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Samstag, 19. September 2020

Wagner, Proust und der dritte Mann

Proust verfaßt sein Werk in einem korkisolierten Zimmer. Das ist mehr als eine biographische Anekdote. Es zeigt den Künstler als kranken Magier, abgeschottet in seiner isolierten Kammer, in der der Zaubertrank gegoren wird, die kreisende Syntax, die den Leser hypnotisiert.

Prousts Zimmer ist bei Wagner längst zum Tempel mutiert. Bayreuth: Das große Musenkorkzimmer. Esoterisch. Megaloman. Abgehoben.
       
Es hängt mit der zeremoniellen Geste des Eingeweihten zusammen, daß man Tragisches bei Wagner und Proust vergebens sucht. Das Tragische setzt voraus, daß die leidende Person von dieser Welt ist und in dieser alltäglichen Welt den Konflikt widerstreitender Kräfte erfährt. Was aber nun, wenn die Personen in einer durch und durch artifiziellen Welt sich bewegen? Dann sind die Zusammenballungen weder tragisch noch erschütternd noch kathartisch, sondern konstruiert. Und das Konstruierte erschüttert nicht, sondern läßt genießen. Der Leser/Hörer wird zum Gourmet, entzückt ob des Raffinements der Konstruktion.

Siegmund und Sieglinde in der Walküre schwören sich die ewige Liebe und schmachten dementsprechend. Doch bei aller Inbrunst und der berauschenden Wagnerschen Musik (und so süß die Sinne mir zwingt) sollte der Hörer nicht vergessen, wer hier in der Brunst ist: Zwei Geschwister. Mit anderen Worten ein inzestuöses Paar, welches nicht dadurch seine Weihe erfährt, daß es Wagner zu Wälsungen stilisiert. Inzest bleibt Inzest. Und das konstruierte Liebesverhältnis ist, was es ist, ein anrüchiges, krampfhaft konstruiertes.

Proust seinerseits treibt die Konstruktion auf die Spitze, und dies in weitreichendem Maße. Je weiter die Recherche voranschreitet, desto mehr Akteure werden als invers demaskiert, so als sei der Proustsche Kosmos insgesamt ein invertierter. Doch auch dies ist kein objektiver Befund, sondern Konstrukt der sehr spezifischen Proustschen Phantasie.

Was sie beide können: Mit überfeinerten, brillanten Mitteln, ihr künstliches Panorama derart zu präsentieren, daß dem Leser und Hörer die Sinne schwinden. Prousts mäandrierende Syntax ist einem Malstrom nicht unähnlich, in dessen Verwirbelungen der Leser mogligleich dem Schlangenbeschwörer Proust verfällt. Und Wagners sirrender Sound, den Harnoncourt, Tristan betreffend, »die komponierte Unmoral« nannte, narkotisiert, bis der Hörer den Pomp an weiblichen Brustharnischen und allerlei anderem Popanz vergißt, denn die Klänge berauschen halt so schön, und der Ritter ist ein schmucker Schwanenritter, und die holde Isolde singt sich ohrenbetäubend zu Tode…

Überhaupt, die Narkose. Ihr geht es letztlich nicht um die Darstellung des Faktischen, sondern um das Schwelgen im subjektiven Extrem. Daß Wagner seine Libretti selbst verfaßt, liegt nicht daran, daß er ein so begnadeter Wortkünstler gewesen wäre. Vielmehr will er auch die Sprache so lange kneten, bis sie beiträgt zum babylonischen Turm, der perfekten Kunstblase. Also wird die arme Sprache gestriezt bis zum Gehtnichtmehr, maßlose Alliterationen werfen ihr Netz der Unsäglichkeit aus, bis in den wabernden Wogen des Weialaweia der wissende Wille erliegt. Und Prousts besessener Umgang mit den Details ist nicht der Suche nach Faktizität geschuldet, sondern dem Ehrgeiz des Egomanen, der jede kleinste Befindlichkeit benutzt, um die subjektive laterna magica in bengalischem Licht glitzern zu lassen.

Man kann es auch so nennen: Beiden, Wagner wie Proust, geht es um Verführung, um Verführung zum Subjektiven. In Prousts Sätzen geht man unter, denn das Proustsche Ich bläht sich bei zunehmender Lektüre auf die Weise auf, daß der Andere nur mehr Requisit ist in der Umlaufbahn Marcels. Und es soll Wagnerhörer geben (nicht nur Nietzsche), die irgendwann sagten: »Es reicht« und nie mehr Wagner hörten. Sie hatten genug von der sirenenhaften Verführungsmacht, die sie auszulöschen drohte. Von Verdihörern ist mir solche Askese nicht bekannt.

