Freitag, 26. Oktober 2018

Cis Moll

Faust, in Goethes gleichnamigem Werk, quält sich ab mit der Frage, was denn die Welt im Innersten zusammenhält. Und er scheitert an dieser Frage.

Nach zahllosen Irrungen und Verhängnissen, nach Teufelspakt und bitterem Erwachen findet Faust am Ende des zweiten Teils die erlösende Antwort: Es ist die Liebe, die – was der tragische Held schon im Hohelied des Apostels Paulus hätte nachlesen können – alles trägt und niemals aufhört: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan; das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.

Das Schöne an diesem geheimnisvollen Fazit ist, daß diese Liebe, wenn man nur aufmerksam genug ist, sich wahrnehmen läßt in unendlichen Variationen, Melodien, Verästelungen, Tröstungen und Heiterkeiten.

Ein Beispiel.

Am Ende seines Lebens, gerade mal einunddreißigjährig, kommen Musikanten bei Schubert zusammen und spielen ihm das cis-Moll Quartett, op 131, von Beethoven vor. Es ist Schuberts eigener Wunsch, dieses späte Streichquartett Beethovens zu hören, welches Beethoven selbst ein Jahr vor seinem Tod komponierte.

Daß dieses Werk, wie die späten Streichquartette insgesamt, zu den einsam dastehenden Meisterwerken musikalischer Kunst gehört, wurde oft genug, gerade auch von Musikern, betont. Strawinsky etwa schrieb hinsichtlich dieses Quartetts: »Die am meisten zu Herzen gehende Musik ist für mich der Beginn der Andante moderato – Variation. Seine Stimmung ist mit nichts vergleichbar (…) und seine Intensität wäre, wenn sie auch nur einen Takt länger anhielte, nicht auszuhalten.«

Schubert, der zeit seines Lebens Beethoven liebevoll verehrt, der oft genug sich überkritisch zermürbt im Gedanken, ob überhaupt jemand nach Beethoven noch etwas zuwege zu bringen vermag, hört das Quartett und ist begeistert, entzückt, ergriffen.

Fünf Tage später ist Schubert tot.

Der Musikwissenschaftler Ludwig Nohl notiert: »Das cis-Moll-Quartett war die letzte Musik, die er gehört!« Und weiter: »Dem Liederkönig hatte der König der Harmonie die Hand freundlich zur Überfahrt geboten.«

Denn die Liebe hört niemals auf, und auch der Tod setzt der Liebe keine Schranken.

Freitag, 19. Oktober 2018

Die Kunst und das Heilsame

»Aber abseits wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.«
Mit diesen trüben Worten beginnt die Alt-Rhapsodie von Johannes Brahms, eine Vertonung von Ausschnitten der Goetheschen Harzreise im Winter.

Der Text und auch die Musik lassen keinen Zweifel: Hier ist das Portrait eines durch und durch Verzweifelten, eines im Leben Niedergeschlagenen, eines Schwerkranken. Die Welt, sub specie aeternitatis, als Hinweis der Herrlichkeit gedacht, wird dem Verzweifelten zur Wüste, zur Öde, zum Ort, der letztlich als unbewohnbar gilt. Aus der Fülle der Liebe, so heißt es wenig später, trinkt sich der abseitig Verlierende Menschenhaß, Balsam wird ihm zu Gift.

Die Erfahrung, die Goethe beschreibt, und die, an ihn anknüpfend, Brahms vertont, ist eine, die den Menschen heimsucht. Es mag sein, daß jemand dieser Heimsuchung in extremis ausgesetzt ist, während ein anderer nur schwache Ausläufer der Gefährdung erlebt. Aber die grundlegende Herausforderung, nämlich die der Auseinandersetzung zwischen dem Abgründigen und das heißt dem nach Unten Ziehenden und dem jedem Leben eingeschriebenen Drang zu leben und also den Blick zu heben ins Offene (Hölderlin: »Komm! Ins Offene, Freund!«), ist einem jeden Menschen aufgegeben.

Und sowohl Goethe wie auch Brahms wissen, aus eigenem biographischen Erleben, um diesen entscheidenden Kampf, und beide wissen zudem, daß der Kunst, die den Namen Kunst verdient, bei aller Durchdringung des Dunklen, letztlich aufgegeben ist, sich durchzuringen zum Hellen.

Darum beläßt es Brahms nicht bei der Düsternis der Schilderung des Wundwaiden, sondern er fragt: »Ach, wer heilet die Schmerzen?« Und die Musik des Norddeutschen geht nicht über die Verzweiflung des Getroffenen hinweg, sondern geht verständnisvoll dessen Schritte mit, um ihn jedoch schließlich der größeren Frage anheimzugeben, die den Blick des Kranken, der sich verkrampft in die ungenügende Selbstsucht, zu weiten ins einzig Notwendende: »Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich?«.

