Freitag, 26. Januar 2018

Beatus vir


Wie lebt man recht?

Diese Frage ist so alt wie die Menschheit. Es ist die Frage nach dem glücklichen Leben.

Das Alte Testament gibt in seinem Psalmenbuch sogleich zu Beginn, in den ersten beiden Sätzen, die Antwort, indem es für den Mann, welcher der Liturge ist, unmißverständlich aufzeigt, was dessen Glück ausmacht:
»Glückselig der Mann, der nicht weggeht zur Versammlung der Gottlosen und nicht auf dem Weg der Sünder steht und nicht auf dem Lehrstuhl der Pest sitzt, sondern dessen Verlangen im Gesetz des Herrn ist und der in Seinem Gesetz Tag und Nacht betrachtet«.
(nach der Vulgata, der klassischen lateinischen Fassung der Heiligen Schrift)
Aufschlußreich genug.

Zum bleibenden Glück gehört das Bleiben. Wer glücklich sein will, geht nicht weg, schweift nicht umher, sondern ist standfest. Er ist fest gegründet. Nicht in irgendetwas, sondern in dem Einzigen, was festen Stand verleiht: Im Gesetz, in der Weisung des Herrn (wobei im Deutschen das Wort Gesetz, welches sich als Substantiv von setzen herleitet, bereits sprachlich den Zusammenhang von Festsetzung und stabiler Seßhaftigkeit deutlich macht).

Das Umherschweifen ist im engen wie im weiten Sinne zu verstehen. Es kann das unstete Herumirren von Platz zu Platz meinen, es kann aber auch die unruhige, schweifende Lust der Augen bezeichnen, das Alles Mitkriegenwollen, den flackernden Blick, die Unersättlichkeit der Pupillen, die curiositas oculorum.

Die Wüstenväter wußten sehr gut um diese Sünde des Abirrens. Darum war ihr ständiger Rat, den sie angehenden Mönchen bei Versuchungen gaben, auf keinen Fall das Bleiben in der Zelle aufzugeben:
»Jemand sagte zum Altvater Arsenios: Meine Gedanken quälen mich, indem sie mir sagen: Du kannst nicht fasten und auch nicht arbeiten, so besuche wenigstens die Kranken; denn auch das ist Liebe. Der Greis aber, der den Samen der Dämonen kannte, sagte zu ihm: Geh und iß, trinke, schlafe und arbeite nicht, nur verlaß dein Kellion (Zelle) nicht! Er wußte nämlich, daß das Ausharren im Kellion den Mönch in seine rechte Ordnung bringt.«
Die weise benediktinische Lebensregel weiß naturgemäß auch um die Gefahr des Herumschweifens, darum ordnet sie die stabilitas loci an, das andauernde Bleiben in der einmal gewählten Gemeinschaft.

Man kann auch an den Mathematiker Blaise Pascal denken, der um die Güte des Bleibens ebenso Bescheid wußte, weswegen er lakonisch feststellte: »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.«

Wohin führt das unruhige Schweifen? – Die Antwort der Heiligen Schrift: In die Gottlosigkeit, in die Sündhaftigkeit, in die Verhärtung.

Man muß die Steigerung in dieser Aufzählung wahrnehmen, die schon im prominenten Beginn des Psalmenbuches gegeben ist. Der Weggehende geht nicht in einen harmlosen, neutralen Zirkel, sondern in den Kreis der Gottlosen. Und dort wird er angesteckt, denn die Gottlosigkeit, welche die Frömmigkeit nachäfft, will wie diese gleichfalls fruchtbar sein und zeugen, doch da ihr die wahre Fruchtbarkeit versagt ist, vermag sie lediglich den Tod zu gebären, das heißt die Sünde. Und derjenige, der zu den gottlosen Spöttern geht, wird unweigerlich mit dem Virus der Sünde infiziert.

