Samstag, 8. Februar 2025

Der Krieg

Wir sind die Verwöhnten. Unsere Väter und Großväter waren im Krieg. Viele verloren ihr Leben oder wurden schwer verletzt.

Wir dagegen kennen den Krieg aus dem Fernsehen oder dem Internet. Wir sitzen im bequemen Sessel und schauen Bilder, die über den Bildschirm flimmern. Gemetzel, Kanonendonner, Blut. Der Krieg? Eine Bilderflut unter anderen.

Und dann liest man Gebt mir meine Berge zurück!, und die Fernsehbilder werden wie nichtssagender Staub weggewischt, und man beginnt zu ahnen, was der Krieg ist. Wass weiß, wovon er schreibt, denn er war selbst Opfer des Krieges. Vertriebener, Beraubter, mit dem Tod Bedrohter. Sein Buch schildert das, was der Krieg ist: realer Schrecken, der reale Menschen bis ins reale Mark trifft. Keine Metapher, sondern der Horror, der vernichtet. Hier paßt das Wort Kafkas: »Ein Buch muß die Axt ein für das gefrorene Meer in uns.«

Da ist nichts Romantisches oder gar Verklärendes. Stattdessen ist in jedem Satz der unaufdringliche Schmerz über das Verlorene anwesend, die Trauer über die Tatsache, daß der Mensch, wenn er seinem Abgründigen nicht widersteht, seinem Mitmenschen zum reißenden, feigen Wolf wird, und ebenso die unerschütterliche Gewißheit der Würde desjenigen, der die Güte im Schrecken zu retten versucht, noch dann, wenn der Horizont ein einziges dunkles Wolkenmeer ist:
»Nach dem Frühstück blieb ich draußen in der Küche, und der Fähnrich ging mit seiner Familie ins Zimmer. Die Kinder wurden hinausgeschickt. Sie kamen zu mir und fragten alles Mögliche über den Krieg, und ich erzählte es ihnen. Gott vergib mir, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gelogen. Aber die Fragen waren derart, daß man mit der Wahrheit nicht antworten konnte, nicht den Kindern. Sie fragten, ob wir viele Menschen getötet hatten, wir zwei mit dem Fänhnrich zusammen, und ich sagte ihnen, daß wir keinen einzigen getötet haben, denn man darf keine Menschen töten. Sie fragten, wie sie sind, die Toten, und ich sagte ihnen, daß die Toten hübsch seien und fröhliche Gesichter haben und lächelten, denn ihnen tut nichts mehr weh. Sie fragten, ob die Leute, die die Bomben von Flugzeugen aus auf die Städte warfen, sehr böse seien, schwarze Gesichter und schwarze Hände und lange große Zähne haben? Und ich antwortete ihnen, daß diese Menschen genauso gut und sanft seien wie die anderen, kleine Söhne und Töchter haben sie zu Hause, sie lieben die Blumen und die kleinen Kinder und die Bomben werfen sie nur auf die Städte, weil sie glaubten, daß die Städte leer seien. Hätten sie gewußt, daß dort Menschen, Frauen und Kinder sind, dann hätten sie die Bomben nicht abgeworfen, ganz sicher nicht. Dann fragten sie noch, ob ich Helden gesehen habe, und ich antwortete ihnen, daß jeder, der starb, ein Held war, und daß nur jene Helden waren, die starben. Und das war die einzige wahre Sache, die ich den Kindern erzählt habe.«
Und ein anderer Kriegsbericht fällt mir ein.
Der japanische Arzt Takashi Nagai wird 1937 in den japanisch-chinesischen Krieg einberufen. Fast dreißig Monate verbringt er als Oberleutnant und Chefarzt der Chirurgie an der Front. Es sind Monate, die, wie sein Biograph schreibt, »ihm die Augen öffneten für die moderne Barbarei des Militärs«. Man könnte dies für eine routinierte Floskel halten, mit der man halt den Schrecken des Krieges zu domestizieren versucht. Aber dann liest man ein paar Sätze aus dem Kriegsalltag von Nagai und - auch hier - alles denkbar Routinierte zerplatzt wie die sprichwörtliche Seifenblase und hervorkommt der wirkliche Mensch in seiner wirklichen Not.   
»Einige Wochen später, als er in dem großen Zelt des Feldlazaretts operierte, wurde er Zeuge einer hitzigen Auseinandersetzung, die neben ihm stattfand. Er hörte zu: Aber ich muß amputieren! Schauen Sie, was ist wichtiger für Sie, Ihr Leben oder Ihr linker Arm? Der Soldat schluchzte, als er antwortete: Mein linker Arm. Ich bin Geigenspieler. Ein Mann wurde hereingetragen, dessen Kiefer auf beiden Seiten von einer Kugel durchbohrt worden war. Versuchen Sie, ihm etwas flüssige Nahrung zu geben, sagte Nagai zu einem Sanitäter. Die Kämpfe tobten weiter und die Nahrungsmittel waren ausgegangen. Der junge Sanitäter entschloß sich, nach Vogeleiern zu suchen, doch er fand keine, weil es Herbst war. Er sah eine Biene und folgte ihr. Stunden später kehrte er mit einem Tornister voller Honig zurück – doch sein ganzes Gesicht und seine Hände waren mit Stichen übersät. Krieg, schrieb Nagai in sein Notizbuch, bringt sowohl das Beste als auch das Schlechteste im Menschen  hervor.«