Ein Letztes: Beider quasi religiöser Anspruch. Bayreuth ist nicht nur ein Theater unter anderen, und Parsifal nicht nur eine Oper unter anderen. Weit gefehlt. Bayreuth ist der Musentempel, in dem die Bühnenweihfestspiele aufgeführt werden. Gott ist zwar tot, doch Pilger gibt es allemal. Nur wallen die neuen Pilger nicht länger in die Kirche, sondern auf den grünen Hügel. Und dort erwartet sie nicht das Sakrale, sondern das Surrogat, das sogenannte Gesamtkunstwerk.

Und Proust? Man weiß, daß die mittelalterliche Kathedralenarchitektur Proust Bewunderung abnötigte. Das Licht der Kathedrale. Die große Rosette. Das Maßwerk. Die Symphonie der Steine. Das vollendete Chartres. Also will die ehrgeizige Recherche gleichfalls Kathedrale sein. Eine Kathedrale aus Sätzen. Aber auch hier: Die Kathedrale bleibt innerlich leer. Es ist die säkularisierte Kathedrale, in der Gott abwesend ist. Das perfekte mondäne Museum.

Wer auf der Suche nach einem Zeitgenossen ist, der das exzentrische Tandem komplettiert, der wird in Österreich fündig. Thomas Bernhard heißt der dritte Mann.

Grafik: Pieter Bruegel der Ältere, Turmbau zu Babel (KHM, Wien). wikicommons


Freitag, 6. März 2020

Laurus

Vielleicht wird es in späteren Jahren über dieses Buch heißen, endlich habe mal wieder ein Autor den Mut gehabt, Natur und Übernatur wie selbstverständlich in Einklang zu bringen. Und in der Tat, es ist selbstverständlich, sehr selbstverständlich sogar, doch in verwirrten Zeiten, in denen eine grassierende Unkultur den Menschen einzementieren will in einer tristen immanenten Betonwelt, ein Desiderat

Vodolazkin ist Russe, wohnhaft mit seiner Familie in St. Petersburg. Und naturgemäß kommt ihm die literarische Tradition seiner Heimat entgegen, indem sie den Nachgeborenen nährt. Solowjow und Dostojewski und Gogol und Puschkin lassen grüßen. Und wie es nicht anders sein kann bei einem Russen, der aufs Ganze geht, sind die Themen da, die allein zählen: Schuld und Sühne, Liebe und Scheitern, Heil und Unheil, Krankheit, Pest, Tod und die Suche nach der Unsterblichkeit.

Der Leser wird mitgenommen auf eine mittelalterliche Queste, eine Suche der Leidenschaft und der Schmerzen. Der Held wird auf seinem Weg geliebt, gereinigt, gemartert, geprüft. Denn aus dem Menschenkind Arseni soll der Mitbürger der Heiligen werden.

Mancher ahnt, daß Vodolazkin bei dieser tour de force hätte abstürzen können in sentimentale, religiöse Peinlichkeiten. Aber weit gefehlt. Tatsächlich erzählt Vodolazkin mit schlafwandlerischer Sicherheit und Balance.

Ein Beispiel. Die Wallfahrt nach Jerusalem, mit dem Höhepunkt des Ankommens beim Heiligen Grab, bricht der Verfasser radikal ab, noch bevor das Grab erreicht wird. Denn der Sensationssüchtige wird nicht bedient, wohl aber derjenige, der sich sehnt, wie der Pilger Arseni sich sehnt. Warten ist eine Tugend. Geduld ebenso. Und wer brennend wartet und statt zu nehmen sich beschenken läßt, der wird erfahren, später, welches Gebet Arseni in der heiligen Stadt gebetet hat.

Während Vodolazkin nicht aufhört, unerhörte Begebenheiten aus den Jahren des Heils 1440 und folgende zu erzählen, weitet er zugleich den Blick - so als handele es sich bei den vergehenden Jahrhunderten um sich überlagernde und kreuzende geologische Formationen - in die Jetztzeit hinein, denn die Suche des Helden ist die Suche eines jeden, vorausgesetzt, Jedermann ist bereit zur Pilgerschaft der Endgültigkeit. Dazu gehört auch dies:

Eines Tages ist Arseni mit seinen Kräften am Ende. »Sogar die Hunde fliehen mich und wollen nichts mehr mit mir zu tun haben.« Die Winterkälte ist überall. Die Verlassenheit ist überall. Die Geliebte ist fern. Das Herz schlägt nur mehr schwach. Wozu weiter leben?

