Montag, 22. Februar 2021

Hildegard von Bingen – Die Sängerin

III.

Hildegard wird nicht müde, in immer wieder neuen, bild- und wortgewaltigen Anläufen das Schöpfungswerk des Allherrschers als ein Werk der berauschen Liebe zu zeigen:

»Der Schöpfer«, so sie, »hat sein Geschöpf dadurch geschmückt, daß er ihm seine große Liebe schenkte. So ist alles Gehorchen der Kreatur nur ein Verlangen nach dem Kuß des Schöpfers. Und alle Kreatur empfängt den Kuß ihres Schöpfers, da Gott ihr alles schenkt, was sie braucht. Ich nun, ich vergleiche die große Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf und des Geschöpfs zum Schöpfer mit jener Liebe und Treue, mit der Gott den Mann und die Frau in einem Bund vereinte, auf daß sie schöpferisch fruchtbar werden.«

Der Kosmos ist ein auf Freude eingestimmter, jeder neue Tag eine hingehaltene Schale, die uns »Grund der Freude ist und des Frohlockens«, während die Traurigkeit die »Schwungkraft der Seele« lähmt.

Die Wissenschaft der Weltdinge ist »fröhliche Wissenschaft«. Denn wohin der Mensch mit geradem Blick schaut, sieht er die freundschaftliche Verbundenheit der Kreaturen untereinander, die ihrerseits hervorgeht aus der Seligkeit des Schöpfers und Seiner überbordenden Liebe: »Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten an, ein Stein strahlt seinen Glanz auf die anderen. Alles, was lebt, hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung. Auch steht die ganze Natur dem Menschen zu Diensten, und in diesem Liebesdienst legt sie ihm freudig ihre Güter ans Herz«, so der verhaltene Lobgesang im Buch der Lebensverdienste (Liber vitae meritorum). Für Hildegard, so hat es Papst Benedikt ausgedrückt, »ist die ganze Schöpfung eine Symphonie des Heiligen Geistes, der in sich selbst Freude und Jubel ist.«

Mit anderen Worten: Der Kosmos ist, recht verstanden, Liturgie, ist die eine große musikalische Wirklichkeit, in der alle Lebensvollzüge miteinander in wohlgefälliger Kommunikation stehen, so daß selbst solch‘ einfache, alltägliche Vorgänge wie Essen und Trinken oder Wachen und Schlafen sinngesättigt sein sollen, indem sie sich einfügen in die Ordnung der Lebensvollzüge und auf ihre Art so den allgegenwärtigen Austausch der Liebe zwischen allem Geschaffenen widerspiegeln.
                                      
Hildegard: Sie ist die Sängerin der Schöpfung: »Ich nehme die Blüte der Rose zärtlich ins Herz, indem ich allen Gotteswerken ein Lob singe.« In ihrem Werk ist, bei allem Schauen auch der Abgründe menschlicher Sündhaftigkeit, der unbeirrt strömende Seinsoptimismus der Seherin zu spüren, ihre Freude an den Gaben des guten Schöpfers, ihr Staunen über das Schönsein der Dinge, das trunken-nüchterne Glück der Seele, die ihrem himmlischen Bräutigam zujubelt und im wahren Wortsinn begeistert ist darüber, in allen Bezügen und Beziehungen die unerschöpfliche Grünkraft am Werk zu sehen.

Mit diesem Ausdruck – Grünkraft, viriditas – faßt Hildegard die ewigkeitshaltige, belebende, frisch blühende gute Kraft, die von Gott selbst ausgeht und allem Leben innewohnt und alles Leben zur Reife bringen will. Die Grünheit ist nicht bloß im Blühen und Grünen der organischen Natur zu erkennen, sondern durchströmt jedes Wachstum, jeden Körper, jede Seele. Sie ist weit mehr als eine Farbe, sie ist, geistig wie leiblich, Symbol jener Urkraft, die stets die Gesundung des Kosmos will, ist Zeichen des heilen Seins, darum kann Hildegard feststellen: »Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit, und diese Kraft ist grün.«

Wer daher die viriditas pflegt und mit ihr zusammenarbeitet, der wird fruchtbar, wer sie mißachtet, wird dürr, entzieht sich der Gnade und erstickt im Unglauben.