Etüden
für K. W.
Jeder Geigenschüler kennt sie - die Etüden von O. Ševčík.
Etüde ist ein nüchternes Wort. Es enthält das Tuwort étudier, was studieren, üben meint.
Und genau darum geht es bei Ševčíks Etüden: Übungen in allen Variationen und Schwierigkeitsgraden. Die Schule der Violintechnik. Wie viele Geigenschüler haben gestöhnt, wenn sie diese Übungen als Hausaufgaben zu exerzieren hatten, wieder und wieder.
Und wahrscheinlich unterscheidet es früh den Ernsthaften vom Leichtfertigen, wie er schließlich diese Etüden wahrnimmt: Als Training oder als Qual. Derjenige, der im Violinunterricht wahrhaft weiterkommen will, weiß, daß diese Übungen ihm notwendig sind, um das Geigenspiel zu erlernen. Die Redensart Übung macht den Meister bewährt sich auch in der Disziplin des Geigenspiels. Und es wäre absurd anzunehmen, daß man im Geigenspiel irgendwann brilliert, ohne zuvor ausgiebig geübt zu haben.
Das Kuriose ist nun jedoch, daß man im spirituellen Feld genau das immer wieder antrifft. Menschen, die einem unverblümt sagen, daß sie keinen Zugang zu Gott haben, daß Gott keine Antworten gibt und darum Gott in ihrem Leben keine große Rolle spielt. Insinuiert wird zugleich, daß Gott sich über diesen Zustand nicht wundern dürfe, denn Er selbst sei schließlich schuld an dem Status quo.
Wenn man sodann behutsam nachfragt, wie denn das konkrete Gottesverhältnis oder, um das Geigengleichnis in den geistlichen Bereich zu übertragen, wie denn die Gottesübungen ausschauen, dann erhält man magere Antworten. Im letzten Urlaub hat man eine Kapelle aufgesucht und ein Kerzerl angezündet. Manchmal betet man abends, schon im Bett liegend, ein Vater unser, doch bevor man mit dem Gebet zuende kommt, ist man schon mehr oder weniger im Schlafmodus. Das war's.
Da tut es gut, sich an einen großen Seelenführer zu erinnern. Sein Name: Johannes Tauler. Was sagt Tauler?
»Denn üben mußt du dich, willst du ein Meister werden. Doch erwarte nicht, daß Gott dir die Tugend eingieße ohne deine Mitarbeit. Man soll nie glauben, daß Vater, Sohn und Heiliger Geist in einen Menschen einströmen, der sich der Tugendübung nicht befleißigt. Man soll von solchen Tugenden auch nichts halten, solange der Mensch sie nicht durch innere oder äußere Übung erlangt hat.«
Heute ist der Tag der hl. Cäcilia, Patronin der Kirchenmusik, der Musiker, der Instrumentenbauer, Sänger, Orgelbauer und Dichter. Wie lange hat diese Heilige geübt, bis sie zur Vollendung gelangte?
Die passio berichtet, daß die zu Beginn des 3. Jahrhunderts lebende Märtyrerin während der römischen Christenverfolgung hingerichtet wurde, weil sie sich weigerte, den heidnischen Götzen zu dienen. Der Henker schlug dreimal mit dem Schwert zu, traf Cäcilia aber erst mit dem dritten Streich. Sie überlebte, zu Tode verwundet. In der Kirche Santa Cecilia in Trastevere, Rom, liegen ihre Gebeine.
Als man 1599, anläßlich der Vorbereitungen auf das Heilige Jahr 1600, den Sarg der Märtyrerin öffnet, findet man den Leichnam der Heiligen völlig unverwest, eingehüllt in ein Gewand aus Goldbrokat.
Der italienische Bildhauer Stefano Maderno (1575 - 1636) hat in seiner berühmt gewordenen Marmorplastik Cäcilia dementsprechend dargestellt: auf der Erde liegend, mit der Halswunde, wartend auf die Begegnung mit dem himmlischen Bräutigam.
Wie lange hat Cäcilia geübt?
Noch in der Agonie bekennt die Sterbende ihren Glauben. Auch dies zeigt der Bildhauer, eingemeißelt in strahlend weißen Stein. An ihrer linken Hand streckt die Heilige einen Finger aus, an der rechten drei Finger. Es ist ihr Bekenntnis des einen Gottes in drei Personen.

