Samstag, 6. Oktober 2018

Wahrheit statt Gewohnheit



Von Marcel Proust, dem berühmten Autor der Recherche (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), gibt es eine kurze Skizze, in der er einen Konzertbesuch schildert. Nun wäre Proust nicht Proust, wenn nicht das Mondäne stets bei ihm mit von der Partie ist. Doch zu Prousts Begabung gehört gerade auch, daß er im Medium des Mondänen wünschelrutengängergleich plötzlich die moralische Lehre aufblitzen läßt, die alles Mondäne überschreitet.

Den ersten Teil des Konzerts hat der Erzähler verpaßt. Danach – Proust ist jetzt im Auditorium – gibt man Beethovens Fünfte Symphonie. Wie Proust das Andante und überhaupt die Wirkungen der Musik beschreibt, ist bestenfalls gefälliges Feuilleton; das muß uns hier nicht interessieren.

Doch dann notiert Proust, noch im Rausch des musikalischen Genusses, in seiner »essayistischen Erzählung« das Folgende:
»In diesem Augenblick hörte ich, wie ganz in meiner Nähe eine Dame zu einer anderen sagte: Möchten Sie ein Bonbon? Der Schmerz, den ich erlitt, war erfüllt von Mitleid, mit Mißstimmung, vor allem mit Erstaunen, daß unter so heroischen Bedingungen, da alle Interessen eines großherzigen Geistes gefesselt sind, jemand noch den gefräßigen Magen, den trägen Leib spüren konnte. Erst jetzt bemerkte ich, daß viele Zuhörer dem sanften Wiegen und dann den wollüstigen oder schrecklichen Suggestionen der Musik unzugänglich geblieben waren. Wir alle, die wir ihnen erlegen waren, kamen nur zögernd wieder zu Atem, als wir uns nach dem Konzert wieder im Freien befanden, und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.«
Bei allem Unzulänglichen in Prousts Analyse der Kunstwirkung (z. B.: große Kunst macht den Empfangenden weder zum apathischen Erliegenden noch zum körperlosen Geistwesen) ist Prousts Fazit korrekt und kann nicht präziser formuliert werden: … und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.

Eben das macht die Kunst. Sie zeugt vom Wahren und vom Schönen, und da das Wahre und das Schöne Transzendentalien sind und also Seinsweisen, die das Begrenzte übersteigen, eröffnen sie letzthin den Weg zur Erkenntnis des einzig und vollkommen Wahren und Schönen, zu Gott.

Und Proust, der weiß Gott kein Theologe war, doch als Künstler dem Gespür des Künstlers nachzugehen verstand, zeigt zugleich die Machinationen des Menschen vis-à-vis des Großen, vis-à-vis der großen Kunst.

Da die große Kunst das Dürftige übersteigt und gnadenhafter Vorschein der wahren Heimat ist, neigt der Mensch dazu, diesen herrschaftlichen Anspruch der Größe kleinzureden oder ins Banale herabzuziehen – in den Genuß eines Bonbons.

Und selbst diejenigen, die das Moment des Großen und den Aufschwung der Seele in echter Weise erfahren haben, sind der lauernden Gefahr der Trivialisierung nicht entzogen. Bei ihnen besteht die Gefährdung darin, daß sie – was Proust gleichfalls seziert – nach einer göttlichen Atempause schließlich doch in der Weise sich weitertreiben lassen, als sei das soeben Empfangene nicht mehr als Gischt, die im Wellengang des Tageintagaus spurenlos versinkt:
»Doch bald nahm das Leben uns wieder in seinen Griff. Wir hatten beschlossen, in den noch offenen Louvre zu gehen; Leutnant S… erinnerte sich nach wenigen Minuten, daß er Besuche zu machen hatte, mein Bruder begab sich zum Tee in der Rue Royale, wo er hoffte, Madame*** zu treffen, und die anderen gingen ihre Seele verleugnen, einige, wohin sie Lust hatten, die meisten, wohin die Gewohnheit sie trieb.«
Gewohnheit statt Wahrheit.

Da fällt einem die Weisheit eines frühen Kirchenschriftstellers ein:
»Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem, cognominavit – Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit«