Dienstag, 10. Oktober 2017

Gnothi seauton!

Das Wort, welches in der Oper Don Giovanni vermutlich am häufigsten vorkommt, lautet scellerato (Wüstling, Frevler, Verworfener). Gemeint ist damit die Titelperson. Und tatsächlich ist Don Giovanni genau das: Ein Wüstling.

Was freilich die um ihn Gruppierten nicht einsehen wollen, ist, daß sie selbst beitragen zu diesem Dasein des Wüstlings. Nicht so, als sei der Wüstling ein Opfer der Gesellschaft – was die postmoderne Version des Dramas wäre: der Wüstling ist eigentlich unschuldig, die Anderen, die Gesellschaft ist schuldig –, sondern vielmehr so, daß in Mozarts Oper alle schuldig sind, es gibt keine Unschuldigen.

Das ist das Schreckliche und auch Unauslotbare dieser Oper.

Daß es nur Mitschuldige gibt, erkennt man auch daran, daß Don Giovanni zwar titelgebend, aber eigentlich kein Held ist, noch nicht einmal ein Anti-Held. Dazu bedürfte er wenigstens der zugkräftigen, strahlenden Arien. Doch Fehlanzeige. Der Titelheld hat keine großen Heldenarien vorzuweisen. Selbst seine Champagnerarie kann mit vergleichbaren anderen großen Arien nicht mithalten. Wie überhaupt in der ganzen Oper kein sogenannter Hit anzutreffen ist, auch kein echter Sympathieträger. Bezeichnenderweise. Denn dort, wo alle schuldig sind, gibt es keine herausragenden Arien und keine Stars mehr. Eine Gala samt famosen publikumswirksamen Schmankerln kann man mit Don Giovanni nicht bestreiten.

Was heißt das nun?

Es heißt, daß Mozart zeigt, was zur Unschuld gehörte: Selbsterkenntnis. Aber diese findet in Don Giovanni nicht statt. Darüber kann auch das Abschlußsextett (welches nachträglich hinzukomponiert wurde) nicht hinwegtäuschen. Wie im Finale der Cosi fan tutte wird dem Zuhörer nun die Moral von der Geschicht’ präsentiert. Die sechs überlebenden Protagonisten schmettern heraus, wie es dem Bösen ergeht, nämlich daß der Böse bestraft wird: »So endet, wer Böses tut.«

Die sechs »guten Leutchen« (e noi tutti, o buona gente) haben durchaus recht, denn Mozart hat es offen gelegt: Der Böse wird bestraft. Don Giovannis Höllensturz ist kein billiger, romantischer Effekt, sondern brutale Konsequenz eines frivolen Lebens, in dem Betrug und Lüge im Dauereinsatz waren.

Heute, in einem Zeitalter, welches die Hölle zum Werberequisit degradiert mit Feuergeprassel und lustigen Bockshörnern, schmunzelt man aufgeklärt über diese Höllenfahrt, findet sie womöglich prickelnd oder spannend und den Wüstling virtuos und tollkühn. Sei’s drum. Die Höllenfahrt des Don Giovanni bleibt dennoch, was sie in Mozarts Oper ist: Höllensturz. Grausam, präzise, logisch.

Eine andere Frage ist, ob die Donna Anna und Donna Elvira und Don Ottavio und Leporello und das junge Paar Masetto und Zerlina aus der finalen Tragödie etwas gelernt haben? Ist es damit getan, ständig nach vendetta zu rufen und sich so gütlich zu halten? Wo bleibt die Selbsterkenntnis?

Zum Beispiel: Warum fällt Donna Elvira nicht nur einmal, sondern immer wieder auf die Lügen des Verführers herein? Oder Don Ottavio: Warum singt er zwar zwei schöne Arien und himmelt seine Geliebte an, versagt aber kläglich, wenn es darum ginge, den Wüstling das Handwerk zu legen? Von Masetto und Zerlina ganz zu schweigen, die am Hochzeitstag (!) Don Giovannis Kabalen erliegen. Und Donna Anna? Sie bleibt, so die Ansicht vieler, in merkwürdigem Zwielicht. Könnte es sein, daß auch sie dem Daimon Don Giovannis erlegen ist?

Und der agile Leporello? Auch er: Nichts dazugelernt. Nach der Höllenfahrt seines Herrn will er ein Gasthaus aufsuchen und einen neuen, besseren Herrn acquirieren. Nichts Neues unter der Sonne.

Und doch ist, analog zum Ende der Cosi, nichts mehr beim Alten. Die Welt wackelt. Im Abschlußsextett der Cosi beschwören die Damen und Herren die schöne Ruhe, während die Musik in einem halsbrecherischen Karussell sich aus den Angeln dreht. In Don Giovanni ist der Wüstling am Ende tot und man macht einen auf: Operation gelungen, Patient tot, während ringsum der Gestank des Schwefels in der Luft hängt.

Vielleicht ist die schreckliche Spannweite der Oper letztlich an einem kleinen Wörtchen ablesbar: la mano – die Hand.

Als Don Giovanni Zerlina zu verführen beginnt, singt er ihr die schmeichlerischen Worte ins Ohr: La ci darem la mano (Dort reichen wir uns die Hand). Am Ende, vor seinem Höllensturz, sagt der steinerne Gast, die Statue des Komturs, zum Wüstling: Dammi la mano in pegno (Reich mir die Hand zum Pfand!), und Don Giovanni reicht dem unheimlichen Gast die Hand, um sogleich in Schrecken einzugestehen: Welche Eiseskälte!

Aus der verführerischen, lügnerischen Hand zu Beginn wird am Ende die kalte, wahre Hand des Todes. Die Lüge wird aufgedeckt. Die Maske fällt. Zum Vorschein kommt der Tod, der wahre Antreiber des frivolen Spiels. Um so schlimmer, daß Don Giovanni in seiner Besessenheit seinen eigenen Lügen ein Leben lang auf den Leim ging. Aber wie könnte es auch anders sein. Er, an erster Stelle, demonstriert schließlich in seinen mille e tre Eroberungen, was alle Mitspieler kennzeichnet: Die Weigerung, sich selbst wahrzunehmen.

Gnothi seauton – Erkenne dich selbst! –, so lautete die Inschrift am delphischen Orakel.

Der Imperativ gilt zu jeder Zeit. Die bourgoisen Damen und Herren, gleich ob sie Donna Anna oder Donna Elvira oder Don Ottavio heißen, müssen sich fragen, was sie selbst dazu beigetragen haben, daß Don Giovanni Don Giovanni blieb. Sie selbst! Man kann nur hoffen, daß sie, wie alle anderen Akteure, nach dem Fall des Vorhangs zu dieser Selbstkonfrontation bereit sind. Denn das uralte Lied, welches sie am Schluß allesamt anstimmen, »l’antichissima canzon« (oder the age-old moral, wie das englische Libretto übersetzt), wäre dann exakt dies: Selbstkonfrontation.