Es bedarf keiner hellseherischen Verkrampfungen, um wahrzunehmen, daß die Gabe der Einsicht (auch Gabe des Verstandes genannt) – eine der sieben Gaben des Heiligen Geistes - heute an allen Ecken und Enden fehlt.
Denn mit dieser Gabe der Einsicht ist, kurz gesagt, das übernatürliche Vermögen des Menschen gemeint, die geschaffene Welt recht wahrzunehmen, das Erkannte recht einzuordnen und die Geschichte unter dem Blickwinkel der Heilsgeschichte zu deuten.
Die Gabe der Einsicht ist nicht zu verwechseln mit einem exorbitanten Intelligenzquotienten, so als sei der weltlich Schlaue der vom Heiligen Geist besonders Bevorzugte. Die Gaben des Heiligen Geistes sind allesamt übernatürliche Gaben, das heißt sie werden uns eingesenkt (etwa im Sakrament der Taufe) und befähigen uns derart – vorausgesetzt, wir werden Mitarbeiter des Heiligen Geistes und pflegen die uns geschenkten Gaben - zu einer Sicht, die das natürliche Erkennen übersteigt und zu dessen Vollendung führt. Ein frommer Bauer kann daher durchaus mehr wahre Erkenntnis des Geschaffenen an den Tag legen als ein gewiefter Geschäftsmann.
Will man wissen, wie denn die Pflege der Gaben ausschaut, sollte man einen beherzten Blick in die Psalmen werfen. Dort ist derjenige, der das Geschaffene erkennt, der es ein-sieht, der folglich die Schrift des Geschaffenen recht zu lesen versteht (im Lateinischen: intelleget), derjenige, der Tag und Nacht über die Weisungen Gottes nachsinnt.
Eben so, im betrachtenden Gebet, im liebevollen Bedenken der Rechtsvorschriften des Schöpfers, kommt der Beter dahin, das Rechte des Geschaffenen zu erkennen, d.h. den herrlichen Sinn, der im Geschaffenen anwesend ist. Man betrachte etwa den großen Psalm 118, Vulgata, der mit dem programmatischen Vers einsetzt: Beati immaculati in via: qui ambulant in lege Domini. Glückselig die, deren Weg makellos ist, die wandeln im Gesetz des Herrn.
Der Gegenspieler des Erkennenden wird von der Bibel als der Törichte, der Dumme, der Tor, der Uneinsichtige bezeichnet. Dieser wähnt sich selbstherrlich im Besitz der Vernunft, während er in Wirklichkeit doch nur seinen eigenen Fabeleien hinterherrennt und sich selbst und andere durch seine Einbildungen in die Irre führt.
Um den Gegensatz, zumal für das Heute, an einem markanten Punkt zu demonstrieren: Der wahrhaft Einsichtige erkennt zum Beispiel den Sinn der Zeit, seiner eigenen Lebenszeit wie den Sinn von Zeit allgemein. Er weiß, daß sein Status der des Pilgers ist, der das Ziel vor Augen hat – den Himmel, wie der Apostel Paulus es nennt: Unsere Heimat aber ist im Himmel (Phil 3,20). Seine Frage ist nicht die des hektischen modernen Adepten: Was bringt mir das?, sondern die Frage des jungen heiligen Aloysius: Was bringt mir das für die Ewigkeit.
Will man ein leuchtendes neutestamentliches Beispiel für die praktizierte Gabe der Einsicht, so schaue man auf Maria, die Immaculata, die Braut des Heiligen Geistes. Ihr Magnificat (LK 1, 46ff) zeigt überhell die Erkenntnisse des wahrhaft vernünftigen Menschen. Die Illusionen haben keine Macht über ihn. Er kennt den Platz des Demütigen und den Platz des Stolzen. Er weiß um die unerschütterliche Erhabenheit und Vollmacht Gottes. Er sieht, als wahrhaft Erleuchteter, die Geschichte als Heilsgeschichte und vermag, trotz aller vordergründigen Machinationen eines glitzernden, rasend dem Abgrund zuhastenden Zeitalters, im Lobpreis zu bleiben, denn er weiß, aus Einsicht: SEIN Name ist heilig.
Grafik: Maria Knotenlöserin, von Johann Georg Melchior Schmidtner (1625-1705). commons.wikimedia (Ausschnitt)