Doch dies ist noch nicht der letzterreichte Punkt. Die praktizierte und zur Gewohnheit gewordene Sünde führt schließlich in die Verhärtung. Denn der habituelle Sünder, der über das göttliche Gesetz spottet, wird sich selbst zum Gesetz. Die Vulgata spricht von der Kathedra, dem erhabenen Lehrstuhl des Spötters, mit anderen Worten: Der gottlose, spöttelnde, verhärtete Sünder hört keinem objektiven Lehramt mehr zu. Er ist, wenn die Verhärtung weit fortgeschritten ist, im Wahn, nun sein eigener Lehrstuhl zu sein.

Doch dieser falsche Lehrstuhl produziert Gift. Auch hier ist die Bibel wohltuend klar. Die Kathedra des Spötters ist ein Lehrstuhl der Pest. Wer sich dem aussetzt, wird zwangsläufig krank, und zwar nicht ein bisserl krank, sondern schwerkrank, lebensgefährlich krank.

Und womit begann es? – Mit dem Weg-gehen, dem ab-ire. Dieses Weggehen von dem lebensspendenden göttlichen Wort, obgleich dieses Wort, wie es in Psalm 18,8 heißt, makellos ist und die Seelen bekehrend und zuverlässig und den Kleinen Weisheit gebend, kommt an zweiter Stelle, nicht an erster. Das Allernatürlichste, das dem Menschen wesentlich Angemessene und Ursprüngliche, ist, im Wort zu bleiben und sich im Wort zu erquicken.

Das Weggehen vom Wort ist Verfallserscheinung, nämlich das Herausfallen aus der gesättigten Einheit in die Entzweiung, die über kurz oder lang in die Wüste der Verzweiflung und Revolte führt.

Das Stundenbuch der katholischen Kirche hat das altestamentliche Psalmenbuch zu seinem Gebetsschatz gemacht. Es tut gut, beim Beten der Psalmen sich des hellen Eingangs zu erinnern, der den Tresor der Psalmen öffnet: Beatus vir.

Grafik:    Photo by Chad Greiter on Unsplash

Donnerstag, 18. Januar 2018

Die kleine Thérèse


Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.


So heißt es in einem der berühmten Gedichte Hölderlins. Und so mancher mag sich fragen, was denn das nun ist, dieses neue Adjektiv: heilignüchtern?

Hölderlin, in seinen jungen Jahren noch für die kirchliche Laufbahn bestimmt, kannte naturgemäß die Heilige Schrift. Und eben dort wird das Heilignüchterne als tägliche Ration dem Nachfolgenden gereicht.

So lobt etwa der heilige Petrus die ihm anvertrauten Gläubigen, die »in unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude jubeln« (1 Petr 1,8). Derselbe Petrus mahnt aber in derselben Epistel zugleich: »Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann« (5,8).

Für die geistlichen Autoren ist dies die conditio humana des Christen in der Welt: Er jubelt, und er ist nüchtern. Er jubelt, weil er kraft der Gnade Christ ist und also in Christo einverleibt und zur Heiligkeit berufen ist; er ist nüchtern, weil er weiß, daß diese Welt das Terrain des Fürsten dieser Welt ist (vgl. Joh 16,11).

Daß diese heilignüchterne Haltung kein Konsumartikel ist, den man sich irgendwann erwirbt und wohlfeil ad acta legt, sondern täglich zu wahrendes höchstes Gut, kann man unter anderem an den Biographien der Heiligen ablesen. Sie kämpfen um dieses Gut, und kämpfend bleiben sie Sieger.

Etwa die heilige Theresia vom Kinde Jesu und vom Heiligen Antlitz, bekannter unter dem Namen die kleine Thérèse. An einer Episode ihres Lebens erhellt gleichsam wie unter einem grellen Blitz, was mit diesem Kampf, der bis zuletzt geht, gemeint ist.

Zwei Jahre vor ihrem Tod macht ein Gerücht die Runde unter den Katholiken Frankreichs. Eine ehemalige Freimaurerin, eingeweiht in die dunkelsten okkulten Praktiken, konvertiert und berichtet einer staunenden Öffentlichkeit über ihre schrecklichen Erfahrungen. Jeanne d’Arc, die französische Nationalheilige, so die Neubekehrte, sei maßgeblich gewesen für ihre Konversion. Ihre jetzige Mission sei es, die Schandtaten der geheimen Zirkel aufzudecken, um sich anschließend in ein Kloster zurückzuziehen.

Die sensationellen Enthüllungen der Diana Vaughan, so der Name der Konvertitin, durchdringen selbst die Klostermauern des Karmels von Lisieux, wo die kleine Thérèse seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr als Nonne weilt. Und Thérèse ist, wie manche ihrer Mitschwestern, begeistert von den Enthüllungen, derart, daß sie der Konvertitin einen Brief schreibt, dem sie eine Photographie beilegt: Thérèse in einem der im Karmel aufgeführten geistlichen Theaterstücke und zwar in der Rolle der Jeanne d’Arc. Und was wäre, wenn Diana vielleicht eines Tages in den Karmel von Lisieux einträte?

Arme Thérèse!

1897, in ihrem Todesjahr, platzt die Bombe. Es ist der Ostermontagabend. In Paris findet eine lang erwartete Pressekonferenz statt, auf der die bislang im Verborgenen wirkende mysteriöse Diana Vaughan sich öffentlich zeigen und reden will, die bis dahin, so ihre Argumentation, sich habe verstecken müssen, weil sie die Freimaurer verraten habe und deswegen um ihr Leben fürchte.

Mehr als vierhundert Journalisten sind anwesend. Und oh Wunder: Auf dem Podium erscheint keine junge Frau, sondern ein kleiner, dickbäuchiger Mann, der sich als Leo Taxil ausgibt. Eine Diana Vaughan hat es nie gegeben, die ganze Geschichte ist erstunken und erlogen. Monsieur Taxil hat seit Jahren die gutgläubigen Katholiken, darunter auch hochrangige Prälaten, zum Narren gehalten.

Und während der schamlose, höhnische Betrüger sich die Fäustchen vor diabolischem Vergnügen reibt, ist hinter ihm, an die Wand projiziert, eine Photographie zu sehen, die seinen Vortrag, zu dem es nicht mehr kommt, illustrieren sollte: Die Photographie der Jeanne d’Arc alias Thérèse im Gewand der französichen Nationalheiligen.

Als die Nonne im Karmel von Lisieux von der Pressekonferenz und dem verwendeten Dia erfährt, zerreißt sie den Brief, den sie einst von der angeblichen Konvertitin empfangen hatte, und wirft ihn in den Abfall. Sie, die vor nicht allzu langer Zeit den Triumph der Demut geschrieben hat, erfährt schneidend eine grausame, unverhoffte Demütigung. Und es ist anzunehmen, daß Thérèse, genau in dieser bitteren Lektion, in letzter oder vorletzterTiefe gelernt hat, was mit der Nüchternheit gemeint ist, die jubelt und dennoch nüchtern bleibt.

Diese Nüchternheit, die zu guter Letzt im Namen der Heiligen von Lisieux eingebettet ist, den sie sich selbst gegeben hat und der am Ende ihres Lebens, in der sieghaften Annahme der Demütigungen, heilignüchtern aufstrahlt: die kleine Thérèse.

Grafik:    Thérèse in ihrer Rolle als Jeanne d’Arc. Wikimedia Commons/gemeinfrei.

Freitag, 12. Januar 2018

Freitags


R., ein Freund seit Kindertagen, erzählte mir folgendes:

»Es ist bereits Jahre her, als ich einen älteren Priester in ein Kloster in Bayern brachte, wo besagter Priester eine Woche lang sich ausruhen wollte. Ich war lediglich der Chauffeur, kam allerdings durch diese Tätigkeit in den Vorzug, selbst in dem berühmten Kloster eine Woche lang wohnen zu dürfen.