Und dann kommt ein wunderschöner Jüngling zu dem halb Erfrorenen.

»Sein Gesicht leuchtete wie ein Sonnenstrahl, in der Hand hielt er einen mit roten und weißen Blüten übersäten Zweig. Dieser Zweig sah nicht wie die Zweige der vergänglichen Welt aus, seine Schönheit war überirdisch.

Der Jüngling mit dem Zweig in der Hand fragte ihn:

Arsenije, wo bistu?

Ich sitze im Dunkeln, in eisernen Banden, an der Schwelle des Todes, antwortete Arseni.

Da schlug der Jüngling ihm mit dem Zweig ins Gesicht und sagte:

Arsenje, nimm hin das unbesiegbare Leben, das deinem Körper geschenkt wird, und seine Reinigung und Befreiung vom Leiden an dieser großen Kälte.«

Und Blütenduft zieht in Arsenis Herz. Blütenduft.

Das ist Vodolazkin. Das ist die Kunst, die wir brauchen.



Samstag, 5. Oktober 2019

JA

Der Titel der Erzählung lautet Ja.

Erstveröffentlichung 1978. Eine der späteren Auflagen kommt in schwarzer Buchhülle daher, darauf in gelb der nackte Titel: Ja.

Man muß kein Germanist sein, um zu wissen, daß die Vokabel ja eine der Affirmation ist. Die kürzeste Art der Bejahung überhaupt. Wer ja sagt, bejaht.

Das Heimtückische an Thomas Bernhards Erzählung besteht aber nun gerade darin, daß er seine Obsession der Auslöschung naturgemäß bis zur Übertreibung treibt. Selbst das Ja muß zunichte gemacht werden. Denn die Vokabel der Bejahung verkehrt Bernhard ins genaue Gegenteil, zum Kürzel der Annihilation. Die Erzählung endet mit den Worten: »(…) «daß ich sie, die Perserin, ganz unvermittelt und tatsächlich in meiner rücksichtslosen Weise gefragt hatte, ob sie selbst sich eines Tages umbringen werde. Darauf hatte sie nur gelacht und Ja gesagt.»

Manche mögen diese semantische Verdrehung eine Pointe nennen, manche einen genialen literarischen Coup. Tatsächlich ist sie – ante diem - die Abbreviatur der modernen Wirrnis. In einer Welt, die zunehmend das Oben nach Unten kehrt und das Unten nach Oben, in der das Gute böse genannt wird und das Böse sich als glitzerndes Gutes präsentiert, in einer Welt, die der Propaganda eher folgt als dem nüchternen, sachlichen Wort, in einer solchen kopfstehenden Welt wird systematisch das exerziert, was bereits Bernhards Titel vorgibt: Daß man den nackten Herzwörtern und ihren Inhalten zu Leibe rückt, bis von den lebensstiftenden Bejahungen nichts mehr übrigbleibt als die tödliche Verneinung. 

Wäre es nach Thomas Bernhard gegangen, hätte die optische Aufmachung des Buches seinerzeit wie folgt ausschauen sollen: Weißer Umschlag, schwarze Schrift, mit schwarzem Streifen unter dem Titel. Es wäre wie eine Trauer- Und Todesanzeige gewesen, so daß von Beginn an bis zum bitteren Ende der Leser gleichsam eingetaucht gewesen wäre in die suizidale Verdrehung.

Seit der Erstausgabe der Erzählung Ja sind über vierzig Jahre vergangen. Der Schock des ersten Lesens, damals, ist vermutlich heute keiner mehr. Denn der Anschlag auf das Ja, in welcher Ausprägung immer, zumal der Anschlag auf das Ja zum Leben, ist seitdem Standard und Mode. Und Bernhard wurde der verhätschelte Feuilletonliebling etlicher Anschläge. 

Und doch hat derselbe Bernhard, der in seiner Erzählung der Bejahung den Boden unter den Füßen wegzieht, am Beginn seines Ruhms (datiert 12. XI. 62), einen Text mit dem Titel Zwei Freunde geschrieben, der, erst posthum veröffentlicht, einen der beiden Protagonisten fragen läßt:  »(...)kann ein Mensch sein in jeder Beziehung? Und er bejate. Und er bejate das immer wieder damals (...)«.

