Freitag, 24. Mai 2019

Matt. Teil IV

Der Sklave
 
Niemand kennt den Toten. Ein herbeigerufener Dominikanerpriester kniet bei dem Toten nieder und betet. Die Ambulanz, die endlich eintrifft, bringt den Toten ins Spital Mater Misericordiae (Mutter der Barmherzigkeit). Die diensthabende Schwester Ignatius bereitet den Verstorbenen für das Begräbnis vor. Wer ist er? Ein armer Bettler? Einer, der herumzieht? Ein unbekannter armer Schlucker?

Als sie den Toten entkleidet, wird sie der Ketten an Matts Leib gewahr, die er offensichtlich bei früheren Aufenthalten, um im Verborgenen zu bleiben, abgelegt hatte.

In den Akten zum Seligsprechungsprozeß steht als Zeugenaussage:

„Mitten um seinen Bauch herum gab es zwei Ketten und einen verknoteten Strick. Die ein Kette hielten wir für eine Kette, wie man sie gewöhnlich als Pferdestrang benutzt, die andere war etwas dünner. Beide waren durch einen verknoteten Strick miteinander verflochten, und mittels Schnüren waren Medaillen an der Kette befestigt. Beide waren verrostet und tief in das Fleisch eingegraben. Am linken Arm wurde gleichfalls eine dünne Kette gefunden, die straff oberhalb des Ellbogens gewunden war, und am rechten Arm war oberhalb des Ellbogens eine verknotete Schnur. An seinem linken Bein war unterhalb des Knies rundherum eine Kette mit einer Schnur gewickelt, und am rechten Bein gab es, in der gleichen Position, einen schwer verknoteten Strick. Um seinen Hals gab es einen sehr schweren Rosenkranz; daran waren große und viele religiöse Medaillen angebracht. Einige der Medaillen hatten die Größe einer halben Crown-Münze, andere waren gewöhnliche Medaillen der Sodalitäten.“

Torheit? Ja, Torheit. Die Torheit des Kreuzes. Die Torheit dessen, der sich gebunden und ausgeliefert weiß an die Unbegreiflichkeit Gottes und dies durch die Hände der Muttergottes. Die Torheit dessen, der Sklave der Liebe sein will.

Denn was heißt Sklave? Es heißt, daß das eigene Leben nicht mehr einem selbst gehört, sondern einem anderen. Man selbst ist enteignet, der Andere hat das Verfügungsrecht auf all das Meine. Doch anders als bei dem traditionellen Begriff von Sklave, der etwa an gewalttätige Verschleppungen von Sklaven des afrikanischen Kontinents denken läßt, ist der geistliche Sklave ein freiwilliger Sklave. Und das ist entscheidend. Man nimmt ihm nicht das Leben, sondern er gibt es freiwillig hin, aus Liebe, und darin seinen göttlichen Meister nachahmend.

Der heilige Ludwig Maria Grignion de Montfort (gestorben 1716) hat die Bedeutung der spirituellen Sklavenschaft neu zum Leben erweckt, dabei den Schwerpunkt darauf legend, daß die Sklavenschaft mit Maria gelebt wird.

Grignions Intuition ist kein Spleen, keine spirituelle Überzogenheit, sondern fußt geradewegs in der Heiligen Schrift. Im berühmten Christushymnus des Philipperbriefes, einem der frühesten christlichen Bekenntnistexte zum Erlösungsgeschehen, in dem die Gesinnung Jesu Christi in knappen Schlüsselsätzen zusammengefaßt wird, schreibt der Apostel Paulus: Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich (Phil 2,5f)

Hier fällt das Wort: doulos, Sklave. Unabgeschwächt, in aller Nacktheit und Deutlichkeit. Und der heilige Grignion de Montfort nimmt dieses Wort und seinen Inhalt in eben solchem Ernst an und macht es neu fruchtbar. In einem seiner Gebete an Christus, die Ewige Weisheit, schreibt er:

»Ewige Weisheit... ich bete dich an... in der Ewigkeit im Schoße deines Vaters und zur Zeit deiner Menschwerdung im Schoß deiner lobwürdigen Mutter Maria... Ich danke dir dafür, daß du dich selbst verleugnet und die Gestalt eines Sklaven angenommen hast, um mich aus der Sklaverei des Teufels zu befreien. Ich lobe und preise dich, daß du deiner heiligen Mutter Maria in allem untertan sein wolltest, um mich durch sie zu deinem treuen Sklaven zu machen. Aber ich habe das Gelübde und die Versprechen meiner Taufe nicht gehalten...«

Die von Grignion gewünschte Weihe an die Heiligste Dreifaltigkeit durch die Hände der Muttergottes – kurz Marienweihe genannt – ist die Umsetzung dieses Gebetes: Der sich Maria Weihende will endlich sein Taufversprechen leben und durch diesen Akt der Hingabe auf sanfte, kurze, vollkommene und sichere Weise der Gesinnung Christi gleichförmig werden, denn wer könnte ihn besser zur Christusförmigkeit erziehen als Maria, die Mutter Jesu, die vom Erlöser selbst gewürdigt worden ist, Gefäß seiner Menschwerdung zu sein?

Die Spiritualitätsgeschichte nach Montfort ist ohne Montfort nicht zu denken. Etliche religiöse Gemeinschaften – von unzähligen Privatgelübden und Privatinitiativen zu schweigen – verdanken ihren mächtigen Entstehungsimpuls der geistgewirkten Eingebung des Heiligen aus Rennes. Die Weihe an die Heiligste Dreifaltigkeit durch die Hände der Muttergottes wird ein Markstein in der Geschichte des geistlichen Lebens zumal im zwanzigsten Jahrhundert. Um nur einige Bewegungen zu nennen, deren Entstehung wie Spiritualität ohne die Marienweihe nicht denkbar wäre: Legio Mariae, Madonna House, Foyer de Charité.

Und es ist aus den Erinnerungen des heiligen Papstes Johannes Pauls II. bekannt, wie sehr Grignion die Frömmigkeit und den Lebensweg des Papstes prägte, bis dahin, daß sein päpstliches Wappen mit dem Leitspruch Totus tuus  (Ganz der Deine) direktes Kürzel der Marienweihe ist.

Matt seinerseits ist ein leuchtender Zeuge in dieser Überlieferungskette. Vermutlich  um das Jahr 1913 liest er Grignions Werk der Vollkommenen  Hingabe an Maria. Darin empfiehlt der Heilige im Kapitel Die besonderen Übungen der Ganzhingabe als ein geistliches Exerzitium unter anderen, welches die Abhängigkeit von der Muttergottes sowie die Nachfolge des Gekreuzigten sichtbar machen soll, das Tragen eiserner Kettchen. Matt, der nicht für halbe Sachen zu haben ist, setzt, mit Zustimmung seines geistlichen Begleiters, diese Praxis in die Tat um, und dies in direkter, leidenschaftlicher Weise, indem er die ursprüngliche Intuition des heiligen Grignion de Montfort ungeschmälert, unmittelbar, ohne jede geschmäcklerische Interpretation oder Verkürzung lebt.

»Warum zögern wir, das Wort Sklave zu benutzen? Wir haben nicht gezögert, Sklaven der Sünde zu werden«, gibt Catherine de Hueck-Doherty, die Gründerin der geistlichen Gemeinschaft Madonna House einmal zu bedenken.

Matt gibt dem Wort seine Dignität zurück, indem er mit den Augen der Immaculata den Sklaven Jesus Christus betrachtet. Und diesem Sklaven, der arm wird unsretwegen, der Seine Herrlichkeit verläßt um unseres Heiles willen, ja dessen ganzes Leben Sklavendienst ist pro nobis – diesem Sklaven will Matt ähnlich werden. Und die Ketten um Matts Leib sind sichtbarer Ausdruck seines Lehnsverhältnisses, die ihn täglich gemahnen an das Wesentliche: Daß sein Leben nicht ihm gehört, sondern seinem Herrn, und daß er folglich sein Leben für seinen Herrn hingeben will und für die Mitmenschen, die ihm der Herr anvertraut.

Und damit drücken die Ketten Matts wie selbstverständlich auch dies aus: Matt geht den Weg nicht allein, sondern strikt mit Maria, denn auch der Herr hat den Weg über seine Magd Maria genommen (für welchen Titel – Magd – im übrigen der griechische Text des Neuen Testaments gleichfalls das Nomen doule wählt).

