Samstag, 13. Dezember 2025

 Das letzte Opfer

»Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selber« (Röm 14,7)      

1556

Rom. Es ist der 30. Juli 1556. Der General des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, liegt im Sterben. Er bittet seinen Sekretär Polanco zum Papst zu gehen und um den päpstlichen Segen für den Sterbenden anzusuchen. Polanco ist ob dieser Bitte überrascht, »so krank sei er doch nicht; die Ärzte hätten von seiner baldigen Genesung gesprochen; ob er nicht den Auftrag bis zum andern Morgen verschieben dürfe, da er in dieser Nacht noch die überseeische Post zu erledigen habe.« In der Indifferenz des Jesuiten entgegnet der Ordensgründer: »Schön, wie Sie wollen. Ich überlasse mich ganz Ihnen.« Und Polanco eilt nicht zum Papst. Tatsächlich aber kommt der Tod, wie von Ignatius angedeutet, in der Frühe des 31. Juli. Er stirbt allein, ohne priesterlichen Beistand, ohne Viaticum. Der Sekretär eilt zwar, seinen Irrtum erkennend, in der Frühe zum Papst, doch es ist zu spät.

1981 

Châteauneuf-de-Galaure. Ein kleines Dorf im Süden Frankreichs, 45 km westlich von Grenoble. In einem Bauernhof, in der Höhe,  auf dem Hügel des Dorfes, liegt Marthe Robin seit fünf Jahrzehnten in ihrem Kinderbett: verkrümmt, unbeweglich, sich einzig von der heiligen Eucharistie ernährend. Den Ärzten ein Mirakel. Augenzeugen, unter anderem ihr geistlicher Begleiter, bezeugen die Vorkommnisse und die Tatsache, daß die Bettlägerige jede Woche die Passion Christi erlebt. Am Tag des Todes der Mystikerin, am 6. Februar 1981, findet man die Tote auf dem Boden der Kammer, offensichtlich gewaltsam aus dem Bett geworfen, derart bis zuletzt den geistlichen Kampf lebend. 

2025

Ich muß an eine Ordensschwester denken, die ich sehr schätzte. Ihr Leben: Ein Leben für andere. Und jeder, der sie kannte, wußte um ihr Lachen, ihre ausstrahlende Freude, noch dann, als sie, altersbedingt, zurückgezogen in einem Kloster für alte Schwestern lebte. 

Sie war die Verliebte. Ich, und so viele andere, hatten sie stets als die Verliebte wahrgenommen. Die Verliebte in ihren himmlischen Bräutigam.

Wenn ich sie in ihrem Kloster besuchte, hatte sie mir des öfteren mitgeteilt, daß sie, wenn es so weit wäre,  genau so bestatten sein wolle, wie es sich gehöre. Wie hätte es auch anders sein können? Ihr Bräutigam war in die nackte Erde gelegt worden. Also war es für sie eine unumstößliche Notwendigkeit, auch im Tod ihrem Bräutigam nachzufolgen. Eingeäschert zu werden, davor graute ihr, es war eine Abscheulichkeit für sie. 

Sie starb. Ich fuhr zu ihrem Begräbnis. In der Klosterkirche war vor dem Altar eine Art Katafalk errichtet. Ich verstand zunächst nicht. Ich wollte nicht verstehen. Erst nach Minuten drängte sich mir das Unausweichliche auf. Vorne, vor dem Altar, stand kein Sarg. Auf dem geschmückten Gerüst stand eine Urne. Ich wollte es nicht fassen. Und doch war es wahr. Schwester M., meine Schwester M., die ich fünf Wochen vor ihrem Tod zum letzten Mal gesehen hatte, war eingeäschert worden.

Ich habe erst später, nachdem ich stundenlang versucht hatte, meines Zorns Herr zu werden, verstanden, daß der Bräutigam von Sr. M. von ihr das letzte Opfer verlangt hatte. 

Grafik: https://sacerdos-viennensis.blogspot.com. Am Grab des hl. Ignatius in Rom.