Und er bejate.

Das ist der Bernhard, der es besser wußte. Damals. In der Freundschaft. 1962.

Samstag, 24. August 2019

Vango

Es ist eine mathematische Gleichung: Ein Buch für Kinder und Jugendliche ist dann und nur dann wirklich gut ist, wenn es auch ein Erwachsener mit großem Gewinn zu lesen vermag. Man mache die Probe mit Alice oder mit Emil oder mit dem Kleinen Hobbit oder mit Tom und Huck.

Oder mit Vango.

Timothée de Fombelle, der Verfasser des zweiteiligen Meisterwerks Vango (Teil I: Zwischen Himmel und Erde. Teil II: Prinz ohne Königreich) beherrscht die alte, schöne Kunst des Erzählens. Und die hat spannend zu sein, derart, daß der Leser mit Fieber und auch Bangen  wissen will, wie die Geschichte, die sich vor seinen Augen entrollt, enden wird.

Aber das ist nicht alles. Es genügt nicht, eine Fabel spannend und rhetorisch geschickt zu erzählen. Der gute Erzähler muß auch die guten Themen haben, die Themen, die jedes menschliche Leben angehen, die der gute Erzähler freilich so zu präsentieren weiß, daß sie das trockene, allzu menschlich-allgemeine Gewand ablegen und sich im Licht zeigen, im Licht der Kunst, die den dramatis personae gerecht werden und also wahr sein will.

Zum Beispiel: Wer bin ich?

Mithin die Frage nach der Identität des Einzelnen. Daß diese Frage keine nebensächliche ist, versteht sich von selbst. De Fombelles Buch ist befeuert von dieser Frage. Es ist die verzehrende Frage Vangos, damit zugleich die Frage nach dem geheimnisvollen Ursprung. Doch ist nicht jeder Ursprung geheimnisvoll?

Sodann die Frage nach dem Guten und dem Bösen. Dieser Frage kann kein Autor ausweichen. Eine der Hauptgestalten des Romans, der Mönch Zefiro, erlebt an einem Wendepunkt der Geschichte, »als er das Böse triumphieren sah«, die Versuchung, an der Macht des Bösen zu verzweifeln. Doch de Fombelle zeigt gleichfalls den Sieg über das Böse. Und es zeichnet ihn aus, daß er diesen Sieg noch im Untergang zeigt.

Und schließlich das Thema der Themen: Die Liebe. Gibt es die Liebe in einer Welt, in der getötet wird, in der die korrupte Macht regiert, in der ein Menschenleben wenig gilt? Gibt es, angesichts von Verwüstung und Verrat, die Liebe und die Treue und die Wahrheit und die Schönheit der erfüllenden Begegnung?

Am Ende von Vango ist der Leser beglückt. Wunderbar, wie die Fäden zusammenlaufen und der Gobelin sich enthüllt. Wunderbar, wie eine äußerst fruchtbare, frohe Fantasie - welche im übrigen die Tatsache widerspiegelt, daß, in den Worten Nietzsches, im echten Manne ein Kind versteckt ist, das spielen will - nicht dammbrechend über die Ufer tritt, sondern sich diszipliniert und zügelt, damit in dem opulenten Gemälde jedes Detail schließlich den ihm gebührenden Platz erhält. Und dies alles ohne krampfhafte Verbiegung, sondern in der spielerischen Kunst des Selbstverständlichen.

In einem Interview wiederholt de Fombelle mit insistierender Emphase, daß er versucht, nicht zu lügen. J'essaie de pas mentir.

Chapeau, Monsieur de Fombelle!

Donnerstag, 14. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge II


Es gehört zum Signum großer Kunst, daß sie es nicht dabei beläßt, Zeitläufe, zumal wenn diese Zeitläufe schreckliche sind, bloß abzubilden und sodann dem beschmutzten Leser zu überlassen, was er nun mit dem Schrecklichen, das ihm übergestülpt wurde, anfängt.

Große Kunst will zur Katharsis. Sie will zur Wahrheit, die befreit.

Bereits die formale Anlage des Romans Der Jüngling macht deutlich, worum es Dostojewski geht. Der Ich-Erzähler ist kein Daherredender, sondern im Grunde ein Beichtender. Seine Aufzeichnungen sind eine einzige große Konfession.

Zu dieser Konfession gehört, daß sie aufrichtig zu sein hat. Daß sie nicht verschleiert, sondern die Dinge beim Namen nennt. Das tut der Jüngling Arkadij Makarowitsch Dolgorukij.

Das deutsche Wort Aufrichtigkeit drückt es sehr gut aus. Die Vorsilbe auf gibt die Richtung vor. Derjenige, der wirklich aufrichtig ist, ist bereits auf dem Weg der Besserung, nämlich auf dem Weg des AUFwärts.

Es gäbe ja auch die falsche Alternative des Umdeutens. Die Dinge zwar zu zeigen, aber den Schrecken des Dargestellten aufzuhübschen zu einem notwendigen Prozeß, zur faszinierenden Chance, zum libertären Fortschritt.

In diese Falle läßt Dostojewski seinen Helden nicht gehen. Im Laufe des Romans gehen dem grünen Jungen mehr und mehr die Augen auf. Ihm wird der Star gestochen. Seine Illusionen, und dazu gehört auch seine stolze »Idee«, die ihm perfekte Autonomie sichern soll, werden ihm Schritt für Schritt genommen.

(Notabene: Man fühlt sich an die heilige Thérèse vom Kinde Jesu erinnert und deren Gebet, daß der Liebe Gott ihr sämtlichen Puder aus den Augen nehmen solle.)

Zu Beginn ist Arkadij noch nicht soweit. Aber sein Autor läßt ihn auf 800 Seiten so lange scheitern und irren und klagen und große Sprüche klopfen, bis er am Ende des Romans kein grüner Junge mehr ist, sondern, um in der angeschlagenen Farbensymbolik zu verweilen, ein erdbrauner Jüngling, einer, der mit beiden Beinen halbwegs auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.

»Sie sind«, so kommentiert in dem abschließenden Epilog des Romans, der weniger ironisch ist als man vielleicht landläufig meint, ein Bekannter die Aufzeichnungen des Jünglings, »Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie«.

Und besagter Kommentator gibt zu bedenken, daß ein zukünftiger Künstler für die Darstellung der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden werde und daß Arkadijs Aufzeichnungen in diesem Sinne verwendet werden könnten als Material für die neu zu schaffende schöne Form.

Das aber heißt, der Roman selbst ist letztlich die künstlerische Anstrengung, den Weg aus der destruktiven Unordnung frei zu machen. Dostojewski versucht das Chaos der zufälligen, zerbrechenden Familien in seinem Roman gleichsam apotropäisch zu bannen. Seine eigentliche Hauptperson ist nicht Arkadij, auch nicht dessen Vater oder der Pilger Makar, sondern die Wahrheit beziehungsweise die AUFdeckung der Wahrheit, die der verborgen-offenkundige Motor der Beichte des Jünglings ist.

Denn die Wahrheit bleibt da. Sie ist nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß nicht das Chaos, nicht die Destruktion, nicht die Unordnung zur Lebensfülle führt, sondern das sich Ausrichten an den nicht zufälligen, sondern an den sinnvollen, gültigen Gesetzen des Lebens, und zu diesen Gesetzen zählt, daß ein Land untergeht, wenn die Familien nur mehr zufällige sind.

Und da die Unordnung dermaßen fortgeschritten ist, zeigt Dostojewski ein Weiteres: Der je Einzelne muß beginnen. Denn zur Unordnung gehört auch dieses, daß es mehr und mehr nur mehr Vereinzelte gibt. Arkadij ist zu Beginn des Romans symptomatischerweise der Einzelgänger schlechthin, der sich verschanzt hinter seiner sogenannten Idee.

Doch mag der Einzelne noch so verwundet sein – und der Jüngling ist aufgrund seiner familiären Biographie ein zutiefst verwundeter –, es werden ihm, wenn er nur den Willen zur Wahrheit hat, anders gesagt, wenn er nur den Willen zur Wirklichkeit hat, wenn er diese Wirklichkeit nicht illusionär retuschiert, sondern seinsgemäß wahrnimmt, es werden ihm dann neue, heilsame Kräfte zufließen, die ihn, den Einzelnen, sowohl aus seinem sollipsistischen Gefängnis herausfinden als auch ineins damit zur Wahrheit echter Mitmenschlichkeit finden lassen.

Mit einem Wort: Die Zerrüttung wird aufhören. Die schöne Form wird keimhaft neu aufblühen.

