Freitag, 15. Juni 2018

Heimat


»(…) das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.

So das oft zitierte Finale von Blochs Werk »Das Prinzip Hoffnung«. Dieses Ende mag sich rhetorisch geschmeidig anhören; aber es ist dennoch ein Mißklang. Denn in den Ohren des Marxisten Bloch mag das Diktum zwar stimmen, für einen Christen ist es schlicht und ergreifend falsch.

Denn der Mensch, so die christliche Anthropologie, kommt aus der Heimat und geht, wenn er sein Leben recht anschaut, auf die endgültige Heimat hin. Der Mensch ist kein Streuner im Universum, seine Aufgabe ist nicht die prometheische Selbstkonstruktion, auch nicht das Erschaffen von Heimat.

Der Mensch ist vielmehr aufgerufen, seiner in ihn eingeschriebenen Sehnsucht zuzuhören und in der Erinnerung des Zuhörens sich bewußt zu werden, daß er sich dem Größeren verdankt, dem Schöpfer, Demjenigen, bei Dem jede Heimat gegründet ist. Der Apostel Paulus kann daher von der Zuversicht schreiben, daheim beim Herrn zu sein (2 Kor 5,8), weil er weiß, wo die wahre Heimat zu finden ist, und das Ziel jeder Heimatsuche kennt: Unsere wahre Heimat ist im Himmel (Phil 3,20).

Wie sehr die Sehnsucht nach Heimat und das intuitive Wissen um die verborgene Präsenz der Urerinnerung im Menschen lebt und letztlich unauslöschlich ist, wird bisweilen selbst in Filmen akut, deren Inhalt auf den ersten Blick wenig bis nichts mit Heimat zu tun hat. So etwa in dem Science-Fiction-Film Der Hüter der Erinnerung (Originaltitel: The Giver) aus dem Jahre 2014.

Geschildert wird die dystopische neue Welt der Zukunft. Menschen werden in dieser Welt normiert zu Drohnen im Einheitsstaat. Die Fiktion lautet, daß erst die Ausschaltung jeder Individualität die negativen menschlichen Reaktionen wie Neid, Eifersucht, Aggression etc. liquidiert. Der Preis der Gleichmacherei ist der Verlust der Erinnerungen und der Emotionen, der durch eine entsprechende morgendliche Injektion besorgt wird. Der Mensch, ab sofort perfekt demokratisiert, ist auswechselbar. Bezeichnenderweise werden die Familienstrukturen aufgelöst, Kinder werden per Leihmütter ausgetragen, Babies, die dem normierten Maß nicht entsprechen, werden ohne jede emotionale Beteiligung getötet.

Die prekäre Stelle im System bildet der sogenannte Hüter der Erinnerung. Ihm, der am Rande der Gesellschaft in Isolation lebt, ist vorbehalten, die menschlichen Erinnerungen zu speichern, um in Notfällen der brave new world aufgrund seiner Erinnerungskapazitäten beizustehen und Ratschläge zu erteilen.

Besagter Hüter bildet im Film einen jungen Adepten aus, der die Nachfolge des altgewordenen Hüters antreten soll.

Prekär wird diese Konstruktion dann, wenn der Hüter und sein Schüler ihre Kompetenz nutzen – nicht, um das System zu stabilisieren, sondern um den diktatorischen Gesellschaftsapparat zu stürzen. Eben diese humane Revolte schildert der Film.

Daß es im Grunde um die Suche und die Sehnsucht nach echter, gültiger Heimat geht, zeigen die letzten Sequenzen.

Der Neophyt hat eines der Babies, die getötet werden sollen, aus der staatlichen Klinik gekidnappt und befindet sich auf der Flucht in die rettende Zone jenseits der Staatsgrenzen. Dort, so die Verheißung, liegt das unterdrückte Land der Erinnerung. Und gelingt es jemandem, dorthin aufzubrechen, gegen alle Verfolgungen und Widerstände hindurch, ist das Reich der Erinnerung wieder etabliert.

Jonas, so der Name des jungen Protagonisten, schafft die Flucht und schafft die Überquerung der Grenze. Und dann kommt das letzte Bild und die letzte Einstellung.

Im Schnee, das gerettete Kind im Arm, nähert sich Jonas in der neuentdeckten Wildnis einem alleinstehenden, erleuchteten Haus. Sehr von ferne, wie Klänge aus nahezu verschollener Zeit und gleichwohl sehr real, ist ein Gesang zu vernehmen. Es ist der Gesang, der sehr still ist und in seiner Stille offenbarend, der Gesang, der seit je zum Herzen spricht, das heimatliche Lied des cor ad cor: Stille Nacht, heilige Nacht...