Ein berühmter, bereits verstorbener polnischer Filmregisseur sagte anläßlich seiner akklamierten Filmtrilogie in einem Interview, er habe keine Antworten.
Das ist dürftig. Und es ist unwahr. Denn die sogenannte Antwortlosigkeit ist auch eine Antwort, halt eine dürftige.
Doch im modernen Feuilleton ist diese Antwort gern gesehen. Man attestiert ihr bereitwillig die Aura des Aufklärerischen, des Abgeklärten, des Existentialistischen, während sie tatsächlich bodenlos relativistisch ist.
Und der Relativismus zeigt sich. Im ersten Film der Trilogie sieht dies derart aus: Die Hauptdarstellerin – soeben durch einen Autounfall, bei dem ihr Mann und ihre Tochter ums Leben gekommen sind, Witwe geworden – streift durchs Leben. Mit einem der Mitarbeiter ihres verstorbenen Mannes verbringt sie eine Nacht, um ihn anschließend vor die Tür zu setzen.
Mit einer jungen Frau, die in ihrem Miethaus unter ihr wohnt, kommt sie in näheren Kontakt, es entwickelt sich eine Art Freundschaft. Besagte junge Frau ist Nutte und findet das gut so.
Der verstorbene Komponist, so entdeckt seine Witwe post mortem, hat seine Frau seit Jahren mit einer Juristin betrogen. Die Witwe will die fremde Frau, die ein Kind von dem Komponisten erwartet, kennenlernen. Am Ende des Kontaktes vermacht die Witwe ihr großbürgerliches Domizil der Juristin und dem noch ungeborenen Kind. Warum? Ihr Mann habe schließlich diese Frau geliebt.
Tja, Liebe ist offensichtlich alles. Der Slogan kommt einem bekannt vor. Dazu paßt dann auch noch, daß der Komponist vor seinem Tod an einem großen Werk mit Chor arbeitete, dessen Textgrundlage… na was wohl? … das Hohelied der Liebe des Apostels Paulus ist. In Griechisch!
Doch auch dieses bombastische musikalische Zitat ändert nichts an der relativistischen Struktur des Films. Die Frage ist, woher dieser Relativismus des polnischen Regisseurs, der die religiösen Quellen seiner Heimat durchaus kennt.
Und da sind wir bei der echten Antwort angekommen. Auch sie zeigt sich, denn die Wahrheit zeigt sich.
Etwa in der Mitte des Films kommt es zu einer weiteren Begegnung der Hauptdarstellerin, diesmal mit einem jungen Burschen. Man trifft sich in einem Café. Antoine, so der Name des Burschen, hat diese Begegnung gesucht, denn er war damals Zeuge des Unfalls. Und an der Unfallstätte fand er eine Halskette samt Kreuz. Diese Halskette will er der Witwe zurückgeben, denn schließlich gehört sie ihr.
Und was passiert? Die Witwe nimmt Kette und Kreuz nicht an, sie läßt sie Antoine und verläßt das Lokal.
Klarer könnte die Antwort nicht sein. Wer das Kreuz, welches absolut ist, zurückweist, der endet im Relativismus. Darüber täuschen weder träumerische Großaufnahmen noch betörende Filmmusiken noch cineastische Preise hinweg. Die Leere breitet sich aus. Die emphatisch beschworene Liebe ist letztlich eine schale, nichtssagende Vokabel unter anderen.
Zu den letzten Bildern des Films gehört in einem Reigen verstörender Momentaufnahmen auch der Blick auf den jungen Burschen, der weiterhin das Kreuz in Händen hält. Man kann nur hoffen, daß Antoine, als Zeuge im wahren Wortsinn, die Zukunft lebt, die der Regisseur ein und eine halbe Stunde lang verbarrikadiert.
Grafik: Photo by Sophia Sideri, unsplash.com
Samstag, 18. Juni 2022
Das Kreuz III
Samstag, 11. Juni 2022
Die Wahrnehmung
»Nur wer ein Auge dafür hat, sieht etwas Schönes und Gutes, in jedem Wetter, er findet Schnee, brennende Sonne, Sturm und ruhiges Wetter schön,
hat alle Jahreszeiten gern und ist im Grunde damit zufrieden,
daß die Dinge so sind, wie sie sind.«
Vincent van Gogh
Grafik: Van Gogh, Sternennacht. wikicommons
Samstag, 9. April 2022
Und die Wahrheit blieb da
1947 veröffentlichte der englische Lyriker W. H. Auden sein Werk The Age of Anxiety (Das Zeitalter der Angst), welches Berühmtheit erlangte.
Mittlerweile sind über siebzig Jahre vergangen, und, wie es scheint, könnte heute ein neues Zeitalter in Versen besungen werden, das Zeitalter der Fälschungen.
Ein gebürtiger Russe, der - polyglott - sich bestens auskennt sowohl im Osten wie im Westen, sagte in einem privaten Kreis dieser Tage, daß selbst er, als Russe, Mühe habe, eindeutig zu erkennen, was an russischen Verlautbarungen der Wahrheit entspreche.
Kein Wunder, denn wir sind in das Zeitalter der Fälschungen eingetreten. Dem vorausgegangen ist die Abschaffung der Wahrheit.
Dostojewskis bekanntes Diktum fällt einem ein: »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.« Man müßte ergänzen: Wenn es keinen Gott und also keine absolute Wahrheit gibt, dann herrscht die Fälschung und also das Zwielicht.
Es wäre allerdings verkürzt zu meinen, es ginge nur um Kriegspropaganda in einem aktuellen Konflikt. Der Krieg ist ubiquitär, und dies seit langem. Nur: Es gehört zu den forcierten Fälschungen, daß das ideologische Kriegsgeschehen, welches uns permanent überrollt, nicht als solches bezeichnet, sondern als Akt der Humanität verkauft wird. Was ist es zum Beispiel anderes als eine Kriegserklärung, wenn seit Jahren die Wahrheit schlechthin, die sprichwörtlich nackte Wahrheit, nämlich die unverrückbare Wahrheit des biologischen Geschlechts, als beliebig klassifiziert wird? Oder wenn jährlich ungeborene Kinder, deren wahres Antlitz im bildgebenden Verfahren des Ultraschalls sichtbar ist, millionenfach durch Abtreibungen getötet werden?
Alles fließt, so die neue Devise. Die Wahrheit ist nicht länger Fundament, sondern Treibsand. Die Konsequenz dieser Wüste ist, daß die conditio humana in die Fänge der Fälscher gerät. Einer der Propagandisten der perfekten Fälschungen fabuliert vom Menschen der Zukunft, die jetzt angebrochen sei. Der homo sapiens sei ad acta gelegt. Der Mensch sei nichts weiter als eine Maschine, die hackbar ist. Der zukünftige Homunculus als Cyborg.
Man wird an Nietzsche erinnert. »Ich erkenne dich wohl«, heißt es im Zarathustra, »du bist der Mörder Gottes! Laß mich gehn. Du ertrugst den nicht, der dich sah - der dich immer und durch und durch sah, du häßlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!«
Die Rache der Konstrukteure des neuen babylonischen Turms ist deutlich spürbar in der aggressiven Verbissenheit, mit der sie den christlichen Schöpfergott und jedes noch so entfernte Konzept von Wahrheit attackieren. Tabula rasa, so das Programm der Technokraten. Versprochen wird dafür das künstliche Paradies. Doch was wir tagein tagaus erleben, sind nicht die paradiesischen Beglückungen, sondern die faulen Früchte der Fälschungen.
»Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!«, so noch einmal Nietzsche.
Ist damit alles aussichtslos? keineswegs. Es bedeutet vielmehr, daß der Kampf um die Wahrheit im Zeitalter der Fälschungen härter und reiner wird.
