Freitag, 7. September 2018

Der Nachbar III


Mein Nachbar schwieg. Auf seinem Gesicht war keine Verbitterung, ich glaubte ein grenzenloses Erbarmen zu erkennen, das sich in einem angedeuteten Lächeln ausdrückte, welches mehr sagte als Kommentare und Zurechtweisungen. »Ich kürze ab«, nahm er die Rede wieder auf, »wozu Ihnen Wiederholungen des Immergleichen zumuten. Vielleicht ein Letztes. Der Magistratsbehörde hatte ich meine neue Sicht der Dinge mitgeteilt und gleichfalls um eine Arbeitsbewilligungsmaßnahme angesucht. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich könnte Sie Ihnen heraussuchen und zeigen, irgendwo habe ich sie in einer Schublade aufbewahrt. Mir wurde mitgeteilt, daß ich mich entscheiden müsse. Entweder ich sei blind geboren, dann hieße das, ich sei blind geboren, oder aber ich sei ein mit Sehkraft Ausgestatteter wie die überwiegende Mehrzahl der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen auch, dann hieße das, daß ich seit Jahrzehnten die Magistratsbehörde betrogen und hinters Licht geführt hätte, was zu meinen Gunsten niemand annehmen wolle, zumal ja in meinem Aktenmaterial Gutachten von staatlich anerkannten Ärzten die Tatsächlichkeit meiner fehlenden Sehkraft schwarz auf weiß attestieren würden. Ich könnte, wie gesagt, die Geschichte meiner Ausstoßung weiter ausführen, aber lassen wir es genug sein. Die Blindenpension, die mir seit Jahren gewährt wurde, wurde mir weiterhin gewährt. Meine Arbeit in der Blindenwerkstatt beendete ich. Durch eine Erbschaft meiner Tante mütterlicherseits, zusätzlich zu der bescheidenen Rente, war ich in der Lage, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich wäre in der ersten Zeit meiner Konversion vielleicht gescheitert, wäre mir nicht die Begegnung zuteil geworden, die meine Sehkraft für immer besiegelte. Das geschah folgendermaßen. Noch während de Winters, Ende Fever, und zwar am Rosenmontag, als in der Stadt der Karnevalsumzug durch die Hauptstraßen zog, war ich, der ich ignoriert hatte, daß es Rosenmontag war, vor den maskierten Gestalten und schreienden Auswüchsen in den auf meinem Weg liegenden Dom geflüchtet und dort, aus welchen Gründen immer, vielleicht um gänzlich abgeschnitten zu sein von dem Lärm, der bis in die hohe Halle des Domes drang, weitergegangen in die tiefer gelegene Krypta, wo ich zur Anbetungskapelle fand. Hier blieb ich, denn das Antlitz, das ich traf, hatte seit je auf mich gewartet, so als hätte ich immer schon gebetet: Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, so daß ich blieb, bis der Kustos bei einfallender Dämmerung die Türen verschloß. Und seit jenem Tage gehörte der Gang zur Krypta zu meinen täglichen geliebten Gängen.«

Ich erinnerte mich plötzlich. Einmal (wann war es gewesen?) hatte ich ihn im Hohen Dom gesehen. Ich war in den Dom gegangen, weil mich (ähnlich ihm) das Treiben in der Stadt, wo ich zur Buchhandlung war, ermüdet hatte, und der Dom war mir, wie ihm, die Zufluchtsstätte gewesen vor dem Lärm und der Zerstreuung. Ich war hinuntergestiegen in die Krypta des Domes, denn ich wußte, daß dort das Allerheiligste ausgesetzt war. Ich stieg die Stufen hinab, durchquerte einen Raum mit uralten Sarkophagen und betrat schließlich die Anbetungskapelle. Ein zweiter Beter war in der Kapelle, Ich hatte ihn nicht weiter beachtet. Ich kam mit meinen Gedanken und meinen Sorgen und brachte mein Leben dem Herrn. Aber irgendwann wendete ich meinen Blick zur Linken. Vielleicht war es deswegen, weil ich, der ich unruhig war und unfähig, still in meiner Bank zu knien, womöglich davon betroffen war, daß der zweite Beter in der Kapelle in äußerster Bewegungslosigkeit und Stille verharrte. Ich schaute zu ihm hinüber. Erst jetzt erkannte ich, daß der zweite Beter mein Nachbar war. Er bemerkte mich nicht, denn offensichtlich, was auch ein weniger Geschulter leichthin hätte feststellen können, war er versunken in die heilige Anwesenheit, die sich ihm darbot. Es ist nichts Mystisches, dachte ich mir, so erinnere ich mich. Es war, und dies war das Bestürzende für mich, die äußerste Selbstverständlichkeit, die ich erlebte. Die Versenkung des Nachbarn war nicht das Außergewöhnliche, sondern das Gewöhnliche. Er lebte den Alltag, nur das, aber dieser Alltag, hier unten im Steingemäuer der Krypta, verlangte seine ganze Zeugenschaft. Er war nicht abwesend, wie man vielleicht denken könnte, wenn man von Versenkung reden hört, er war vielmehr der wirklich Anwesende in der Kapelle, weil er sich von dem Ersten Anwesenden, dem ausgesetzten Herrn, mit hineinnehmen ließ in die nackte Gegenwart.

