Samstag, 29. Juni 2019

Die sonderbaren Bewegungen


Was wissen wir über den Anderen? Was wissen wir wirklich? Wie tief reicht unser Wissen? Was wissen wir von der Geschichte des Anderen, seinen verborgenen Kämpfen, seinen Niederlagen, seinen Siegen, seinen Verwundungen?

Ludwig Wittgenstein (1889-1951), der nachgerade weltberühmt gewordene österreichische Philosoph, hat oft genug, was bezeugt ist, Menschen vor den Kopf gestoßen. Das konnten Familienangehörige sein, Freunde, Zufallsbekanntschaften, wer immer.

Daß er, um den Titel eines Zeitgenossen des Philosophen zu bemühen, ein Schwieriger war, ist unbestritten. Er selbst hat in Aufzeichnungen, Notizen oder Briefen zum Ausdruck gebracht, wie er sich abmühte in seinem Leben, um nicht zu sagen, wie er sich quälte.

Drei seiner Brüder enden durch Suizid. Ein vierter Bruder ist zeitweilig selbstmordgefährdet. Ludwig selbst, jüngstes der Wittgensteingeschwister, zieht immer wieder den Suizid in Erwägung, nach eigenem Geständnis bereits als Zehn-, Elfjähriger.

Das Leben ein Krieg. Diesen Eindruck gewinnt man oft genug, wenn man in seinen Aufzeichnungen liest oder Näheres über sein Leben erfährt. Daß er schließlich im tatsächlichen Krieg, dem Ersten Weltkrieg, sich freiwillig meldet, verwundert nicht, denn der militärische Kampfplatz ist ein willkommener Platz, um dem Tod zu begegnen: »Ich fürchte mich nicht davor, erschossen zu werden«, heißt es im Tagebuch. Und an anderer Stelle: »Wir sind in unmittelbarer Nähe des Feindes (…) Jetzt wäre mir die Gelegenheit gegeben, ein anständiger Mensch zu sein, denn ich stehe vor dem Tod Aug in Aug. Möge der Geist mich erleuchten.« Der Tod auf dem Feld wäre anständig, der Selbstmord ist, so er, »immer eine Schweinerei«.

Was wissen wir über einen Anderen? Über den Mitmenschen?

Die nächsten Familienangehörigen Ludwigs stehen öfters vor einem Rätsel. Warum handelt Ludwig so, wie er handelt? Warum verzichtet er auf sein Vermögen und begeht, gemäß den Worten des betreffenden Bankdirektors, »finanziellen Selbstmord«? Warum verdingt er sich – er, der Hochbegabte - , nachdem er aus Krieg und Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist, als Volksschullehrer in niederösterreichischen Käffern? Muß das sein?

Seine Schwester Hermine berichtet darüber in ihren autobiographischen Notizen. Da heißt es:
»Seinen zweiten Entschluß, einen ganz unscheinbaren Beruf zu wählen und womöglich Volksschullehrer auf dem Lande zu werden, konnte ich selbst zuerst gar nicht verstehen, und da wir Geschwister uns sehr oft durch Vergleiche miteinander verständigen, sagte ich ihm damals anläßlich eines langen Gesprächs: Wenn ich mir ihn mit seinem philosophisch geschulten Verstand als Volksschullehrer vorstellte, so schiene es mir, als wollte jemand ein Präzisionsinstrument dazu benützen, um Kisten zu öffnen.«

Auf diese Vorhaltung der Schwester hin antwortet Ludwig:
»Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält.«

Diese Antwort trifft.

Wie oft urteilen wir und halten unser Urteil für hinreichend, ja selbst unfehlbar? Doch unser Urteil hat sich nie die Mühe gemacht, den »sonderbaren Bewegungen« desjenigen, den wir beurteilen, wirklich auf den Grund zu gehen. Wir sind irritiert, das Sonderbare oder Unverständliche stört uns, und wir reagieren als Gestörte, die es vorziehen, ein wohlfeiles Urteil abzugeben und so gleichsam uns selbst vor dem Mißliebigen zu imprägnieren, ohne darüber nachzudenken, daß wir im Sicheren sitzen, im Geschlossenen, in der warmen Stube, während der Andere sich gerade im offenen Sturm befindet. Und die schlimmsten Stürme sind nicht die winterlichen, sondern die seelischen.

Zu entgegnen: Mit dieser Argumentation wäre jedes Fehlverhalten eines Anderen entschuldbar, ist eine Erwiderung, die das Gemeinte verfehlt. Denn es geht hier nicht um Entschuldigungen, sondern um etwas, was jeder Begegnung zuvorliegt: Der Wille zum Wohlwollen.