Es tut gut, in diesem Zusammenhang die Vision des heiligen Nikolaus von Flüe zu bedenken, die Vision, die unter dem Namen Pilgervision bekannt wurde und die in souveräner Sicht die Wahrheit, der keine Fälschungen und kein Fliehen und keine Gebreste was anhaben können, aufstrahlen läßt. Darin heißt es:
»Ihm deucht im Geiste, daß ein Mann in Pilgers Gestalt zu ihm kam: Einen Stab in der Hand, den Hut hinten abwärts gekrempelt und im Mantel. Er kam von Sonnenaufgang, stand vor ihn hin und sang: Alleluia. Und als er sang, trug die Gegend seine Stimme; das Erdreich und alles, was zwischen Himmel und Erde war, unterstützten seine Stimme wie die kleinen Orgeln die Große. Drei vollkommene Worte kamen aus seinem Munde und endeten so genau mitsammen, wie die stark vorschnellende Feder in das Schloß schießt. Drei vollkommene Worte waren es; keines fiel mit den anderen zusammen und doch redete er nur ein Wort.
Als der Pilger diesen Gesang vollendet, bat er den Menschen um eine Gabe. Und plötzlich hatte dieser - weiß nicht woher - einen Pfennig in der Hand. Der Pilger zog den Hut und empfing den Pfennig darein. Und der Mensch hatte nie gewußt, daß es eine so große Ehrwürdigkeit sei, eine Gabe in den Hut zu empfangen. Der Mensch wunderte übel, wer der sei und von wo er käme. Und er stand vor ihn und sah ihn an.
Da hatte er sich verwandelt: Barhaupt war er jetzt, in blauem oder grauem Rock und ohne Mantel, ein so adeliger wohl geschaffener Mann, daß er ihn nur mit merklicher Lust und Begehr anschauen konnte. Sein Antlitz war gebräunt, so daß es ihm adelige Zier gab. Seine Augen schwarz wie der Magnet, seine Glieder so wohlgestaltet, daß es eine besondere Herrlichkeit an ihm war. Und obwohl er in den Kleidern steckte, hinderten diese nicht, seine Glieder zu sehen.
Und wie er ihn so unverdrossen ansah, heftete der Pilger seine Augen auf ihn. Da erschienen viele, große Wunder; der Pilatusberg versank in den Erdboden, und offen lag die ganze Welt, so daß alle Sünden in der Welt sichtbar wurden. Und es erschien eine große Menge Menschen und hinter den Menschen stand die Wahrheit, denn alle hatten ihr Angesicht von der Wahrheit abgewandt. Und es trat an allen ein großes Gebrest am Herzen zutage, so groß wie zwei Fäuste zusammen. Der Eigennutz war dieses Gebrest, der irrte die Leute so stark, daß sie des Mannes Angesicht nicht zu ertragen vermochten, so wenig ein Mensch die Feuerflammen erleiden kann. Und in grimmiger Angst fuhren sie umher und zurück mit großem Schimpf und Schand; er sah sie fern hinfahren. Und die Wahrheit - der Mann - blieb da.«
Grafik: Photo by Ben Allan on Unsplash
Samstag, 18. Juli 2020
Othello und Hercule Poirot
Eine platte Krimischriftstellerin war sie nie. Die Aufdeckung eines Mordes oder einer Serie von Morden ist, bei aller begreiflichen Spannung, mehr als ein banales who did it. Die Wahrheit soll ans Licht kommen, darums geht‘s Christie. Und selbst wenn die story noch so verzwickt und aussichtslos scheint – die Wahrheit, daran läßt die Autorin keinen Zweifel, ist stärker. Der Täter wird gefaßt.
Wer wissen will, wie leidenschaftlich Dame Agatha dem Dunkel auf den Leib rückt, um dem Licht der unbestechlichen Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, sollte den letzten der Hercule Poirot Romane lesen: Vorhang (Curtain). Hier stellt sich Christie in extremer Zuspitzung der Tatsache des Bösen.
Poirot, der Meisterdetektiv, sieht sich in seinem letzten Fall nicht konfrontiert mit einem Mörder unter anderen, sondern gleichsam mit dem mysterium iniquitatis, dem Bösen schlechthin, welches böse sein will und dessen Bosheit letztlich nicht aufhebbar ist in einer intellektuellen Spekulation oder gar Lösung.
Der Verbrecher ist vom Schlag eines Jago. Nicht umsonst gibt Shakespeares Othello und dazumal die Gestalt des Jago das Leitmotiv des Romans. Jago alias Stephen Norton, so der neue Jago in Christies Roman, ist der Drahtzieher im Hintergrund. Er stachelt an zum Mord, er ist der Hinterhältige, der Bösartige, der Fallensteller, der die tödlichen Schlingen legt, in welchen die unschuldigen Opfer sich heillos verlieren.
Norton wird schließlich von Poirot zur Strecke gebracht. Danach stirbt Poirot. Auch dies eine geniale Zuspitzung Christies. Denn die Konfrontation mit dem abgründig Bösen, mit dem Archetypus Kain, ist eine auf Leben und Tod. Poirot tötet Norton, wissend, daß sein Akt der Justiz auf die Gnade Gottes angewiesen ist (»Ich ziehe es vor, mich ganz in die Hände des bon Dieu zu geben. Möge seine Strafe oder seine Gnade mir rasch zuteil werden!«). Und wenig später ist er selbst tot. Seine Kräfte sind aufgezehrt. Die letzte Anstrengung ist zugleich die endgültige. Norton ist hingerichtet. »Das Loch in Nortons Stirn – es sah aus wie ein Kainszeichen...«, so endet Poirots finaler Fall.
Wie exakt die Moral Christies abläuft, wird ersichtlich, wenn man den Roman einer anderen Autorin zum Vergleich heranzieht, die gleichfalls einen Mörder ins Zentrum rückt. Gemeint ist Tom Ripley in Patricia Highsmiths gleichnamigen Romanen.
Im ersten Roman der fünf Ripley-Bände begeht der talentierte Mr. Ripley kaltblütig zwei Morde. An der Aufdeckung dieser Verbrechen ist Highsmith nicht interessiert. Der Mörder geht bezeichnenderweise am Ende des ersten Romans wie unbescholten davon, um weiterhin zu morden. Wahrheit? - Fehlanzeige.
René Clément, der 1960 den Roman unter dem Titel Nur die Sonne war Zeuge verfilmte, war dieses amoralische Ende offensichtlich zu arg. Alain Delon, der Ripley spielt, bleibt in Cléments Film am Ende nicht ungeschoren, sondern sitzt in der Falle, die zuschnappt. Er ist des Verbrechens überführt.
Highsmith selbst gestand: Sie stelle dar den »unzweideutigen Triumph des Bösen über das Gute, und ich freue mich daran.« Über Cléments moralisierenden Filmschluß äußerte sie sich abfällig. Ripley ist der Mörder, der weiter morden darf. Noch im letzten der Ripley-Romane entgeht er jeder Verurteilung.
Wie unerschütterlich anders Agatha Christie. An seinen Freund Colonel Hastings, der mit dem Meisterdetektiv den letzten Fall bestreitet, schreibt Poirot zu guter Letzt einen Brief, der posthum, nach Poirots Tod, den Fall bis in die letzten Details aufdeckt. Da heißt es, und wie könnte es anders sein: »Und deshalb schreibe ich Ihnen diesen Brief. Sie müssen die Wahrheit erfahren!«
Voilà, mon ami: Die Wahrheit.
Samstag, 12. Oktober 2019
Ich kenne im Leben
Den Vollzug der Wahrheit, Wahrhaftigkeit.«
Grafik: www.baden-baden.de
Freitag, 9. August 2019
Die Wahrnehmung
Wie geistreich und also im wahren Wortsinn aufschlußreich ist doch die Sprache.
Nehmen wir das Wort Wahrnehmung.
Das Wort drückt mehr aus als den bloßen physiologischen Sehvorgang. Das Wort will ins Bewußtsein heben, daß wir dann, wenn wir recht schauen, Wahres aufnehmen.
Damit wird zugleich ein dreifach Wesentliches einschlußweise zur Sprache gebracht. Erstens, daß die Wirklichkeit, die sich uns darbietet, erkennbar ist. Zweitens, daß diese Erkennbarkeit deswegen gilt, weil der absolute Logos keine sinnlose, a-logische Welt geschaffen hat, sondern eine, die, eben diesem Logos gemäß, den Gesetzmäßigkeiten des wahren Sinns folgt. Und schließlich drittens, daß wir, wenn wir uns diesem Erkenntnisvorgang stellen, zuallererst Aufnehmende sind.
Alle drei impliziten Feststelllungen sind, wenn wir es genau nehmen, heute Sprengstoff. Denn zum einen wird gerade dies – die Erkennbarkeit der Welt, ihr Erfülltsein von Wahrheit – permanent in Frage gestellt, geleugnet, aggressiv demontiert. Die Welt in toto gilt als Tummelplatz für menschliche Experimente, nicht als Vorgegebenes, welches darauf wartet, daß der Mensch es in demütiger Bereitschaft und Freude erkennt.
Das Naturrecht: Eine fade Illusion. Die Biologie des Menschen: Ein Konstrukt. Die Wahrheit: Eine Floskel beziehungsweise eine Mär für Hinterwäldler.
Und was soll endlich die Rede vom Empfangen und Aufnehmen? Der Mensch unserer Tage, der tagein tagaus die Errungenschaften einer omnipräsenten Technik vor Augen geführt bekommt, die ihm zumal als zugreifende, anpackende und dominierende Handhabe präsentiert wird, will im Reigen der technisch Überlegenen nicht als der Dumme dastehen, sondern gleichfalls ein Sieger sein, was in diesem Zusammenhang heißt: Ein Macher.
All diesen babylonischen Überstiegenheiten widerspricht die schlichte Schönheit des Wortes Wahrnehmung. Mensch, so sagt die Unaufdringlichkeit der Vokabel, leg‘ ab Deinen Übermut und wähle die Demut. Empfange zuerst, bevor Du zu bauen beginnst. Höre den Klang des Universums. Erkenne die wahre Schrift in den Dingen. Und preise den Creator der offenbaren und verborgenen Schriftzeichen. Werde weise!
Vielleicht kann der Scharfsinn eines Sherlock Holmes ein wenig weiterhelfen?
Am Beginn der Abenteuer des berühmten Meisterdetektivs gibt Holmes seinem Adlatus Dr. Watson die grundlegende Lektion.
Watson ist soeben die Treppe zur Wohnung seines Freundes hochgestiegen und sitzt ihm nun gegenüber. Aus dem zwanglosen Gespräch entwickelt sich schließlich der folgende Dialog:
»Sie sehen zwar«, so Holmes, »aber Sie nehmen nicht wahr. Der Unterschied liegt auf der Hand. Sie haben zum Beispiel regelmäßig die Stufen gesehen, die von der Eingangshalle zu diesem Zimmer heraufführen.«
»Regelmäßig.«
»Wie oft?«
»Nun, einige hundert Male.«
»Wie viele Stufen sind es also?«
»Wie viele? Das weiß ich nicht.«
»Allerdings nicht! Sie haben sie eben nicht wahrgenommen. Und gleichwohl haben Sie sie gesehen. Genau das ist der springende Punkt. Nun denn, ich weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie nicht nur gesehen, sondern auch wahrgenommen habe.«
Zu Beginn dieses bezeichnenden Dialogs sagt Dr. Watson zu Holmes, er sei überzeugt, daß seine, Watsons, Augen genau so gut seien wie die des Detektivs. Dem wird wohl so sein.
Nur, lieber Dr. Watson, um Fragen der Ophthalmologie scheint es hier nicht zu gehen.
Grafik: Sherlock Holmes und Dr. Watson. wikicommons
Freitag, 19. Juli 2019
Amen
Für Ch. D. H.
»Es ist nicht verständlich, eine unbezweifelbare Wahrheit erst noch erproben zu wollen.«
Miguel de Cervantes Saavedra
Samstag, 6. April 2019
Non consuetudo sed veritas
Vielleicht ist der Mann vierzig oder fünfzig oder älter. Weiß man nicht. Was man jedoch weiß, ist, daß er seit 38 Jahren krank ist, schwer krank. Und seit 38 Jahren wartet er auf Heilung.
An diesen Mann stellt der berühmte Arzt, der um die lange Krankheit des Darniederliegenden weiß, die Frage: Willst du gesund werden?
Soll das ein Witz sein? Der Mann ist ein Langzeitkranker. Der sieht seit 38 Jahren andere herumrennen und arbeiten und Feste feiern. Und ausgerechnet diesen Kranken fragt der berühmte Arzt: Willst du gesund werden?
Es ist kein Witz. Denn das Evangelium nach Johannes erzählt keine Witze, sondern wahre Geschichten. Und diese Geschichte steht zu Beginn des fünften Kapitels des Evangeliums.
Was also meint der Arzt Jesus, wenn er ernsthaft diese Frage stellt?
Läßt man die Frage wirken, so enthüllt sich das Gemeinte und damit die Berechtigung der Frage. Denn tatsächlich hat der Kranke genau dies zu wissen: Ob er wirklich gesund werden will. Wirklich.
Man denke sich einen alten Raucher, der seit fünfzig Jahren einen Glimmstengel nach dem anderen sich anzündet, der ein Lungenkarzinom hat und der gefragt wird, ob er gesund werden will. Ja, wird er vermutlich antworten. Wenn man ihn anschließend auffordert, die gehorteten Glimmstengel in den Abfallkübel zu werfen, wird er vermutlich entgegnen, das sei in der Bitte um Gesundung nicht eingeschlossen gewesen.
Das Beispiel zeigt, worum es geht.
Da der Mensch nicht nur Leib ist, sondern zugleich Seele und Geist, ist Gesundung kein partielles Geschehen, sondern ein ganzheitliches. Die tiefsten Krankheitsprozesse liegen freilich nicht im Leib, sondern im Geist. Und die geistigen Pathologien werden oft genug nicht erkannt, geschweige denn beim Namen genannt. Dies hängt damit zusammen, daß die Gewohnheit Rechte für sich reklamiert, gerade auch die kranke Gewohnheit. Und schließlich hält man die Gewohnheit, wenn sie nur durch die Zeit und das gesellschaftliche Komplizentum ausreichend zementiert worden ist, für eine berechtigte Gewohnheit, sprich für eine Wahrheit. Nur, wie bereits Tertullian feststellte, hat Christus nicht gesagt: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit (non consuetudo sed veritas).
Eine noch so tief verwurzelte Gewohnheit ist, wenn sie das Leben mindert oder schädigt oder zerstört, nicht als vermeintliche Wahrheit zu hätscheln, sondern zu verwerfen. Wer jedoch will das? Wirklich.
Was, wenn nach 38 Jahren ein Gedankengebäude, an welches man sich seit 38 Jahren klammert und welches man für eine Art zweite Haut nimmt, durch die Gesundung einstürzt? Will man das?
Denn die Frage: Willst du gesund werden? ist die Frage danach, ob man zu dem eindeutigen, tiefen, unverwechselbaren Ja kommen will, das jedes Leben erst zu dem macht, was es von Hause aus ist: LEBEN. Sagt man JA zu seinem Leben? Oder hält man, zumeist sehr subkutan, die Aber bereit und die Dementis und die Widersprüche, die im Letzten allesamt nein zum Leben sagen und damit das Leben schleichend vergiften?
Ja oder nein sind keine theoretischen Konstrukte. Da Ja ist sehr pragmatisch, das Nein gleichfalls. Denn beide Haltungen haben Konsequenzen. Paulus sagt es in aller gebotenen Eindringlichkeit:
Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündigt wurde - durch mich, Silvanus und Timotheus -, ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum rufen wir durch ihn zu Gottes Lobpreis auch das Amen (2 Kor 1,20).
Antworte ich auf die Frage Jesu mit Ja, dann entscheide ich mich damit für die Zustimmung zur Welt. Ich bin einverstanden. Einverstanden mit der Fundamentaltatsache, daß es Welt und also mich gibt. Und mehr noch: Damit, daß mein Leben kostbar ist. Immer.
Will ich diese Gesundheit? Das Ja zur Kostbarkeit meines Lebens?
Wenn ja, dann bin ich dort angekommen, wo der göttliche Arzt mich hinführen will: Zu dem Einverständnis, welches eine Form der Anbetung ist.