Und dieser Ton, den gibt es. Denn Brahms läßt diesen Ton vernehmen. Im unaufdringlichen, doch um so herzergreifenderen Übergang zum trostvollen C-Dur macht der große Künstler Brahms nicht nur dem Niedergeschlagenen der Rhapsodie, sondern im Grunde jedem Niedergeschlagenen hörbar, daß es die Öffnung gibt, die Quelle, die Liebe, die Erquickung – und dies nicht irgendwo oder in einem fernen Utopia, sondern hier, mitten in der Wüste:
»Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste!«
(Der Wechsel hin zum Trost ab Minute 9.40)



Samstag, 13. Oktober 2018

Finita la musica



»Nur der Teufel kennt keine Musik.«

Hildegard von Bingen


Grafik:    Photo by Claus Grünstäudl on Unsplash

Samstag, 6. Oktober 2018

Wahrheit statt Gewohnheit



Von Marcel Proust, dem berühmten Autor der Recherche (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), gibt es eine kurze Skizze, in der er einen Konzertbesuch schildert. Nun wäre Proust nicht Proust, wenn nicht das Mondäne stets bei ihm mit von der Partie ist. Doch zu Prousts Begabung gehört gerade auch, daß er im Medium des Mondänen wünschelrutengängergleich plötzlich die moralische Lehre aufblitzen läßt, die alles Mondäne überschreitet.

Den ersten Teil des Konzerts hat der Erzähler verpaßt. Danach – Proust ist jetzt im Auditorium – gibt man Beethovens Fünfte Symphonie. Wie Proust das Andante und überhaupt die Wirkungen der Musik beschreibt, ist bestenfalls gefälliges Feuilleton; das muß uns hier nicht interessieren.

Doch dann notiert Proust, noch im Rausch des musikalischen Genusses, in seiner »essayistischen Erzählung« das Folgende:
»In diesem Augenblick hörte ich, wie ganz in meiner Nähe eine Dame zu einer anderen sagte: Möchten Sie ein Bonbon? Der Schmerz, den ich erlitt, war erfüllt von Mitleid, mit Mißstimmung, vor allem mit Erstaunen, daß unter so heroischen Bedingungen, da alle Interessen eines großherzigen Geistes gefesselt sind, jemand noch den gefräßigen Magen, den trägen Leib spüren konnte. Erst jetzt bemerkte ich, daß viele Zuhörer dem sanften Wiegen und dann den wollüstigen oder schrecklichen Suggestionen der Musik unzugänglich geblieben waren. Wir alle, die wir ihnen erlegen waren, kamen nur zögernd wieder zu Atem, als wir uns nach dem Konzert wieder im Freien befanden, und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.«
Bei allem Unzulänglichen in Prousts Analyse der Kunstwirkung (z. B.: große Kunst macht den Empfangenden weder zum apathischen Erliegenden noch zum körperlosen Geistwesen) ist Prousts Fazit korrekt und kann nicht präziser formuliert werden: … und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.

Eben das macht die Kunst. Sie zeugt vom Wahren und vom Schönen, und da das Wahre und das Schöne Transzendentalien sind und also Seinsweisen, die das Begrenzte übersteigen, eröffnen sie letzthin den Weg zur Erkenntnis des einzig und vollkommen Wahren und Schönen, zu Gott.

Und Proust, der weiß Gott kein Theologe war, doch als Künstler dem Gespür des Künstlers nachzugehen verstand, zeigt zugleich die Machinationen des Menschen vis-à-vis des Großen, vis-à-vis der großen Kunst.

Da die große Kunst das Dürftige übersteigt und gnadenhafter Vorschein der wahren Heimat ist, neigt der Mensch dazu, diesen herrschaftlichen Anspruch der Größe kleinzureden oder ins Banale herabzuziehen – in den Genuß eines Bonbons.

Und selbst diejenigen, die das Moment des Großen und den Aufschwung der Seele in echter Weise erfahren haben, sind der lauernden Gefahr der Trivialisierung nicht entzogen. Bei ihnen besteht die Gefährdung darin, daß sie – was Proust gleichfalls seziert – nach einer göttlichen Atempause schließlich doch in der Weise sich weitertreiben lassen, als sei das soeben Empfangene nicht mehr als Gischt, die im Wellengang des Tageintagaus spurenlos versinkt:
»Doch bald nahm das Leben uns wieder in seinen Griff. Wir hatten beschlossen, in den noch offenen Louvre zu gehen; Leutnant S… erinnerte sich nach wenigen Minuten, daß er Besuche zu machen hatte, mein Bruder begab sich zum Tee in der Rue Royale, wo er hoffte, Madame*** zu treffen, und die anderen gingen ihre Seele verleugnen, einige, wohin sie Lust hatten, die meisten, wohin die Gewohnheit sie trieb.«
Gewohnheit statt Wahrheit.

Da fällt einem die Weisheit eines frühen Kirchenschriftstellers ein:
»Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem, cognominavit – Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit«