Freitag, 24. November 2017

Was mir der Starez erzählt


Eines Tages war die Rede davon, ob es auf der Welt jemanden gebe, den der Herr nicht liebt. Alle wußten die nach den Lehrbüchern korrekte Antwort und riefen schnell wie aus einem Mund: »Der Herr liebt alle!«

Doch da sagte Vater Rafail auf einmal: »Stimmt nicht! Die Furchtsamen liebt der Herr nicht!«

(aus: Bischof Tichon Schewkunow, Heilige des Alltags, Sankt Ottilien 2017)

Grafik:    Photo by Joshua Ness on Unsplash

Freitag, 17. November 2017

Was mir die Vögel erzählen


Von einem befreundeten Priester weiß ich das Folgende:

Seit geraumer Zeit lebt er in der denkbar größten Spannung. Einerseits weiß er, daß das Meßopfer, welches er täglich darbringt und welches ihm täglich zur unausdenkbaren Freude wird, das größe Geschenk ist, das er der Welt zu bringen hat.

Andererseits weiß er, daß er selbst, der Priester, zur Gänze unwürdig ist, eben dieses Meßopfer darzubringen, derart, daß es ihm vorkommt, es wäre das Angemessenste, aufgrund besagter Unwürdigkeit, eine geraume Zeit auf die Zelebration der heiligen Messe zu verzichten, um sich besser vorzubereiten auf das Geheimnis. Vergleichbar dem, was ein anderer getan hatte, nämlich der Gründer des Jesuitenordens, der nach seiner Priesterweihe nicht sogleich zum Altar geschritten sei, sondern nahezu ein Jahr lang sich auf die erste Feier der heiligen Messe vorbereitet habe.

Wenn ich diesen Priester betrachte, so scheint mir, vorausgesetzt mein Betrachten ist ein rechtes, daß er ein guter Hirte ist. Ich sehe in ihm das Wachsen des Kreuzes.

Das Kreuz ist ein blühender Baum, aber nicht sogleich. Zunächst ist das Kreuz ein Winziges, kaum merklich. Ein Trieb, ein fast Übersehbares. Und irgendwann, und man weiß nicht so genau, wann der Zeitpunkt der Sichtbarkeit kam, ist das Kreuz errichtet. Vielleicht nicht einmal hoch errichtet, vielleicht eher als ein klein errichtetes Kreuz (oder als eine Art Dornenkrone). Aber das macht nichts. Es ist jedenfalls sichtbar. Es ist errichtet. Und auf den Balken dieses Kreuzes oder auch in der Dornenkrone beginnen sich die Vögel des Himmels niederzulassen und zu zwitschern.

Wer ein gutes Gehör hat, vielleicht sogar ein absolutes Gehör, hört womöglich, was die Vögel singen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich einmal das Da pacem, Domine vernommen.

Grafik:    Photo by Andreas P. on Unsplash

Freitag, 10. November 2017

et – et


Das Wort Jesu ist bekannt: Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen (Mt 5,37).

Hier geht es offensichtlich um ein glasklares entweder – oder. Denn dort, wo es sich zu entscheiden gilt zwischen wahr und falsch, gut und böse, Recht und Unrecht, dort kann es keine klebrigen Kompromisse geben, dort ist das eindeutige Wort gefordert.

Doch gibt es auch die Situationen, wo das andere Herrenwort anzuwenden ist: Man soll das Eine tun und das andere nicht lassen.

In diesen Situationen, in denen nicht die Wahl zwischen gut und böse zur Debatte steht, sondern der Fortschritt im Guten, wäre es geradezu fatal, wenn man aus einem rigorosen Schwarzweißdenken heraus, das Ganze aus den Augen verlieren und krampfhaft die Erlebnisfülle auf ein nichts als reduzieren würde.

Das hört sich dann etwa so an: Im Glauben, so konstatiert ein Theologe kategorisch, gehe es nicht um das Fürwahrhalten von Sätzen, gar um das Fürwahrhalten von Aussagen des Katechismus, sondern um Erfahrungen. Oder, so ein Kollege des Vorgenannten: Im Glauben gehe es mitnichten um die Einhaltung von Geboten, sondern um das Erleben liebevoller Beziehungen, und exakt dies, und nur dies, sei das Wesen der Kirche.

Dieses Ausspielen des einen gegen das andere ist schlicht und ergreifend falsch. Natürlich geht es im Glauben auch um das Befolgen von Geboten, nicht umsonst sagt Jesus selbst im Johannesevangelium: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt (14,21).

Diese Fülle des sowohl – als auch, zum Beispiel des Ineinander von Liebe und Gebot, faßt die katholische Theologie in die prägnante lateinische Formel des et – et.

Ob man selbst zu denjenigen gehört, die dazu neigen, die Wirklichkeit sträflich zu verkürzen, wobei, und das ist sehr bezeichnend, meist der Teil der Wirklichkeit unter den Tisch fällt, der als zu anspruchsvoll (»die Gebote«), zu streng (»der Katechismus«), zu präzise fordernd (»die Wahrheit«) gilt, das kann man an einem einfachen Exempel überprüfen.

Es stammt aus den Apophthegmata patrum, der klassischen Sammlung von Wüstenvätersprüchen. Berichtet wird in aller gebotenen Kürze vom Sündenfall und der anschließenden Buße zweier Mönche. Wen der zwei Büßenden, so können wir uns als Leser der Geschichte, die mehr als eine Geschichte ist, fragen, hätten wir selbst auf Anhieb als den echten, liebevollen Büßenden akzeptiert, während wir selbstredend den anderen als den ewig engstirnigen bedauert hätten?

Unsere Geschichte gibt – ganz gegen den simplifizierenden Trend – die überraschende Antwort.
Zwei Brüder, die von der Wollust angefochten wurden, gingen hin und nahmen sich Frauen. Hernach aber sagten sie zueinander: »Was haben wir nun eigentlich gewonnen, daß wir die Ordnung der Engel (gemeint ist: den Mönchsstand) verlassen haben und in diese Unreinheit gekommen sind? Und endlich werden wir in das Feuer und in die künftige Folter kommen? Kehren wir zurück in die Wüste und leisten wir wegen dem, was wir getan haben, Buße.«
Und sie kamen in die Wüste und baten die Väter, daß man ihnen eine Buße auferlege, und bekannten das, was sie getan hatten.
Die Altväter schlossen sie für ein Jahr ein, und beiden wurde die gleiche Menge an Brot gegeben und die gleiche Menge Wasser. Ihrem Äußeren nach glichen sie sich.
Als nun die Zeit ihrer Buße um war, kamen sie beide heraus.
Und die Väter sahen, daß der eine fahl und abgehärmt aussah, der andere aber kräftig und freundlich. Man wunderte sich darüber, hatten doch beide genau das gleiche an Speise und Trank erhalten. Und sie fragten den, der blaß und betrübt aussah: »Welche Gedanken hast du in deiner Zelle gehabt?« Er antwortete: »Ich habe mir die Strafen, die ich für meinen Fehltritt zu erwarten habe, vor Augen gehalten, und aus Furcht vor ihnen fiel mir das Fleisch von den Knochen.«
Sie fragten dann auch den anderen, was für Gedanken er in seiner Zelle gehabt habe, und er antwortete: »Ich habe Gott Dank gesagt, daß er mich aus dem Unrat dieser Welt und von den Strafen der künftigen Welt herausgenommen und mich zurückgerufen hat in diesen engelgleichen Stand. Und in der beständigen Erinnerung an meinen Gott wurde ich froh.«
Da sagten die Altväter: »Beider Buße gilt vor Gott gleich.«

Grafik:    Photo by Billy Pasco on Unsplash

Freitag, 3. November 2017

Unverfügbar


Zum großen Kunstwerk gehört, daß es dem Zugriff entzogen ist.

Das hängt damit zusammen, daß der Rezipient dieses Kunstwerks intuitiv spürt, daß hier etwas am Werk ist, das blitzgleich die menschlichen Fähigkeiten und das Vermögen des Künstlers übersteigt. Man mag dieses Etwas Eingebung nennen oder Inspiration oder Begnadung. Jedesmal wird damit das Nämliche zum Ausdruck gebracht: Dieses Mehr, welches zu dem Bemühen des Künstlers dazukommt und die Sinfonie oder die Plastik oder das Buch herausnimmt aus dem Bereich des Verfügbaren und Manipulierbaren.

Dies läßt sich aufzeigen selbst ex negativo. Denn dort, wo man wähnt, dem großen Kunstwerk zu Leibe rücken zu müssen, indem man es etwa vermarktet bis zum Gehtnichtmehr, selbst dort entzieht sich das Meisterwerk, läßt sich wortwörtlich nicht kleinkriegen, es gelingt der Welt nicht, um Schiller zu zitieren, das Strahlende zu schwärzen. Das Meisterwerk bleibt, wie man schließlich kapitulierend eingestehen muß, unverwüstlich.

Oder, wie es hohe Herzen nennen: Was bleibt, ist das Rätsel und ist das Staunen.

Wie war es möglich, daß ein Pergolesi mit gerade mal 26 Jahren sein Stabat Mater komponieren konnte? Welche Kräfte waren am Werk, die Dantes Divina Commedia inspirierten? Oder Berninis Engel?

Michelangelo hat dem Geheimnis, welches hier waltet und welches ein Geheimnis der Schöpfung ist, in dem ursprünglichen Schöpfungsakt sich anzunähern versucht, in seinem Fresko der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Die beiden Hände von Gott Vater und dem darniederliegenden Adam kommen einander näher und näher. Aber Michelangelo zeigt nicht die Berührung, er zeigt nur die Annäherung, denn das Geheimnis, wie könnte es anders sein, bleibt im Unsagbaren oder zwischen den Zeilen oder in der dem Zugriff entzogenen Stille.

Mit dem Leben ist es nicht anders.

Wahrscheinlich empfindet ein jeder, und sei es noch so vage, unbestimmt, beim Blick in die Augen eines Babies, daß auch hier sich Unsagbares ereignet, angesichts dessen die vielsagenden Reaktionen oftmals das Lächeln oder die kindliche Ehrfurcht sind, welche beide Verhaltensweisen recht eigentlich die zwei Seiten derselben Medaille sind.

Und es gehört zur Unverfügbarkeit dieses Lebens, daß es gerade in seiner Kleinheit uns aus den Angeln hebt. Denn der Erwachsene, nach soundsovielen Enttäuschungen und Niederlagen und Verzweiflungszuständen, ist stets in der Gefährdung, sich Welten auszudenken, in denen die Macht und das groß Daherkommende und die Waffen das Sagen haben.

Bis dann dieser selbe Erwachsene dem Blick des Babies begegnet und plötzlich sich über den Kinderwagen beugt und seltsamste Laute von sich gibt, um den kleinen, winzigen Erdenbürger, der da wehrlos in seinem fahrbaren Bettchen liegt, zu einer Antwort zu bewegen, während der ach so erwachsene große Erdenbürger zugleich weiß oder unbewußt ahnt, daß dieses kleine Geschöpf vor ihm eine unausdenkbare, unverfügbare Macht in sich trägt – die Vollmacht des Schöpfers.

Grafik:    wiki commons