»Die Anbetung vollendete mein Sehen«, so er. »Hier erhielt ich meine Sendung. Denn nachdem ich bereits monatelang auf meinem Platz in der Kapelle niedergekniet war, hörte ich eines Tages die Worte: Geh in die Lokale. Ich verstand erst nach und nach. Und ich gehorchte. Hatte ich nicht selbst immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, meine Erfahrung zu bezeugen? Aber hatte ich nicht immer wieder auch die Erfahrung gemacht, daß meine Geschichte verworfen wurde? Einem Verlag, dem ich meine Geschichte unter dem Titel Das Antlitz in einem Manuskript mitgeteilt hatte, schrieb zurück, es sei als Roman zu schlecht erfunden und als Tatsachenbericht zu erfinderisch. Und doch hatte ich zeugen wollen. Aber wie? Die Antwort war einfach, wie letztlich alles sehr einfach ist. Die Sterneckstraße liegt in der Nähe des Bahnhofsgeländes. Dort reiht sich Amüsierlokal an Amüsierlokal, Bierlokal an Bierlokal. Wenn es sehr später Abend wurde, machte ich mich auf den Weg. Ich suchte die Lokale auf, nahm am Tresen oder an einem der Tische Platz und wartete auf das Weitere. Hier, in Räumen, wo der Lärm oft unerträglich war, wo die Luft zum Ersticken war, wo die Räume selbst im Grunde Gefängnisse waren, gab ich Zeugnis. Fremde setzten sich an meinen Tisch und wir kamen ins Gespräch. Andere Fremde luden mich auf ein Bier ein, und wir sprachen miteinander. Es konnte auch sein, daß ich einen ganzen Abend und eine ganze Nacht lang nichts sprach und somit der stille, sehende, unwiderrufliche Zeuge war. Es sind jetzt drei Jahre her, daß ich meine nächtlichen Gänge aufnahm, es begann am 14. September. Der Rhythmus ist unverändert geblieben seitdem. Aus der Anbetung gehe ich in die Dunkelheit. Ich gehe in der Dunkelheit los, ich gehe in die Dunkelheit hinein, und wenn der Morgen anbricht kehre ich in meine Wohnung zurück. Gestern sagte ich einem Dreiundzwanzigjährigen, der sich in dem Tanzlokal, dessen Wände allesamt mit schwarzer Lackfolie ausgekleidet sind, an meinen Tisch setzte: Unsere Heimat ist im Himmel, und der Dreiundzwanzigjährige begann zu weinen.«

Ich habe meinen Nachbarn die folgenden Monate nur selten gesehen, mal bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt, mal im Haus. Wir wechselten jedes Mal ein paar Worte, aber es kam nie zu einem ausführlichen Gespräch. Ich hatte den Eindruck, er versteht mich und ich verstehe ihn. Es war im April des darauffolgenden Jahres (April the cruellest month), einem Karsamstag, als es an meiner Wohnungstüre klingelte und ein mir Unbekannter mir ein Paket überreichte mit den Worten, dies sei von meinem Nachbarn, an mich adressiert, und hiermit würde es mir übergeben. Auf mein Unverständnis und Nachfragen hin erfuhr ich folgendes: Mein Nachbar war in der Frühe des Dienstags gestorben. In der Nacht zuvor war er auf dem Nachhauseweg in der Nähe des Bahnhofs von einem betrunkenen Wagenlenker angefahren worden und Stunden später im Spital an seinen inneren Blutungen verstorben. Das Paket, das an mich adressiert war, aber nicht aufgegeben worden war, hatte mich dennoch erreicht, denn, wenn ich mich recht erinnere, war es der Cousin des Verstorbenen, der die Wohnung meines Nachbarn auflöste, der das Paket bei den Aufräumarbeiten gefunden und zu mir gebracht hatte. Ich bedankte mich, stammelte ein paar Worte und zog mich in mein Zimmer zurück. Es war furchtbar still. Ich tat nichts, ich saß einfach in meinem Sessel. Als ich die Kordel, die das Paket einschnürte, löste, schien es mir, als würde ich Schnüre lösen, die zu einer Unendlichkeit gehörten und die in der Unendlichkeit geknüpft worden waren. Das Paket enthielt drei Dinge. Obenauf lag eine Photographie. Sie zeigte meinen Nachbarn, an einem Sommertag. Er schaute mich, den Betrachter an. Ich habe nie geradere Augen gesehen. Unter der Photographie befanden sich vier CD’s. Auf jeder einzelnen stand geschrieben: Das Johannesevangelium, dann folgten unterschiedliche Kapitel- und Verszählungen. Ich nahm die CD’s in meine Hände. Die Tränen liefen mir die Wangen hinab. Bei unserer Begegnung in seinem Zimmer, damals, im September, hatte mein Nachbar, als er mich ins Vorhaus brachte, wo wir uns verabschiedeten, zum Schluß, bevor er die Türe hinter mir schloß, noch gesagt: »Das Licht leuchtet in der Finsternis, nicht wahr.« Ich hatte ja gesagt, dann war ich weiter, die Stiegen hoch, in mein Zimmer. Und ich nahm den dritten Gegenstand aus dem Paket. Er war in Zeitungspapier eingewickelt. Es war sein Mauskript, sein abgelehntes Manuskript. Es ging auf Mittag zu. Von ferne hörte man die hölzernen Klappern. Ich begann zu lesen. »Mein Nachbar. Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen… «