Bin ich bereit, so viel an Wohlwollen aufzubringen, daß der Andere nicht zuallererst das Urteil erfährt, sondern die Annahme? Die prinzipielle Annahme. Erst dann, wenn diese Annahme gegeben ist, ist überhaupt Gespräch, Begegnung und auch Urteil möglich. Denn das Urteil steht nicht am Anfang, sondern – wenn es notwendig ist – im Danach.

Grafik: Ludwig Wittgenstein, 1929. wikimedia.org/public domain

Freitag, 21. Juni 2019

Die Welt von heute


Wenn eine Nation zerbricht, dann geschieht dies nicht von ungefähr. Das Zerbrechen hat seine Ursachen. Und die ersten Ursachen sind nicht die politischen oder ökonomischen, sondern die moralischen. Wenn eine Nation sittlich verlottert und also den Blick für das Wesentliche verliert, dann ist ihr Untergang nur mehr eine Frage der Zeit.

In seinem posthum erschienenen autobiographischen Werk Die Welt von gestern notiert Stefan Zweig (1881-1942):

»Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blaß und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete (gemeint ist eine Geschlechtserkrankung, vor allem Syphilis), der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen (auch hier ist auf die Geschlechtskrankheit angespielt), der vierte, weil er nicht wußte, wie die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen worden war und er nicht wagte, die Anzeige zu machen.«

Zweigs Erinnerungsbuch widmet sich zumal Wien und der k. u. k. Zeit. Die Pseudomoral sieht er partout, zieht freilich aus dem Befund das fatale Fazit, als sei es im Grunde damit getan, das Pseudo zu streichen, um solcherart zur Genesung fortzuschreiten, so als wäre die Urgewalt des Eros mühelos zu bewältigen, wenn man ihn nur frei und ungezwungen, mit einem Wort humanistisch walten läßt.

Joseph Roth, Zeitgenosse Zweigs, kann einen eines Besseren belehren, gleich, ob man sich den Radetzkymarsch oder Die Kapuzinergruft zu Gemüte führt. Roths Helden sind allesamt humanistisch Gebildete. Aber was sagt das schon, wenn ihr Humanismus gleichsam leere Staffage ist, die – so am Ende des Radetzkymarsches – den jungen Trotta dahin bringt, daß er am Grab eines Gefallenen nicht einmal mehr das Vaterunser als letzte Zuwendung zuwege bringt?

Eine Zeit, die sich ihrer humanistischen Attitüde rühmt, ist kein Bollwerk gegen gleich welche Verführung, geschweige denn vermag sie der sittlichen Verwahrlosung zu wehren. Die Tage einer solchen Zeit sind gezählt und zu leicht befunden. Wenn Zweig, erwachsen geworden, im selben Erinnerungsbuch die jungen Menschen, die er nun erlebt, als »antikisch frei« verklärt, fern jeder Verklemmung, so als hätten diese jungen Menschen endlich die Bürde der Pseudomoral abgeschüttelt, dann ist dies bestenfalls eine Sottise.

Er hätte dazu nur die Geschichte einer österreichischen berühmten Familie studieren brauchen, um zu sehen, wie brüchig der hochgerühmte Humanismus und die ebenso hochgerühmte Kultur sind, wenn Allzumenschliches als Herausforderung auf einen zukommt.

In der Familie Wittgenstein, einer der reichen und angesehensten Familien der k. u. k. Zeit wie der darauffolgenden Jahrzehnte, geschieht 1931 und also bereits nach dem Zusammenbruch der Monarchie und ihrer von Zweig konstatierten Pseudomoral folgendes Hausdrama:

Der berühmte Pianist Paul Wittgenstein hat eine seiner Schülerinnen, die einundzwanzigjährige Bassia, geschwängert. Was tun? Das Normalste wäre, dazu zu stehen, zumal die finanziellen Mittel der überaus vermögenden Familie mehr als ausreichend sind, um die junge Frau zu unterstützen.

Aber es kommt anders. Die Schwester Pauls, Gretl, die berühmte Margaret Wittgenstein-Stonborough (von Klimt porträtiert), organisiert, gegen den Willen der jungen Mutter, die eigentlich das Kind behalten will, eine Abtreibung. Das Problem wird damit, wie man so sagt, aus der Welt geschafft. Später wird die junge Frau Gretl beschuldigen, sie zur Abtreibung gezwungen zu haben, und etwa ein Jahr nach der Abtreibung ist die junge Frau tot, gestorben an einem nach der verpfuschten Abtreibung aufgetretenen Krebs.