Jeden Tag dieser Woche nahm ich in der Frühe an der heiligen Messe in der kleinen Kapelle des Klosters teil. Wir waren nur wenige Gläubige in der Frühmesse. Jeden Tag war eine alte Frau unter den Meßbesuchern, die von Anfang an meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht, als sei sie sehr auffällig gewesen oder hätte sich durch irgendein besonderes Gehabe hervorgetan. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Unscheinbarkeit dieser alten Frau war das Beeindruckende. Ihre Kleinheit. Ihr nahezu Verschwinden.

Am Freitag (am nächsten Tag würden wir abreisen), als ich die Kapelle verließ und beim Hinausgehen mit der alten Frau zusammenkam, sagte diese zu mir, ob ich sie nach Hause begleiten wolle. Ich sagte ja.

Sie wohnte in der unmittelbaren Nähe des Klosters, gleichsam an der äußeren Klostermauer. Die Wohnung war, wie ich mir Wohnungen von alten russischen Mütterchen vorgestellt hätte. Tatsächlich war die alte Frau eine vertriebene Wolgadeutsche, die seit Jahrzehnten ihre Bleibe in der bescheidenen Wohnung in Klosternähe gefunden hatte.

Der kleine Raum, in dem sie sich aufhielt und offensichtlich auch schlief, war mit wenigen Möbeln ausgestattet. In der Mitte des Zimmers war, mit einem teppichartigen Überwurf versehen, eine Art Sofa, welches zugleich als Bettstatt diente. Und überall, auf einem kleinen Tischchen oder auf einer Ablage oder an den Wänden oder auf einem Stuhl, waren Heiligenbilder und Ikonen und fromme Andachtsgegenstände.

Dies war ihr Reich. Ich stellte mir vor, wie sie hier betete, Tag und Nacht. Ich glaube nicht, daß sie viele Besucher empfing. Wie anspruchslos sie war, ging mir durch den Kopf. Wie armselig. Sie war umgeben von ihren Freunden, den Heiligen. Sie kannte sie alle, davon war ich überzeugt. Sie umgaben sie, liebevoll, schützend, schweigend, sprechend. Und nachts lag sie gewiß stundenlang wach und betete in ihrem Gebetbuch und ihren vielen Gebetszetteln.

Als ich ging, reichte sie mir einen Geldschein. Ich wollte ablehnen, aber sie wollte es so.

Vielleicht, so dachte ich, als ich den Weg ins Kloster zurückging, gehört sie zu den Gerechten, welche die Welt zusammenhalten. Sie war eine Matrjona, wie die Matrjona, von der Solschenizyn in seiner wunderbaren Erzählung geschrieben hatte …

Ich habe die alte Frau nie mehr wiedergesehen. Aber ich weiß, wir werden uns wiedersehen,« so R., der Freund, »natürlich.«

Grafik:    Photo by IV Horton on Unsplash

Samstag, 6. Januar 2018

Im Augapfel


»Cantare amantis est.«

Wer liebt, lobsingt. So der hl. Augustinus.

Bei diesem Diktum des Kirchenvaters fällt einem Vieles ein. Zum Beispiel der englische Chor, der zur Weihnacht sein Gloria anstimmt. Oder Psalm 150, mit dem das Psalmenbuch schließt, und wo es zuallerletzt heißt: »Alles, was atmet, lobe den Herrn.«

Schön und gut.

Nur, was ist mit dem Schmerz? Kann auch der Krebskranke in den Lobpreis einstimmen?

Mutter Teresa, so eine Anekdote über die Heilige aus Kalkutta, habe eines Tages einer Schwerkranken in ihren Schmerzen gesagt, Jesus küsse sie. Woraufhin die Kranke geantwortet habe: »Mutter, dann bitte Jesus, daß er aufhört, mich zu küssen!«

Nun wird so manchem der Atem stocken bei dieser Geschichte, und mancher wird vielleicht denken, Mutter Teresa habe hier wenig heiliges Mitgefühl gezeigt und sei maßlos über die Stränge geschlagen. Ist dem so?