Und wo bleibt die Liebe in dem Ganzen?

Die Liebe ist stets da, gleich wie die Wahrheit. Aber auch der Liebe muß man sich zu nähern verstehen. Denn der zerrüttete Mensch weiß nicht, was Liebe ist. Er hat Vorstellungen über die Liebe, Wünsche, Begehren, Leidenschaften. Das freilich genügt nicht. Wenn er jedoch bereit ist, sich durch den Anspruch der Wirklichkeit von seinen Zerrissenheiten reinigen zu lassen, wird er anfangen zu lieben. Wohlgemerkt: Anfangen.

Am Ende von Dostojewskis Roman gibt es, was nun nicht weiter verwundern dürfte, etliche solcher Anfänge.

Grafik:    Wassili Grigorjewitsch Perow, wiki commons.

Freitag, 8. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge I

Der Vater hat zwei eheliche und zwei außereheliche Kinder. Er lebt, als Witwer, zusammen mit einer Frau, die eigentlich mit einem anderen verheiratet ist, der jedoch seine Frau großzügig an den Witwer abgegeben hat und danach auf Pilgerschaft geht.

Der eine uneheliche Sohn, der Jüngling, liebt leidenschaftlich Katerina, die Tochter des alten Fürsten Ssokolskij. Sein Vater liebt leidenschaftlich dieselbe Frau. Die legitime Tochter des Vaters beabsichtigt den alten Fürsten zu heiraten, so daß sie – wenn die Ehe zustande käme – die Schwiegermutter ihres eigenen Vaters würde. Alles klar?

Nein, nichts ist klar in diesem späten Roman Dostojewskis. Anything goes wird es exakt 100 Jahre später heißen, ein nachgerade populär gewordener philosophischer Slogan, der einem Musical entstammte. Bei Dostojewski ist das philosophische Kürzel längst Wirklichkeit geworden, denn das wabernde Konturlose ist termitengleich überall am Werk.

Doch kein Musical entsteht, sondern bitterste Realität. Daß dazu wie selbstverständlich Selbstmorde gehören, versteht sich. Ein desillusionierter Revolutionär gibt sich die Kugel, eine sozial Deklassierte erhängt sich, ein Gauner erschießt sich gleichfalls.

Wo der Kern jedes sozialen Gefüges zerbricht – und dieser Kern ist die Familie –, dort zerbricht die Welt.

Das ist kein wohlfeiles Bonmot, sondern der auf 800 Seiten dargelegte Realismus in dem 1875 veröffentlichten Roman Dostojewskis Der Jüngling, neuerdings als Ein grüner Junge ins Deutsche übersetzt. Die Risse der zerbrechenden Welt sind überall. Und diese Risse sind keine nebensächlichen Blessuren, sind nicht euphemistisch herunterzuspielen, sondern werden von Dostojewski bis aufs Mark bloßgelegt.

Vielleicht zeigt nichts mehr den schonungslosen Chirurgen Dostojewski als die folgende Szene, die, dessen darf man gewiß sein, der russichen Seele des Autoren ein Letztes abverlangte:

Andrei Petrowitsch, der Vater des Jünglings, dieser zutiefst Zerrissene, der nicht umsonst von seinem Ich und von seinem Doppelgänger-Ich spricht, nimmt in einem Anfall gesteigerten Wahnsinns ein Heiligenbild, eine dem Russen so verehrungswürdige Ikone, um eben dieses heilige Bild mit aller Kraft an die Kante des Kachelofens zu schleudern, wo die Ikone in zwei Teile zerbricht.

Was bleibt, so die quälende Frage, die im Grunde auf jeder Seite in Dostojewskis Roman Der Jüngling sich stellt, wenn die Welt aus den Fugen gerät?

Dienstag, 6. September 2016

C’est la vie ?

Der Hund des Kommissars ist impotent. Die Frau des Kommissars hat Brüste mit Silikonimplantaten. Des Malers »ältester Weggefährte« ist sein Heizkessel. Olga, die schöne Russin, hat Beziehungen. Der Schriftsteller Michel H. hat Beziehungen und trinkt und wird ermordet. Und so weiter und so weiter.