1931. Man weiß, wie es historisch weiterging. Ist es so erstaunlich, daß eine Nation, in der diejenigen, die kultiviert und bestens sozialisiert sind, die in der Gesellschaft Einfluß haben und als Leitbilder angesehen werden, gleichwohl rücksichtslos ein alltägliches Verbrechen begehen – denn das ist die Abtreibung – , daß eine solche Nation nicht bestehen kann, es sei denn, sie bekehrt sich?

Wir leben Jahrzehnte später, nicht mehr 1931. Doch wie steht es um das Heute?

Der Biograph der Familie Wittgenstein, Alexander Waugh, ebenfalls bestens ausgebildet, zudem Enkel des weltberühmten Schriftstellers Evelyn Waugh, schreibt ausführlich über dieses Abtreibungsgeschehen und die Folgen. Gretl, die Hauptakteurin der Tragödie, nennt er: »Gretl, mit ihrem großen Herzen (…).« Dazu erübrigt sich jedes weitere Wort.

Doch damit sind wir exakt im Heute, in unserer verwahrlosten Zeit, die sich nicht schämt, über besagte Gretl, eine Frau, die 1931 Horror in das Leben Etlicher gebracht hat, diesbezüglich zu notieren (so der Biograph): »Obwohl sie so viel getan hatte, um zu helfen (…).« Helfen? Ist das der Tiefpunkt der humanistischen Mimikry?

Grafik: Rainer Sturm / pixelio.de


Samstag, 15. Juni 2019

Helden



Daß die großen Tech-Firmen mehr und mehr zu Tech-Tyrannen werden, wird mehr und mehr offenbar. Gleich ob Google, youtube,Twitter oder Facebook – wer nicht in die Agenda der Globalisten paßt, wird gnadenlos zensiert und ausrangiert. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern nackte Wahrheit.

Jetzt das neueste Beispiel.

Ein junger Software-Ingenieur bei Pinterest, dem Social-Media-Giganten, der 300 Millionen Nutzer für sich verbucht, wurde Knall auf Fall die Kündigung unter die Nase gehalten. Denn Eric Cochran, so der Name des Helden in the brave new world, hatte Project Veritas, einem Privatunternehmen in den Staaten, welches die Machenschaften von Firmen aufdeckt, Unterlagen zugespielt, aus denen klar hervorgeht, wie Pinterest mißliebige Personen klammheimlich ausschaltet.

Getroffen hatte es Lila Rose und ihre Plattform Live Action. Rose ist seit Jahren eine der profilierten Lebensschützerinnen in den USA. Ihre Internetpräsenz gehört zu den meist frequentierten in der pro-life-Bewegung. Rose ist immer wieder Gast in Talkshows und versteht ihre Positionen bestens argumentativ zu vertreten.

Was machten nun die Macher von Pinterest?

Sie rubrizierten Live Action bewußt unter dem Label Pornographie, um es derart zu blockieren und für Nutzer unauffindbar zu machen. Cochran, der Whistleblower, belegt an den nun veröffentlichten Dokumenten, wie Pinterest, welches sich als tolerant und weltoffen präsentiert, tyrannisch diejenigen verbannt, die Inhalte vertreten, die christliche Prinzipien vertreten, etwa die unhintergehbaren Fundamente des Lebensschutzes. Und die anderen Tech-Tyrannen sekundieren: Youtube etwa sperrt das enthüllende Video von seiner Plattform, um Pinterest derart reinzuwaschen.

Cochran wörtlich in einem ersten Interview nach seiner Entlassung:

»Es geht um Abtreibung. (…) Sie (die Tech-Giganten) verteidigen zu 100% die Abtreibungslobby. Und die Lebensschützer, die es in den großen Tech-Firmen gibt – und es gibt sehr viele – sie müssen zu Project Veritas kommen und offenlegen, was passiert. Es ist notwendig, daß sie, so wie ich es gemacht habe, diese Tech-Konzerne dahin bringen, daß sie explizit öffentlich zugeben, daß sie auf Seiten der Abtreibungslobby stehen.«

Eric Cochran, Lila Rose: Mutig. Intelligent. Pro-life. Helden für heute.

Freitag, 7. Juni 2019

Die Wahl


»Man kann aus dreierlei Beweggründen handeln – als Affe, als heidnischer Philosoph oder als Christ. Wer sich mit den rein sinnlichen Dingen begnügt, ahmt das Wissen und Wirken des Affen nach, der allerdings neugieriger als jedes andere Tier ist und nachäfft, was er andere tun sieht.«

Sel. Niels Stensen
(Arzt, Wissenschaftler, Bischof, 1638 - 1686)


Grafik: Photo by Audronė Locaitytė on Unsplash