Darum auch setzt sich die Geschichte des Geheilten, die das Johannesevangelium erzählt, aus zwei Begegnungen zwischen dem Arzt und dem Patienten zusammen. Bei der zweiten Begegnung, nach der Heilung, sagt Jesus zu dem Geheilten: Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt.
Die Begegnung findet bezeichnenderweise im Tempel statt, also dort, wo Gott gepriesen wird. Und jetzt erfährt der Geheilte den Namen des Arztes. Dieser Name – Jesus - bedeutet übersetzt: Gott rettet, Gott heilt. Mit anderen Worten: Im Tempel, an der Gottesstätte, wird dem ehemals Kranken offenbart, daß in dem Arzt Gott selbst auf ihn zugekommen ist, um ihn gesund zu machen. Der Spender des Lebens hat ihn heil gemacht. Und dort, im Tempel, wird die Heilung bezeugt und besungen, denn im Gotteshaus ist das Ja zum Leben grundgelegt.
Und die Geschichte geht noch weiter. Offenbar hat der Geheilte das Wesen seiner Heilung verstanden, denn es heißt: Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, daß es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. Er weiß nun erstens um den Urheber seines wirklichen Lebens, und er weiß zweitens, daß er dieses Leben zu bezeugen hat. Denn das Leben, das wirkliche, will bezeugt sein.
Grafik: Pieter Aertsen, Heilung des Gelähmten von Bethesda. 1575, Rijksmuseum Amsterdam. wikicommons
Donnerstag, 21. März 2019
Veritas eius
In seiner Einführung in das liturgische Jahr schreibt Dom Prosper Guéranger OSB (1805 - 1875), wie die Kirche ihre Kinder in der Fastenzeit sieht; es heißt:
»Sie sieht sie als eine große Armee, die Tag und Nacht gegen die Feinde Gottes ankämpft. Daher nennt sie am Aschermittwoch die Fastenzeit die Zeit des Kampfes der Soldaten Christi. Um neue Menschen zu werden, die würdig sind, an dem himmlischen Gesang teilzunehmen, müssen wir in der Tat erst über unsere Feinde triumphiert haben: Über den Teufel, das Fleisch und die Welt. Verbunden mit unserem Herrn, der auf dem Berg gegen den Satan und eine dreifache Versuchung erfolgreich ankämpfte, müssen wir gewappnet und wachsam sein. Um uns in unserer Siegeszuversicht zu stärken, weist uns die Kirche auf den Psalm 91 hin, den sie zu den Meßtexten des ersten Fastensonntags zählt und dem sie für das Stundengebet dieses Tages einige Verse entnimmt.« (St. Ottilien, EOS Editions, Studien zur monastischen Kultur, Bd. 8, Sankt Ottilien 2014, 112).
Psalm 91 beginnt mit den bekannten Worten: Wer im Schutz des Allerhöchsten wohnt... Es ist der Psalm, der sonntags im Nachtgebet der Kirche, der Komplet, gebetet wird. Bevor der Tag zu Ende geht, gedenkt der Beter noch einmal der schützenden Hand Gottes, die ihn vor allen Gefahren behütet, und nicht nur das, die ihm auch die sichere Vollmacht gibt, selbst auf Löwen und Drachen und Nattern zu treten.
Zu Beginn dieses großen Gebets, im fünften Vers, stehen die Worte: Schild und Schutz ist dir Seine Treue, du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten.
Die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Bibel gemäß dem heiligen Kirchenvater Hieronymus, schreibt: Scuto circumdabit te veritas eius, non timebis a timore nocturno.
Wörtlich: Mit einem Schild wird dich Seine Wahrheit umgeben, du brauchst dich vor dem nächtlichen Schrecken nicht zu fürchten.
Der Beter des Psalms weiß, daß er tagein tagaus auf einem Kampfplatz sich befindet. Nicht nur nachts, sondern auch, wie ausdrücklich festgestellt wird, am Tag und zu Mittag. Es ist die Zeit der Dämonen und der dämonischen Angriffe.
Aber der Beter weiß auch dies: Daß er behütet ist, von Gott selbst und von Gottes Boten, den Engeln. Und was diesem Wissen das felsenfeste Fundament gibt, ist das, was der fünfte Vers benennt: Seine Wahrheit.
Weil Gott der Gott der Wahrheit ist, ist der Beter, der sich auf Ihn verläßt, nicht länger in der Gefahrenzone. Denn der Schild der Wahrheit beschützt vor dem eigentlich Abgründigen, vor dem, was jeden Anschlag zu einem potentiell tödlichen macht: der Abwesenheit der Wahrheit.
Der Gefährdete braucht nichts mehr als die Wahrheit. Er muß wissen, woran kann er sich wirklich festhalten, woran orientieren, was gilt wirklich, was ist Illusion, was Zuflucht und Burg und Unterkunft? Vage Auskünfte helfen demjenigen, der von vergifteten Pfeilgeschossen umgeben ist, nicht weiter. Die Natter der Lüge wird nicht besiegt durch verharmlosende Allerweltsrhetorik. Der Soldat Christi braucht die Wahrheit. Die Wahrheit, die den Drachen zertritt. Die Wahrheit, die die Furcht nimmt, zumal nachts, wenn es finster ist und folglich die Angriffe am heimtückischsten sind.
Und daß es diese Wahrheit gibt, ist bereits Sieg. Denn für den Beter des Psalms ist es unhinterfragt, daß es die Wahrheit gibt. Der neumodische Zweifel, der heutzutage zu einer taumelnden Tugend hochgejubelt wird, wäre dem Beter von Psalm 91 ein Greuel. Seine Wahrheit wird mich bergen. Das ist ein Indikativ und also eine Wirklichkeitsaussage, keine kritische Anfrage oder Nachfrage oder Hinterfragung oder wie die modischen Attitüden lauten. Es ist schlicht und einfach die gläubige Zuversicht dessen, der betet.
Grafik: Photo by Thomas Tucker on Unsplash
Samstag, 6. Oktober 2018
Wahrheit statt Gewohnheit
Von Marcel Proust, dem berühmten Autor der Recherche (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), gibt es eine kurze Skizze, in der er einen Konzertbesuch schildert. Nun wäre Proust nicht Proust, wenn nicht das Mondäne stets bei ihm mit von der Partie ist. Doch zu Prousts Begabung gehört gerade auch, daß er im Medium des Mondänen wünschelrutengängergleich plötzlich die moralische Lehre aufblitzen läßt, die alles Mondäne überschreitet.
Den ersten Teil des Konzerts hat der Erzähler verpaßt. Danach – Proust ist jetzt im Auditorium – gibt man Beethovens Fünfte Symphonie. Wie Proust das Andante und überhaupt die Wirkungen der Musik beschreibt, ist bestenfalls gefälliges Feuilleton; das muß uns hier nicht interessieren.
Doch dann notiert Proust, noch im Rausch des musikalischen Genusses, in seiner »essayistischen Erzählung« das Folgende:
»In diesem Augenblick hörte ich, wie ganz in meiner Nähe eine Dame zu einer anderen sagte: Möchten Sie ein Bonbon? Der Schmerz, den ich erlitt, war erfüllt von Mitleid, mit Mißstimmung, vor allem mit Erstaunen, daß unter so heroischen Bedingungen, da alle Interessen eines großherzigen Geistes gefesselt sind, jemand noch den gefräßigen Magen, den trägen Leib spüren konnte. Erst jetzt bemerkte ich, daß viele Zuhörer dem sanften Wiegen und dann den wollüstigen oder schrecklichen Suggestionen der Musik unzugänglich geblieben waren. Wir alle, die wir ihnen erlegen waren, kamen nur zögernd wieder zu Atem, als wir uns nach dem Konzert wieder im Freien befanden, und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.«Bei allem Unzulänglichen in Prousts Analyse der Kunstwirkung (z. B.: große Kunst macht den Empfangenden weder zum apathischen Erliegenden noch zum körperlosen Geistwesen) ist Prousts Fazit korrekt und kann nicht präziser formuliert werden: … und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.
Eben das macht die Kunst. Sie zeugt vom Wahren und vom Schönen, und da das Wahre und das Schöne Transzendentalien sind und also Seinsweisen, die das Begrenzte übersteigen, eröffnen sie letzthin den Weg zur Erkenntnis des einzig und vollkommen Wahren und Schönen, zu Gott.