Offensichtlich gibt der Ausspruch der kleinen Heiligen in ihrem blauweißen Sari nur dann einen Sinn, wenn wir annehmen, daß für Mutter Teresa tatsächlich Alles in Gottes Händen lag. Es gibt nichts, was Gottes Hand und Blick entgeht, und dieser Blick ist Blick der Liebe.

Das nun heißt, die Aufgabe des Menschen ist es, in diesem Blick der Liebe zu bleiben. Sich von IHM, Gott, anschauen zu lassen. Aber nicht so, als seien wir ein Gegenstand dieser Liebe, sondern vielmehr so, daß wir gewiß sein dürfen, wir sind in Seinem Auge, ja, der Mensch ist in Gottes Augapfel. In den Worten des hl. Paulus: »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17,28).

Der kranke Mensch ist folglich nicht jenseits des Augapfels Gottes, sondern mitten in ihm. Es wird freilich oft so sein, daß der Kranke diese Tatsache nicht länger wahrnimmt. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, es heißt lediglich, daß – wenn wir über den Mitmenschen des Kranken nachdenken – dieser aufgerufen ist, dem Kranken zu helfen, daß der Blick frei wird beziehungsweise wieder frei wird, um recht wahrzunehmen.

Das heißt zugleich, daß die Begleitung des kranken Menschen mich selbst in Beschlag nimmt. Glaube ich tatsächlich daran, daß die Liebe, so ein anderes Pauluswort, alles trägt, allem standhält, niemals aufhört? Habe ich die Wahrheit dieses Wortes in meinem Leben erfahren, wirklich, lebendig, bis in die Knochen hinein?

Wenn ich daran zweifle, daß Gott die Liebe ist, und zwar immer, dann ist es besser, am Bett eines Schwerkranken zu schweigen, statt wohlklingende fromme Phrasen zu dreschen, die zwar richtig sind, aber scheppern, vergleichbar einem Walzer, der Walzer bleibt, aber furchtbar mißtönt, wenn die Platte, die ihn abspielt, zerkratzt ist.

Mutter Teresa durfte der Schwerkranken sagen, was sie sagte. Denn die kleine Heilige stand mit ihrer ganzen Person für die Wahrheit ihrer Aussage ein. Denn Mutter Teresa stand in ihrem Leben tagein tagaus am Kreuz, sie umarmte das Kreuz, und eben dort, am Kreuz, lernt man den Schmerz und das Singen. Dort lernt man die Liebe, die bleibt.

Und die Liebe macht sehend.

Mutter Teresa sah den Kuß Gottes. Und weil sie den Kuß sah, durfte sie vom Kuß Gottes zeugen.

Und mehr noch: Mit Sicherheit wird Mutter Teresa es nicht bei ihrer Aussage belassen haben. Denn wer eine Ahnung vom Kuß Gottes bekommen hat, der weiß, daß es mit einem schönen Satz nicht getan ist. Die Tat muß folgen.

Mit anderen Worten: Mutter Teresa wird die Krebskranke auf ihre Art geliebt haben, über alles Anekdotenhafte hinaus, für sie gebetet haben, sie mitgetragen haben, mit ihr gelitten haben.

Und wenn der Kranke in seinem Schmerz verstummt oder sich auflehnt oder der Verzweiflung nahe ist, dann kann man froh sein, wenn es jemanden gibt, der stellvertrend für den Erkrankten das Lied der Liebe weitersingt, selbst auf die Gefahr hin, für diesen unermüdlichen Gesang belächelt oder verspottet oder mißverstanden zu werden. Einfach weitersingt, bis der Andere irgendwann, nach vielleicht schmerzlichsten Reinigungen, in den Chor der Sänger (wieder) einzustimmen vermag und dankbar ist, daß es welche gab – und wenn es nur ein Einziger war –, der nie aufgehört hat zu singen.