus sich selbst heraus fliegt, sondern im Windhauch Gottes sich bewegen läßt, so die wirklichkeitsgetreue Selbsteinschätzung der Äbtissin. Gott hat es gefallen, das Federchen zu berühren, auf »daß sie in Wundern emporfliege«. Oder wie es an anderer Stelle heißt: »Doch strecke ich meine Hände zu Gott empor, daß ich von Ihm gehalten werde, wie eine Feder, die ohne jedes Gewicht von Kräften sich im Wind dahinwehen läßt.«

Und das Federchen ist, auch dies gehört zur Selbstbescheidung, nur das Fenster, fenestrum. Wort und Werk der Seherin sind zu verstehen fenestraliter, sie sind nicht das Urlicht selbst, sondern öffnen gleichsam wie ein Fenster den Blick in die Mysterien der Schöpfung, sind durchlässig für das Licht von oben und durchscheinend auf IHN hin, der alles umfängt.

 

Mittwoch, 10. März 2021

Hildegard von Bingen – Die Ärztin

V.

Nach dem bisher Gesagten dürfte es einleuchten, daß dann, wenn von der Ärztin Hildegard und der ihr zugeschrieben Heilkunst die Rede ist, mehr auszusagen ist als ein plattes therapeutisches Konzept, dem es lediglich um die Instandsetzung kranker Funktionen geht.

Heilkunst ist Kunst des Heilens und also Lebenskunde. Alle Lebensbereiche sind im Blick der Benediktinerin, die gesamte materielle Welt als Reservoir des göttlichen Heilungswillens – Edelsteine, Steine, Metalle, Kräuter, Bäume, Pflanzen, Tiere – wird befragt, dies stets in der Haltung der discretio, der Unterscheidung, die für Hildegard Mutter aller Tugenden ist. 

Zu dieser Gabe des Unterscheidens gehört, sich einerseits nicht im Fragmentarischen zu verlieren, andererseits nie außer Acht zu lassen, daß der aktuelle Stand des Menschen ein gebrechlicher Zwischenstand ist (destitutio), nämlich zwischen dem verlorenen schönen Urstand (constitutio) und seinem Ziel der Wiederherstellung (restitutio).

Zu fragen hat sich der Kranke: Wie sinnvoll ist meine Lebensführung? Traue ich der guten Schöpfung, der lebensfrischen, nie versiegenden Grünkraft, die meine umfassende Gesundung will? Bin ich bereit, den Weg der Bekehrung und Buße zu gehen und mich und mein habituelles Unglück loszulassen und meine Wunden dem großen Arzt Christus – dem magnus medicus, dem Christus medicus - hinzuhalten und zu übergeben in der Überzeugung: »Heilig bist Du, der Du die eiternden Wunden reinigst.«? Oder, wie es in Scivias aus dem Munde Christi selbst heißt: »Ich bin der große Arzt für alle Krankheiten, und Ich handle wie ein Doktor, der einen Kranken sieht, der so sehr nach einer Medizin verlangt.«

Die Medizin, das remedium, will im wahren Wortsinn re-medium sein, Mittel, um den Menschen zurückzuführen in seine ursprüngliche Ganzheit. Naturkunde, Krankheitslehre, Diätetik, Anthropologie, Kosmologie und theologische Durchdringung verbinden sich in Hildegards Lebenskunde zu einem harmonischen Gefüge.

Für den Arzt bedeutet dies, so der  Medizinhistoriker Schipperges: 

»Krankheit wird nicht als ein pathogenetischer Prozeß beschrieben, sondern eher als Unterbleiben und Versagen, als ein modus deficiens, während Gesundsein als produktives Geschehen gedeutet wird, als creatio continua, eine permanente Zeugung aus dem lichten Grün der viriditas. Deshalb besteht auch das Ethos des Arztes nicht im Sanieren, sondern in der Barmherzigkeit, die man einem notleidenden Menschen entgegenzubringen bereit ist. In der Situation der Not ist es die Hilfe, die von der Barmherzigkeit getragen wird. Es ist die Gestalt der Barmherzigkeit, die denn allein auch der Erscheinung der Herzenshärte die gebührende Antwort zu geben vermag.«

Diese Gestalt der Barmherzigket spricht im Liber vitae meritorum, dem Buch der Lebensverdienste: »Ich aber, die Barmherzigkeit (misericordia), ich bin in Luft und Tau und in aller grünenden Frische ein überaus liebliches Heilkraut. Übervoll ist mein Herz, jedwedem Hilfe zu schenken (…) Den Gebrechlichen helfe ich auf und führe sie zur Gesundung.«

Hildegard selbst ist zeit ihres Lebens von Krankheiten heimgesucht. Sie weiß, was es bedeutet, krank zu sein und zu leiden, ein homo patiens zu sein. Diesbezügliche Äußerungen ihrerseits sind zahlreich; in der Vita II, 14 heißt es:

»Niemals habe ich geruhsam dahingelebt, sondern in vielfachen Trübsalen mich abgemüht (…) Gott verstrickte mich in so viele Unbilden, daß ich nicht mehr zu denken wagte, welch große Güte Er mir in seiner Gnade schenken werde, zumal ich sah, in welches Unglück die gerieten, die sich der Wahrheit widersetzten. Von der Trübsal und den Schmerzen, die ich durch die trockene Hitze zu erleiden hatte, wurde mein Körper so zusammengeknetet, wie wenn lehmige Erde mit Wasser zusammengemengt wird.«

Und in einem Brief an Wibert von Gembloux, ihren späteren Sekretär, schreibt sie: »Und ich werde durch Krankheiten stark gehemmt und oft derart in schwere Schmerzen verstrickt, daß sie mich zu Tode zu bringen drohen. Doch hat Gott mich bis jetzt immer wieder neu belebt.«

Die Gewißheit von Gottes Plan und die Begegnung mit dem Arzt Christus tragen sie letztlich durch alle Prüfungen, wie es anderer Stelle in der Vita heißt (II, 10): »Wären die quälenden Schmerzen, die ich an meinem Leibe erlitt, nicht von Gott gekommen, ich hätte nicht länger zu leben vermocht.«

Darum auch läßt sie sich von den Drangsalen nicht entmutigen, auch aus teuflischen Anfechtungen geht sie kraft der Gnade als Siegerin hervor, denn: »Obgleich ich auch durch dies gepeinigt wurde, so sprach, sang und schrieb ich doch in der göttlichen Schau, was der Heilige Geist durch mich verkünden wollte.«