Und Proust, der weiß Gott kein Theologe war, doch als Künstler dem Gespür des Künstlers nachzugehen verstand, zeigt zugleich die Machinationen des Menschen vis-à-vis des Großen, vis-à-vis der großen Kunst.
Da die große Kunst das Dürftige übersteigt und gnadenhafter Vorschein der wahren Heimat ist, neigt der Mensch dazu, diesen herrschaftlichen Anspruch der Größe kleinzureden oder ins Banale herabzuziehen – in den Genuß eines Bonbons.
Und selbst diejenigen, die das Moment des Großen und den Aufschwung der Seele in echter Weise erfahren haben, sind der lauernden Gefahr der Trivialisierung nicht entzogen. Bei ihnen besteht die Gefährdung darin, daß sie – was Proust gleichfalls seziert – nach einer göttlichen Atempause schließlich doch in der Weise sich weitertreiben lassen, als sei das soeben Empfangene nicht mehr als Gischt, die im Wellengang des Tageintagaus spurenlos versinkt:
»Doch bald nahm das Leben uns wieder in seinen Griff. Wir hatten beschlossen, in den noch offenen Louvre zu gehen; Leutnant S… erinnerte sich nach wenigen Minuten, daß er Besuche zu machen hatte, mein Bruder begab sich zum Tee in der Rue Royale, wo er hoffte, Madame*** zu treffen, und die anderen gingen ihre Seele verleugnen, einige, wohin sie Lust hatten, die meisten, wohin die Gewohnheit sie trieb.«Gewohnheit statt Wahrheit.
Da fällt einem die Weisheit eines frühen Kirchenschriftstellers ein:
»Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem, cognominavit – Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit«
Freitag, 28. September 2018
Leben oder Tod
Wer auch nur ein bisserl die sogenannten Hearings im amerikanischen Senat verfolgt, die seit Wochen die Nominierung des Juristen Brett Kavanaugh zum Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zum Thema haben, kann wie in einem Intensivkurs lernen, welches Thema Top 1 weltweit ist – es ist das Thema Leben und Lebensschutz, mit anderen Worten die pro-life-Agenda.
Und es gibt zwei Lager, die sich gegenüberstehen, und diese beiden Lager hat Johannes Paul II. für alle Zeiten gültig benannt: Das eine Lager ist die Kultur des Lebens, das andere Lager ist die Kultur des Todes.
Die letzten Wochen der Hearings zeigen nun eines in grasser Deutlichkeit: Die Verbissenheit und – man kann es nicht anders sagen – der diabolische Furor der Anhänger der Kultur des Todes, den Tod mit welchen Mitteln auch immer zu lancieren. Und dies ist keine metaphorische oder gar blumige Rede, sondern die nackte Realität.
Was fürchten die Apologeten der Kultur des Todes? Sie fürchten, daß dann, wenn Brett Kavanaugh tatsächlich als Richter des OGH der Vereinigten Staaten bestätigt würde, diese richterliche Erstinstanz nach Jahrzehnten zum ersten Mal mit Höchstrichtern besetzt wäre, die insgesamt eine pro-life-Mehrheit bildeten. Damit aber wäre die längst überfällige Revision des infamen Roe-versus-Wade-Urteils, welches 1973 die Abtreibung in den USA straffrei stellte, in Aussicht.
Nun verdienen jedoch, und das ist kein Geheimnis, etliche Firmen durch die Inkrafttretung dieses grundumstürzenden Urteils seit anno 73 sich eine goldene Nase. Zum Beispiel: Planned Parenthood of America, die Tochterfirma des internationalen Abtreibungskonzerns International Planned Parenthood Federation, macht jedes Jahr Millionen Dollar blutigen Umsatz durch die Abtreibung, sprich die Tötung von unschuldigen ungeborenen Kindern.
Ein einfaches Rechenexempel: 2009 führte PP laut eigenen Angaben 332,278 Abtreibungen durch. Durchschnittskosten pro Abtreibung: $468 (laut Guttmacher Institut). Totaleinkommen aufgrund von Abtreibungen: $155,506,104. In Worten: 155 Millionen. Totaleinkommen der PP Einrichtungen: $404,900,000.
Und wenn es darum geht, das Tötungsgeschäft weiter rollen zu lassen, dann sind den Abtreibungsbefürworten alle Mittel recht, auch die willentliche Vernichtung eines bislang unbescholtenen Kandidaten.
Was Kavanaugh in den Hearings über sich ergehen lassen muß, ist mit einem Wort ungeheuerlich. Das Neueste: Plötzlich tritt eine sogenannte Belastungszeugin auf und beschuldigt ihn der sexuellen Übergriffigkeit, die angeblich in seiner Gymnasialzeit stattgefunden habe. Sogenannte Zeugen, die die Anklägerin angibt, wissen von nichts. Nur, seit dieser Anklage geht Kavanaugh mitsamt seiner Familie durch die sprichwörtliche Hölle. Seine beiden Töchter bekommen online Todesdrohungen, er selbst wird plötzlich ohne jede Evidenz als Täter portraitiert, die liberalen Medien fallen über ihn her, so, als stünde das Urteil seit langem fest.
Und genau so ist: Das Urteil steht schon längst fest. Kavanaugh muß weg, denn es gilt um jeden Preis, die Agenda des Todes zu prolongieren. Wohlgemerkt: Um jeden Preis. Und wenn dabei Kavanaugh und seine Familie unter die Räder kommen, dann ist dies eine quantité négligeable, nach der kein liberaler Hahn kräht.
Und um das Maß voll zu machen, hat eine Untersuchung des Media Research Center gerade eben ergeben, daß die Abtreibungsgruppierungen, die maßgeblich hinter den Attacken gegen den Nominierten Kavanaugh stehen, millionenschwer von jemandem finanziert werden, der stets seine Finger im Spiel hat, wo die Agenda des Todes zur Debatte steht. Gemeint ist der Multimilliardär George Soros. Er unterstützt mit sage und schreibe 246 Millionen den Anti-Kavanaugh-Protest.
Ein Horrorfilm könnte nicht schauriger sein. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann im Herbst 2018 in aller nötigen Klarheit wahrnehmen, in welchem Kampf wir tatsächlich stehen. Lebensschützer wissen es eh. Es geht um nichts weniger als um Alles - um Leben oder Tod.
Grafik: Photo by Michal Bar Haim on Unsplash
Freitag, 13. Juli 2018
Der Elefant im Raum
Ein überaus wißbegieriger und neugieriger Mann geht ins Museum. Er notiert und notiert, was ihm so alles auffällt. All die putzigen, niedlichen Dinge, die ihm gefallen. Daraufhin verläßt der Mann das Museum. Eines hat unser wißbegieriger Mann freilich nicht aufgeschrieben, es ist ihm glattwegs entgangen – daß im Museum ein Elefant war.
Die Geschichte geht zurück auf den russischen Dichter Krylov, der in einer seiner Fabeln diesen Mann schildert. Seitdem ist der »Elefant im Raum«, zumal in den angelsächsischen Ländern, sprichwörtlich geworden.
Jetzt hat eine berühmte Kanadierin eben dieses geflügelte Wort in einer höchst außergewöhnlichen Situation in den Mund genommen.
Die Rede ist von der 44jährigen Mary Wagner. International bekannt wurde Wagner durch die von ihr initiierten und mittlerweile von anderen aufgegriffenen sogenannten red-roses-Aktionen. Was das ist?
Wagner geht in Abtreibungsstätten und verteilt dort an Frauen, die im Wartezimmer auf die Abtreibung warten, rote Rosen und bittet die Frauen, ja zu ihrem Kind zu sagen und gemeinsam mit ihr den Tötungsort zu verlassen.
Dann geschieht stets das Gleiche. Mary Wagner wird von herbeigerufenen Polizisten abtransportiert und vor Gericht gestellt. Inzwischen hat Mary Wagner etliche Gefängnisstrafen abgesessen.
In ihrem letzten Prozeß, in diesem Monat Juli, wurde nun Wagner erneut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Den zuständigen Richter bat sie vor der Urteilsverkündigung, nachzudenken über »den anderen Elefanten im Raum – jenes kleine, ungeborene Kind, welches laut kanadischem Recht kein menschliches Wesen ist.«
Tja, wie kommt es, daß das Alleroffensichtlichste nicht wahrgenommen wird?
Wenn man in Österreich bleibt: Wie kommt es, daß, wiewohl Abtreibung seit Jahrzehnten praktiziert wird und also Tausende und Abertausende von Österreicherinnen und Österreichern betroffen sind, das Thema »Abtreibung« weiterhin der Elefant im Raum ist?
Die eine Antwort lautet: Weil man das Schreckliche nicht wahrhaben will. Es ist wie bei kleinen Kindern. Diese machen in ihren Spielen die Augen zu, verdecken das Gesicht mit den Händen und wähnen, nicht mehr dazusein, unsichtbar zu sein.
Die Erwachsenen wählen die Tarnkappe des Verschweigens, im Wahn, der Horror sei damit verschwunden. Aber nichts ist verschwunden. Auch der Schmerz der Abtreibung verschwindet nicht dadurch, daß man das Verschwinden wünscht. Und auch Sünden – und Abtreibung ist schwere Sünde – lösen sich nicht in Luft auf, dadurch daß man sie verdrängt. Der Elefant ist weiterhin da. Die Wahrheit ist weiterhin da.
Und nicht nur das. Der Elefant, den man nicht wahrnehmen will, wird nicht kleiner, sondern größer. Und irgendwann wird er zu trampeln beginnen. In der Seele von Einzelnen wie in gesellschaftlichen Organismen. Das wird dann keinesfalls museal oder gar gemütlich sein. Und man kann nur hoffen, daß es dann Lebensretter gibt, die zur Stelle sind.
Donnerstag, 26. April 2018
Loslassen I
Grafik: Photo by Elijah Hiett on Unsplash
Freitag, 23. Februar 2018
Nimm, lies
Vor dieser Entscheidung steht der Held im Science-Fiction-Film Matrix, der nachgerade zum Klassiker des Genres mutierte.
Wer die blaue Pille schluckt, bleibt weiterhin der tumbe Sklave des Systems, wer die rote Pille nimmt – und natürlich nimmt der Held die rote Kapsel –, der wacht auf aus seinem Schlaf der Unwissenheit, ist nicht länger Sklave, sondern Freier, verläßt die Welt des Scheins und dringt vor ins Reich der Erkenntnis und des reinen Seins.
Kant läßt grüßen. Neo, so der Name des aufgeklärten Adepten, ist der postmoderne Kantianer, der es wagt, aus der Unmündigkeit den Schritt in die Taghelle des Bewußtseins zu setzen.
Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als um die Wahrheit. »Bedenke, alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, nicht mehr«, so der schwarze Mentor, der Neo die beiden verführerischen Pillen hinhält.
Tatsächlich ist dies der springende Punkt: Die Wahrheit. Was ist Wahrheit? Und wie komme ich zur Wahrheit? Und wie weiß ich, daß das, was ich finde, die Wahrheit ist?
1600 Jahre vor dem modernen Science-Fiction-Helden gibt es einen anderen Neo, der es wissen will. Er gehört zu den gescheitesten Männern seiner Zeit. Im Grunde kann ihm niemand das Wasser reichen. Er ist nicht nur ein blendender Rethoriker, er ist auch ein intellektuelles Schwergewicht. Die Menschen sind beeindruckt von seiner Brillanz und Schlagfertigkeit. Er gilt als der zünftigste Aufgeklärte seiner Zeit.
Und doch ist da in ihm ein kontinuierliches Unbehagen und eine Unruhe, die ihn treibt und treibt. Eigentlich hat er doch alles erreicht: Stellung, Ansehen, Wissen, Bewunderung. Woher die dennoch nicht auslöschbare Unruhe? Woher der andauernde innere Kampf?
Es muß ein Kind auftauchen, um den Knoten endgültig zu lösen:
»Auf einmal hörte ich aus einem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens wiederholt sagen: Nimm, lies, nimm, lies. Sogleich veränderte sich mein Gesicht, und ich begann, angestrengt darüber nachzudenken, ob Kinder bei irgendeinem Spiel etwas derartiges zu singen pflegen; doch ich entsann mich nicht, es je gehört zu haben. Ich dämmte die Tränenflut und stand auf, ich wußte keine andere Deutung, als daß Gott mir befehle, ein Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die ich als erste stieße.«Und der Zerrissene kehrt zu dem Platz zurück, wo er soeben noch in den Briefen des Apostels Paulus gelesen hatte. Und er schlägt aufs Geratewohl das heilige Buch auf. Und er liest den ersten Satz, der seine Augen trifft. Und es gehen ihm die Augen auf: »Weiter wollte ich nicht lesen, es war nicht nötig. Denn kaum hatte ich den Satz zu Ende gelesen, ergoß sich wie ein Licht die Gewißheit in mein Herz, und alle Schatten des Zweifels waren zerstoben.«
Es genügt nicht, die rote Pille zu schlucken, wenn man anschließend lediglich bei seinem Ich ankommt. Denn die Wahrheit ist mehr als dieses kleine Ich.
Die echten Neos verstehen irgendwann das Wesentliche: Daß sie von der Wahrheit gefunden werden. Und diese Wahrheit offenbart sich und zeigt in diesem Offenbarungsvorgang, daß sie von Ewigkeit her ist und daß sie Person ist und daß sie den Suchenden seit je umfängt.
Und derjenige, der gefunden ist, jubelt. Wie Augustinus. Und all die Anderen.
Freitag, 20. Oktober 2017
»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«
Beispiel 1
Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon wurde ein Bestseller. Zwei Millionen mal verkauft, schließlich mit Weltstar Jeremy Irons verfilmt.
Berichtet wird von einem Gymnasiallehrer, der sein Gymnasium plötzlich verläßt, um sein Leben neu zu leben. Bevor er geht, erinnert er sich noch einmal an seine Schüler, etwa an Sarah Winter. Von ihr heißt es lapidar:
»Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. ›Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin‹, sagte sie eine Woche später, ›es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.‹«
Beispiel 2
Per Olov Enquist, Das Buch von Blanche und Marie. Erzählt wird die semihistorische Geschichte von Blanche Wittmann (einer Patientin des berühmten Pariser Nervenarztes Charcot, des Lehrers von Sigmund Freud) und der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Geschichte zweier Frauen, die vor der Zeit das leben, was man später ein emanzipiertes, selbstbestimmtes Frauenleben nennen wird. Über Blanche heißt es:
»Aus dem Tagebuch geht hervor, daß Blanche schon als Sechzehnjährige befruchtet wurde. Ihr Vater, der Apotheker war und seine Tochter auf viele Weisen liebte, führte da, auf ihre eindringlichen Aufforderungen hin, eine Abtreibung bei der Tochter durch. Als er das Instrument in sie einführte, begann er, eine Melodie zu summen, die, wie sie glaubte, von Verdi stammte. Da hatte sie Angst bekommen, weil sie erkannte, daß auch ihr Vater, der ja nur in gewissem Maße für die Situation verantwortlich und am Ende gezwungen gewesen war, ihren tränenreichen Bitten und den Appellen an seine Vatergefühle nachzugeben, vor Angst außer sich war.«
Beispiel 3
Commissario Brunetti in seinem ersten Fall. Mitten in der Romanhandlung taucht die beiläufige Frage auf, welche Zeitungen man denn so liest. Darauf der Kommissar:
»(…) wir lesen L’Osservatore Romano«, erklärte Brunetti, indem er das offizielle Organ des Vatikans nannte, in dem noch immer gegen Scheidung, Abtreibung und den verderblichen Mythos der Gleichberechtigung gewettert wurde.«
Das soll genügen, es ist eh stets die alte, abgedroschene Leier.
Abtreibung, so der inszenierte Diskurs, ist, wie die amerikanischen militanten Abtreibungsbefürworter lauthals behaupten, no big deal. Eine Lappalie, und demensprechend lapidar abzuhandeln. Bei einem Täßchen Tee oder, Donna-Leon-like, als ätzender, geschickt plazierter Zwischendurchprügel auf die katholische Kirche. Und wenn von Angst die Rede ist, dann nicht, weil die Abtreibung als der Horror verstanden würde, der sie tatsächlich ist, sondern weil krude Vater-Tochter-Gefühle ins Spiel kommen, welche, ganz im Gegenteil, die Abtreibung zum väterlichen Liebesakt (sic!) der Tochter gegenüber pervertieren. Verdi inklusive.
Man versteht, wenn man diese Ungeheuerlichkeiten liest, besser, warum ein Platon die Dichter aus seinem idealen Staat verbannte. Denn der griechische Weise hatte erkannt, wie viel Macht in der literarischen Lüge liegt. Und eben dieses Lügen war dem Weisen zuwider, denn die Lüge, so war ihm klar, verdirbt den Menschen. Mit anderen Worten: Wenn Dichter, dann nur unter der Voraussetzung, daß sich der Dichter der Wahrheit verpflichtet weiß, ganz gemäß dem Wort der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann, anläßlich einer Preisverleihung: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«
Heute allerdings gehört die Lüge bereits zum sogenannten guten Ton. Abtreibung – na und? Mehr noch. Wer zum gesellschaftlich tonangebenden Zirkel dazugehören will, der muß auf jeden Fall in der Frage der Abtreibung sein Einverständnis signalisieren, und sei es auch nur in einem beiläufigen Schwenk. Dann, und nur dann, gehört auch er dazu.
Karin Struck ist da ein dekuvrierendes Exempel. In den siebziger, achtziger Jahren publizierte sie bei Suhrkamp, was einer literarischen Weihe gleichkam. Entsprechend akklamierend reagierte das Feuilleton. Die Autorin wurde als Mitbegründerin der Stilrichtung Neue Subjektivität beachtet, geachtet, gefeiert.
Dann jedoch machte Struck einen kapitalen strategischen Fehler. Sie begann, ihre Abtreibung zu thematisieren. Und dies nicht in rosaroten, sondern in grellen, nichts beschönigenden Farben. Damit hatte Struck ihr künstlerisches Todesurteil unterschrieben. Diese neue Subjektivität war schlicht und ergreifend verboten! Sie hätte einfach wissen müssen, daß das goldene Kalb der Abtreibung nicht angetastet werden darf.
Die letzten Jahre ihres Lebens, mittlerweile zur katholischen Kirche konvertiert, widmete Karin Struck dem Kampf gegen die Lüge, welche Abtreibung zu einer Errungenschaft stilisiert. Sie starb, nicht einmal sechzig Jahre alt, in diesem Kampf.
Freitag, 29. September 2017
Der Spiegel
»Denn die angstfrei verkündete Wahrheit, wie bitter und unverständlich sie anfangs auch erscheinen mag, bleibt für immer im Gedächtnis eines Menschen. Und sie wird ihm so lange den Spiegel vorhalten, bis er sie annimmt oder für immer verwirft. Beides liegt ganz und gar in der Hand des Einzelnen.«
(Aus der wunderbaren Neuerscheinung: Bischof Tichon Schewkunow, Heilige des Alltags, Sankt Ottilien 2017, 182. Das Buch gehört mit zwei Millionen verkauften Exemplaren in Rußland mittlerweile zu den Meilensteinen der zeitgenössischen geistlichen Literatur.)
Donnerstag, 14. September 2017
Der Jüngling oder: Ein grüner Junge II
Es gehört zum Signum großer Kunst, daß sie es nicht dabei beläßt, Zeitläufe, zumal wenn diese Zeitläufe schreckliche sind, bloß abzubilden und sodann dem beschmutzten Leser zu überlassen, was er nun mit dem Schrecklichen, das ihm übergestülpt wurde, anfängt.
Große Kunst will zur Katharsis. Sie will zur Wahrheit, die befreit.
Bereits die formale Anlage des Romans Der Jüngling macht deutlich, worum es Dostojewski geht. Der Ich-Erzähler ist kein Daherredender, sondern im Grunde ein Beichtender. Seine Aufzeichnungen sind eine einzige große Konfession.
Zu dieser Konfession gehört, daß sie aufrichtig zu sein hat. Daß sie nicht verschleiert, sondern die Dinge beim Namen nennt. Das tut der Jüngling Arkadij Makarowitsch Dolgorukij.
Das deutsche Wort Aufrichtigkeit drückt es sehr gut aus. Die Vorsilbe auf gibt die Richtung vor. Derjenige, der wirklich aufrichtig ist, ist bereits auf dem Weg der Besserung, nämlich auf dem Weg des AUFwärts.
Es gäbe ja auch die falsche Alternative des Umdeutens. Die Dinge zwar zu zeigen, aber den Schrecken des Dargestellten aufzuhübschen zu einem notwendigen Prozeß, zur faszinierenden Chance, zum libertären Fortschritt.
In diese Falle läßt Dostojewski seinen Helden nicht gehen. Im Laufe des Romans gehen dem grünen Jungen mehr und mehr die Augen auf. Ihm wird der Star gestochen. Seine Illusionen, und dazu gehört auch seine stolze »Idee«, die ihm perfekte Autonomie sichern soll, werden ihm Schritt für Schritt genommen.
(Notabene: Man fühlt sich an die heilige Thérèse vom Kinde Jesu erinnert und deren Gebet, daß der Liebe Gott ihr sämtlichen Puder aus den Augen nehmen solle.)
Zu Beginn ist Arkadij noch nicht soweit. Aber sein Autor läßt ihn auf 800 Seiten so lange scheitern und irren und klagen und große Sprüche klopfen, bis er am Ende des Romans kein grüner Junge mehr ist, sondern, um in der angeschlagenen Farbensymbolik zu verweilen, ein erdbrauner Jüngling, einer, der mit beiden Beinen halbwegs auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.
»Sie sind«, so kommentiert in dem abschließenden Epilog des Romans, der weniger ironisch ist als man vielleicht landläufig meint, ein Bekannter die Aufzeichnungen des Jünglings, »Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie«.
Und besagter Kommentator gibt zu bedenken, daß ein zukünftiger Künstler für die Darstellung der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden werde und daß Arkadijs Aufzeichnungen in diesem Sinne verwendet werden könnten als Material für die neu zu schaffende schöne Form.
Das aber heißt, der Roman selbst ist letztlich die künstlerische Anstrengung, den Weg aus der destruktiven Unordnung frei zu machen. Dostojewski versucht das Chaos der zufälligen, zerbrechenden Familien in seinem Roman gleichsam apotropäisch zu bannen. Seine eigentliche Hauptperson ist nicht Arkadij, auch nicht dessen Vater oder der Pilger Makar, sondern die Wahrheit beziehungsweise die AUFdeckung der Wahrheit, die der verborgen-offenkundige Motor der Beichte des Jünglings ist.
Denn die Wahrheit bleibt da. Sie ist nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß nicht das Chaos, nicht die Destruktion, nicht die Unordnung zur Lebensfülle führt, sondern das sich Ausrichten an den nicht zufälligen, sondern an den sinnvollen, gültigen Gesetzen des Lebens, und zu diesen Gesetzen zählt, daß ein Land untergeht, wenn die Familien nur mehr zufällige sind.
Und da die Unordnung dermaßen fortgeschritten ist, zeigt Dostojewski ein Weiteres: Der je Einzelne muß beginnen. Denn zur Unordnung gehört auch dieses, daß es mehr und mehr nur mehr Vereinzelte gibt. Arkadij ist zu Beginn des Romans symptomatischerweise der Einzelgänger schlechthin, der sich verschanzt hinter seiner sogenannten Idee.
Doch mag der Einzelne noch so verwundet sein – und der Jüngling ist aufgrund seiner familiären Biographie ein zutiefst verwundeter –, es werden ihm, wenn er nur den Willen zur Wahrheit hat, anders gesagt, wenn er nur den Willen zur Wirklichkeit hat, wenn er diese Wirklichkeit nicht illusionär retuschiert, sondern seinsgemäß wahrnimmt, es werden ihm dann neue, heilsame Kräfte zufließen, die ihn, den Einzelnen, sowohl aus seinem sollipsistischen Gefängnis herausfinden als auch ineins damit zur Wahrheit echter Mitmenschlichkeit finden lassen.
Mit einem Wort: Die Zerrüttung wird aufhören. Die schöne Form wird keimhaft neu aufblühen.
Und wo bleibt die Liebe in dem Ganzen?
Die Liebe ist stets da, gleich wie die Wahrheit. Aber auch der Liebe muß man sich zu nähern verstehen. Denn der zerrüttete Mensch weiß nicht, was Liebe ist. Er hat Vorstellungen über die Liebe, Wünsche, Begehren, Leidenschaften. Das freilich genügt nicht. Wenn er jedoch bereit ist, sich durch den Anspruch der Wirklichkeit von seinen Zerrissenheiten reinigen zu lassen, wird er anfangen zu lieben. Wohlgemerkt: Anfangen.
Am Ende von Dostojewskis Roman gibt es, was nun nicht weiter verwundern dürfte, etliche solcher Anfänge.
Samstag, 26. August 2017
Die Lügen der Abtreibungsindustrie
Die Lügen der Abtreibungsindustrie, die man kennen sollte, sind die immerselben.
Da ist zum einen die Lüge, das ungeborene Kind sei kein Kind. Es wird als Gewebe bezeichnet oder als Zellhaufen oder als irrelevantes biologisches Etwas.
Die Vermeidungsstrategien, die etwa Beraterinnen in Abtreibungsstätten beigebracht werden, sind aberwitzig. Sie sollen der Schwangeren gegenüber nicht vom Kind sprechen, sondern von der Schwangerschaft. Mit anderen Worten: Die Schwangere erwartet kein Kind, sondern eine Schwangerschaft, folglich wird ihr kein Kind durch Abtreibung getötet, sondern lediglich eine Schwangerschaft entfernt.
Die zweite Lüge besagt, daß Abtreibung konsequenzenlos ist. Die Uhr werde einfach zurückgedreht. Nach der Abtreibung kann das Leben, so die Lüge, weitergehen, als sei nichts geschehen.
Um diese Lüge zu widerlegen, genügt bereits ein kurzer Blick in eine x-beliebige entsprechende Internetseite, wo Betroffene von ihrer Abtreibung berichten. Da wird dem Lügner – hoffentlich – Hören und Sehen vergehen. Wer es lieber wissenschaftlich mag, sollte sich mal hier kundig machen über die desaströsen psychischen, physischen und mentalen Folgen von Abtreibungen.
Und die dritte Lüge gibt vor, Abtreibung sei sicher. Auch diesbezüglich reden die Fälle von verpfuschten Abtreibungen (tagein tagaus im Internet nachzulesen) eine klare Gegenrede.
Es gibt allerdings eine weitere Lüge im Abtreibungsgeschäft, die weniger offen auftritt als die oben angeführten, die aber im Grunde die perverse schlechthin ist. Es ist die Lüge, die der Abtreibung den hehren Anstrich der Freiheit verpaßt.
Dies geschieht, man ahnt es bereits, in einer Rhetorik der Zwielichtigkeit, der klandestinen Unterstellungen, der geschickten Suggestionen.
Im Amerikanischen hat sich als Slogan der aggressiven Abtreibungsbefürworter das Motto pro choice durchgesetzt. Damit wird insinuiert, daß nur derjenige, der pro Abtreibung votiert, zugleich derjenige ist, der für das Recht der Wahl und der Entscheidungsfreiheit eintritt. Der Abtreibungsbefürworter, im Klartext derjenige, der für die Tötung des Kindes plädiert, gilt als der souveräne Freie. Er ist so frei, noch über Leben und Tod entscheiden zu können.
Und wer steht dieser angemaßten souveränen Freiheit im Wege? – Das Kind. Folglich kommt das Kind in den vielbeschworenen pro-choice-Debatten erst gar nicht mehr vor, es ist noch nicht einmal Gegenstand des Interesses, es ist der Feind der Freiheit, über den es kein ernsthaftes Wort zu verlieren gilt.
Daß die so verstandene Freiheit, da sie losgelöst von jedem Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch daherkommt, ein Götze ist, wird verständlicherweise nicht gesagt. Es muß noch nicht einmal explizit betont werden, daß das Kind der Feind ist. Es genügt das Stichwort Freiheit oder auch nur die nebulöse Beschwörung der Freiheit durch oszillierende, verführerische Labels, damit das Goldene Kalb der pro-choice-Ideologie losstampft und alle Argumente niedertrampelt. Denn frei sein will doch jeder, oder?
Am Ende der Vergötzung offenbart sich das, was jeder Götze im Schlepptau führt: Das absolute Gegenteil von Freiheit – der Tod. Wortwörtlich für das ungeborene Kind, sprichwörtlich für die Frau, weswegen bezeichnenderweise ungezählte Frauen nach der Abtreibung davon sprechen, etwas in ihnen sei gestorben.
Das Gegenteil der Lüge ist die Wahrheit.
Die Lüge führt in die Knechtschaft, in die neuheidnischen Gefängnisse. Die Wahrheit führt ins Freie, ins Leben, wo die Luft zum Atmen ist. In den Worten Jesu: »Die Wahrheit wird euch frei machen« (Johannes-Evangelium 8,32) – die Wahrheit, nicht die Lüge.
Dienstag, 12. Juli 2016
Dirty Dancing. Dirty abortion
Der Blockbuster Dirty Dancing, ein Film, der Ende der achtziger Jahren weltweit die Kassen klingeln ließ und nicht nur unter Jugendlichen Tanzfieber auslöste, verharmloste ungeniert die Abtreibung als dummes, aus der Welt zu schaffendes Mißgeschick.
Die Tanzpartnerin des Hauptdarstellers (gespielt von Patrick Swayze) wird nach einer Affaire mit einem Studenten schwanger und treibt ab. Das Geld kommt vom Vater der neuen Tanzpartnerin, die für die durch die Abtreibung ausgefallene Tänzerin einspringt und sich im Verlauf des Films in Swayze verliebt. Die Abtreibung ist letztlich unwesentlich. Hauptsache der Tanz geht weiter und das neue Paar ist ein Paar.
Getanzt wird bis zum bitteren Ende, noch dann, wenn der Tanz ein Tanz auf einem Vulkan ist, der ein ungeborenes Kind unter rasanten Rhythmen unter sich begräbt. Und daß Patrick Swayze (der übrigens im Alter von 57 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb) nach diesem Film ein Star ist, versteht sich von selbst.
Hollywood und die Abtreibung. Das ist ein langes, trübes Kapitel. Auch in der Hinsicht, daß es nicht bei den Abtreibungen laut Drehbuch blieb, sondern daß die Abtreibungen das Leben von etlichen Stars ruinierte.
Ein frühes Beispiel unter so vielen anderen: Star Gary Cooper, bekannt etwa aus dem Westernklassiker High Noon, beginnt eine außereheliche Affaire mit der Schauspielerin Patricia Neal. Neal wird daraufhin schwanger. Um die prekäre Situation, die alle Beteiligten, zumal auch Coopers Familie, in Mitleidenschaft zieht, zu beenden, treibt Neal ab. Später, zu spät, bedauert sie.
Von Marilyn Monroe (Foto) ist bekannt, daß sie multiple Abtreibungen hatte und im Substanzenabusus endete. Lana Turner, Star im Douglas-Sirk-Klassiker Solange es Menschen gibt, trieb gleichfalls mehrere Male ab, weil die Hollywoodbosse sie aus Karrieregründen dazu nötigten. Der Abtreiber, so bekannte Turner später, tötete sie beinahe.
Oasis: Conversion Stories of Hollywood Legends (Autorin Mary Claire Kendall) erzählt in berührender Weise die Geschichte von 12 sogenannten legendären Hollywoodstars, die trotz des glitzernden Business’ der Filmindustrie zu ihrer Seele (zurück)fanden; darunter auch die verborgenen Geschichten dreier Stars, die an ihrer Abtreibung (ihren Abtreibungen) beinahe zerbrachen.