Die moderne Ikone, die das Geheimnis Matts widerzuspiegeln versucht, drückt dieses Wesen der vollkommenen Dienerschaft oder – um mit Grignion zu sprechen – der esclavage d'amour et de volonté (Sklavenschaft der Liebe und des Willens) – sehr gut aus.

Man sieht den ehrwürdigen Diener Gottes Matt kniend, rosenkranzbetend, vor einem Bild der Muttergottes mit Kind. Um den Leib Matts windet sich eine Kette, die ihren Ausgang nimmt am Muttergottesbild. Matt hat sich freiwillig  wortwörtlich an Maria und ihren Sohn gebunden. Die Rosenkranzkette in seinen Händen ist die geistliche Schnur, welche die vollkommene Hingabe Matts noch einmal im Zeichen des Gebets versinnbildet. Und genau so, als Angeketteter, der sich ohne jeglichen Vorbehalt restlos in den Dienst der Muttergottes und Jesu Christi stellt, wird Matt der wahrhaft Freie. Denn die zerstörerische Kette, die ihn jahrelang fesselte und niederdrückte, die Kette der Sucht, liegt zerbrochen vor Matts Füßen. Die Alkoholflasche hat keine Gewalt mehr über Matt, dessen Leben nun seinem Meister Jesus gehört.

Und es mag ein Hinweis darauf sein, daß die  Haltung der Ganzhingabe, der freiwilligen Abhängigkeit von Maria und ihrem Sohn, durchaus schriftgemäß ist, wenn auf der Ikone neben dem knienden Matt die Heilige Schrift zu sehen ist, quasi als verbriefte autoritative Besiegelung seines geistlichen Weges.

Wie oft und in wie vielen heiligen Messen hat der Katholik das Herrenwort gehört: Getrennt von Mir könnt ihr nichts tun (Joh 15,5), oder jenes des heiligen Paulus: Obgleich ich frei von allen bin, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen (1 Kor 9,19).  Hier ist einer, der diese Worte hört und nie mehr vergißt. Der sein Leben jeden Tag mehr umgestalten läßt in das heilige Wort hinein, bis schließlich am Ende seines Lebens die Ketten, die er trägt, mit seinem Fleisch verwachsen sind.

Für Grignion war es selbstverständlich, daß die Marienweihe ein Akt ist, der eine Seele voraussetzt, welcher Gott in besonderer Weise dieses Geheimnis der Weihe anvertrauen will. Darum spricht Grignion diese Seele bevorzugt mit den Worten an: Ame prédestinée – Du auserwählte Seele. Es ist die Seele mit dem einfachen, reinen Blick, die bescheidene, demütige Seele. Denn das Wunder der Umgestaltung in Christus, auch dies läßt sich an Matts Leben ablesen,  geschieht in gänzlicher Bescheidenheit.

Als Matt auf der Straße zusammenbricht, weiß niemand der Herbeieilenden, wer da auf dem Erdboden liegt. Es sagt mehr als tausend Worte, daß erst die Entkleidung, nach Matts Tod, Matts Geheimnis aufstrahlen läßt.

Und noch einmal mehr als viele Worte sagt die Tatsache, daß nur ein Foto von Matt auf die Nachwelt gekommen ist, ein Foto zudem, welches zugleich enthüllt und verbirgt. Denn Matt scheut das Spektakuläre. Auch darum ist er der Heilige für uns, die wir heute in der Flut der Sensationen und Spektakel und Nichtigkeiten unterzugehen drohen. Da ist es gut, Matt in seine stille Kammer zu folgen, ihn niederknien zu sehen und gemeinsam mit ihm ein Armer zu werden.

Papst Paul VI. hat Matt am 3. Oktober 1975 zum Ehrwürdigen Diener Gottes ernannt.


Wer mehr wissen will
Morgan Costelloe, Matt Talbot. Hope for Addicts, Dublin 2005.
Eddie Doherty, Matt Talbot, Combermere, Canada 2011 (Madonna House Publications).
Maria-Viola Wildenhain, Ein Mann aus Dublin, Leipzig 1980.
Homepage der Diözese Dublin zu Matt Talbot: http://www.matttalbot.ie/