Wohin man schaut in Michel Houellebecqs 400-Seiten-Roman Karte und Gebiet, grassiert die Tristesse, die freilich routiniert in Szene gesetzt wird. Wie man freilich als Rezensent einer einstmals berühmten deutschen Tageszeitung dahin kommt festzustellen, keiner beherrsche »die Entfremdung und Dekadenz unserer Epoche so genau und lustvoll wie Michel Houellebecq«, bleibt das Geheimnis des Rezensenten.

»Lustvoll«? – Davon ist Houellebecq meilenweit entfernt. Er zeigt vielmehr wie unter dem Seziermesser die Verwüstungen der Moderne oder auch Postmoderne, die allerdings bereits so alltäglich sind, daß sie normal sind. Über den Personen, über den Dingen, ja über der Welt in toto liegt der Schleier der Vergeblichkeit, und dieser Schleier ist, wie könnte es anders sein, grau. Das Glück ist weg. Gott ist weg. Was bleibt, sind Zuckungen, die Menschen halt so machen, wenn es gilt, die Leere zu füllen.

Denn die Leere muß gefüllt werden. Also sättigt sich der horror vacui mit Versatzstücken. Mit müden Reaktionen und Erinnerungen. Ein späterer Leser, falls es ihn noch gibt, mag sich denken: Ja, so muß es mal gewesen sein bei den letzten Erscheinungsformen der Gattung homo sapiens. Man lebte so dahin, das heißt man starb so dahin. Nichts Besonderes. Das Übliche halt. Nur ab und an ein seismographischer Ausschlag. Ein entsetzlicher Mord zum Beispiel. Aber genaugenommen paßt auch dieser in das Wachsfigurenkabinett der leblosen Postmoderne, das sich dreht und dreht und dreht, weil sich Karussells nun mal drehen. Und die Figuren drehen sich mit. Aber das drehende Karussell mit den lackierten Wägen und den grellbunten Kirmesfarben und den rotierenden Figuren dreht sich stumm. Denn das Karussell der Postmoderne, anders als die üblichen Jahrmarktsattraktivitäten, ist musiklos, freudlos. Da spielt noch nicht mal ein Leierkastenmann. Und das Ende ist kein Tusch, sondern der Triumph des leblosen Teppichs, der alles unter sich begräbt: »Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon«, so der letzte Satz des Romans.

C’est la vie, könnte man meinen und das Buch zuklappen.

Merkwürdig nur, daß Houellebecq selbst seinen seitenlang rotierenden Leerlauf durchkreuzt. Über sein im Roman auftretendes alter ego, den Schriftsteller Michel Houellebecq, der bestialisch ermordet wird, notiert er: »Zur Überraschung aller war bekannt geworden, daß sich der Autor der Elementarteilchen, der sein Leben lang einen kompromißlosen Atheismus vertreten hatte, sechs Monate zuvor (nämlich vor seiner Ermordung) in einer Kirche in Courtenay unauffällig hatte taufen lassen.«

Und merkwürdig schließlich, daß gegen Ende des Romans ein anderer der Protagonisten plötzlich radikal dreinschlägt in das tödliche Spinnwebnetz der dekadenten Entropie.

Jed, der Maler, fährt nach Zürich. Sein alternder, kranker Vater hat sich dort, bei dem berüchtigten Suizidunternehmen, die tödliche Dosis verabreichen lassen. Jed, der Sohn, will es genau wissen und sucht die Todesstätte auf. Er will die Akte seines Vaters einsehen, die man ihm widerwillig aushändigt. Und dann passiert’s. Nachdem er die Akte, die lediglich aus einem Blatt Papier besteht, der Funktionärin der Todesstätte wieder zurückgegeben hat, schlägt Jed zu. Er verpaßt der »Frau in hellem Kostüm« Ohrfeigen und Hiebe und Tritte, bis sie zu Boden stürzt. Dann verläßt er seelenruhig die Dignitas-Zentrale, wo, wie die Funktionärin zuvor vermeldet hatte, »die Prozedur«, sprich die Tötung von Jeds Vater, »ganz normal verlaufen« sei.

Das ist die unvermutete, gewalttätige Erregung Houellebecqs. Das Leben ringsum, so zeigt er auf Schritt und Tritt, ist nur mehr Abziehbild des Lebens. Eine Tätowierung unter anderen. Aber die Wahrheit, mag sie noch so sehr entstellt oder entleert oder auch unterdrückt sein, sie ist dennoch nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß der Mensch sich nach Leben sehnt – nicht nach Prozeduren, sondern nach wirklichem, echten, erfüllten Leben.

Grafik:   Jan Köhler / pixelio.de