Ein überaus wißbegieriger und neugieriger Mann geht ins Museum. Er notiert und notiert, was ihm so alles auffällt. All die putzigen, niedlichen Dinge, die ihm gefallen. Daraufhin verläßt der Mann das Museum. Eines hat unser wißbegieriger Mann freilich nicht aufgeschrieben, es ist ihm glattwegs entgangen – daß im Museum ein Elefant war.
Die Geschichte geht zurück auf den russischen Dichter Krylov, der in einer seiner Fabeln diesen Mann schildert. Seitdem ist der »Elefant im Raum«, zumal in den angelsächsischen Ländern, sprichwörtlich geworden.
Jetzt hat eine berühmte Kanadierin eben dieses geflügelte Wort in einer höchst außergewöhnlichen Situation in den Mund genommen.
Die Rede ist von der 44jährigen Mary Wagner. International bekannt wurde Wagner durch die von ihr initiierten und mittlerweile von anderen aufgegriffenen sogenannten red-roses-Aktionen. Was das ist?
Wagner geht in Abtreibungsstätten und verteilt dort an Frauen, die im Wartezimmer auf die Abtreibung warten, rote Rosen und bittet die Frauen, ja zu ihrem Kind zu sagen und gemeinsam mit ihr den Tötungsort zu verlassen.
Dann geschieht stets das Gleiche. Mary Wagner wird von herbeigerufenen Polizisten abtransportiert und vor Gericht gestellt. Inzwischen hat Mary Wagner etliche Gefängnisstrafen abgesessen.
In ihrem letzten Prozeß, in diesem Monat Juli, wurde nun Wagner erneut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Den zuständigen Richter bat sie vor der Urteilsverkündigung, nachzudenken über »den anderen Elefanten im Raum – jenes kleine, ungeborene Kind, welches laut kanadischem Recht kein menschliches Wesen ist.«
Tja, wie kommt es, daß das Alleroffensichtlichste nicht wahrgenommen wird?
Wenn man in Österreich bleibt: Wie kommt es, daß, wiewohl Abtreibung seit Jahrzehnten praktiziert wird und also Tausende und Abertausende von Österreicherinnen und Österreichern betroffen sind, das Thema »Abtreibung« weiterhin der Elefant im Raum ist?
Die eine Antwort lautet: Weil man das Schreckliche nicht wahrhaben will. Es ist wie bei kleinen Kindern. Diese machen in ihren Spielen die Augen zu, verdecken das Gesicht mit den Händen und wähnen, nicht mehr dazusein, unsichtbar zu sein.
Die Erwachsenen wählen die Tarnkappe des Verschweigens, im Wahn, der Horror sei damit verschwunden. Aber nichts ist verschwunden. Auch der Schmerz der Abtreibung verschwindet nicht dadurch, daß man das Verschwinden wünscht. Und auch Sünden – und Abtreibung ist schwere Sünde – lösen sich nicht in Luft auf, dadurch daß man sie verdrängt. Der Elefant ist weiterhin da. Die Wahrheit ist weiterhin da.
Und nicht nur das. Der Elefant, den man nicht wahrnehmen will, wird nicht kleiner, sondern größer. Und irgendwann wird er zu trampeln beginnen. In der Seele von Einzelnen wie in gesellschaftlichen Organismen. Das wird dann keinesfalls museal oder gar gemütlich sein. Und man kann nur hoffen, daß es dann Lebensretter gibt, die zur Stelle sind.
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