Freitag, 1. Mai 2020

Die Nashörner

                   
Man sollte mal wieder Ionesco lesen. Zum Beispiel Die Nashörner. 

Die Fabel des Stücks ist so einfach wie vielschichtig. Ionesco stellt in drei Akten dar, wie sich Menschen wandeln. Die Transformation schreitet mit jedem Akt mehr voran. Das Bizarre wird das Normale. Das Unvorstellbare wird das vor der Haustür Liegende, ja das, was in die Köpfe und Wohnzimmer der Menschen eindringt.
      
Ionescos Dramaturgie hat man frühzeitig das Label Absurdes Theater verpaßt. Das war eine Art der Unschädlichmachung. Denn tatsächlich erzählt Ionesco keine abstrusen Begebenheiten, sondern menschlich-allzumenschliche Geschichten, Geschichten der conditio humana. Wie manipulierbar ist der Mensch? Wie widerstandsfähig ist er gegenüber Viren aller Art? Wann ist der Mensch ein Mensch?

Die Nashörnerei befällt nach und nach – bis auf den letzten Menschen Behringer – sämtliche Personen des Stückes. Eine maßgebliche Rolle bei der Verwandlung der Menschen in Rhinocéros (so der Originaltitel des Stücks) spielt die Sprache. Sprache, dies ist ihr tiefer Sinn, vermittelt Wahrheit. Sie gibt Auskunft darüber, wie es sich mit den Sachen in Wirklichkeit verhält.

Nicht so in Ionescos Stück. Die Protagonisten, gleich welcher Couleur oder akademischen Bildung, ergehen sich über kurz oder lang in Sprachmüllorgien. Der Logiker, eine Figur des Stücks, müßte eigentlich in seinen Syllogismen die präzise Wahrheitskraft der Sprache aufweisen. Aber weit gefehlt. Er ist derjenige, der in seinen sophistischen Winkelzügen dem letzten Sinn der Sprache den Garaus macht. Ein Hund könne auch eine Katze sein, wie auch umgekehrt, so die neue logische Losung.

Wisser steht dem nicht nach. Er steht jenseits aller Obskurantismen und durchschaut folglich die Ränke, die da abgehen. Nashörner? Galoppierende Dickhäuter? Von wegen. Alles pure Propaganda. Nichts dahinter und davor. Man muß halt nur superrational sein, vernünftig eben, dann ist man gefeit gegen jegliche abergläubische Augenwischerei.

Ein Freund von Behringer, Hans, weiß es gleichfalls ganz genau. Eine andere Moral müsse her, die Moral der Natur. Und während er glühend diese neue Moral herbeifantasiert, wandelt sich seine Haut, unter den Blicken Behringers, in Panzerhaut, nämlich in die grünlich-schuppige Natur eines Nashorns. Und auf der Stirn von Hans wächst die Beule, die, man ahnt es bereits, naturgemäß ein Nashorn ist.

Aber Gott sei Dank gibt es da noch Daisy, die Blondine, der Behringer verliebte Augen macht. Während viele Geschäfte mittlerweile »wegen Verwandlung« geschlossen sind und die Nashörner galoppieren und galoppieren und auch die Feuerwehrleute zu Nashörnern mutieren, bringt die liebliche Daisy Behringer einen Essenskorb in dessen Wohnung. Es könnte ein wunderbares trautes Picknick werden. Aber leider, leider hat es auch Daisy erwischt. Eigentlich seien die Untiere doch gar nicht so schlimm. Ihr tue es weh, wenn man lieblos von den Dickhäutern spreche. »Sieh doch nur, sie spielen, sie tanzen!« Und es kommt, wie es kommt. Die blonde Daisy gesellt sich, nachdem sie Behringer die ultimative Parole mitgeteilt hat: »Götter sind’s«, gleichfalls zu den Nashörnern.

Dabei hatte alles mit einer Katze angefangen. Eine arme Hausfrau, deren arme Katze von einem Nashorn (ist es ein afrikanisches oder ein asiatisches Nashorn?) zertrampelt wurde.

Absurdes Theater?                                                  

In späten Aufzeichnungen Ionescos, acht Jahre vor seinem Tod unter dem Titel Souvenirs et derniers rencontres herausgegeben (in deutsch unter: Erinnerungen. Letzte Begegnungen. Zeichnungen), kreist Ionesco fortwährend um das Thema des Todes. Tod von Freunden, Tod von Weggefährten, Tod der Mutter. Und da heißt es:

»Wir sind geboren, ich bin geboren, nicht nur um zu sterben, sondern auch, davon bin ich überzeugt, um Dinge zu verwirklichen, um Werke zu schaffen nach dem Vorbild Gottes. Das Leben ist gemacht, daß man es lebt, daß man es durchsteht, aber an allen Stellen des Kosmos, wo wir waren,wo wir sind, wo wir sein werden, müssen wir uns verwirklichen.«

Und wie sieht Behringers Verwirklichung aus?

Umzingelt von den brutalen Ungeheuern ergreift er schließlich sein Gewehr und ruft: »Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende. Ich kapituliere nicht.«


Grafik: Photo by jean wimmerlin on Unsplash