Samstag, 18. September 2021

»Wer Talent in sich birgt...«

Was darf Kunst?

Alles, so der moderne Zeitgenosse.

Dementsprechend fallen etliche der sogenannten Kunstprodukte aus. Blasphemien allenthalben. Obszönitäten als neue Regel. Scharlatanerie.

Wer wirklich wissen will, welche Verantwortung der Künstler hat, der sollte Gogol lesen. Zum Beispiel die längere Erzählung Das Bildnis (auch übersetzt als Das Portrait) aus den Petersburger Geschichten.

Gogol erzählt von einem Maler, der eines Tages, als er in einem Auftragswerk den Teufel, den »Geist der Finsternis«, porträtieren soll, das Bildnis eines Wucherers anfertigt, in dessen zwielichtiger Gestalt offensichtlich das Dämonische sein Unwesen treibt.

Zum Ernst des russischen Schriftstellers gehört, daß er im Laufe seiner Erzählung die Konsequenzen aufzeigt, die das dargestellte Dämonische in den Personen auslöst, die mit ihm in Kontakt kommen. Zunächst der Maler selbst: Sein Charakter wird durch die  Herstellung des Bildnisses affiziert derart, daß er, der bislang ehrlich und geradlinig lebte, von der Destruktionskraft des Dämonischen befallen wird.

Aber auch die wechselnden Käufer des Portraits kommen nicht ungeschoren davon. Gogol zeigt ohne jede melodramatische Überhöhung die Spur des Bösen im Leben derjenigen, die sich dem Bösen goutierend aussetzen.

Was den Maler selbst betrifft: Er versteht schließlich den Greuel seiner Tat, daß nämlich »sein Pinsel dem Teufel als Werkzeug gedient« hat, und geht in die radikale Bekehrung. Er zieht sich büßend in ein Kloster und endlich in eine Eremitage zurück und versucht auf diese Weise gutzumachen, was sein entweihter Pinsel an Unheil angerichtet hat.

Nach Jahren der Askese, des Verzichts, des Verstummens und der Reinigung ist er, auf Wunsch des Klostervorstehers, bereit, erneut den Pinsel zu ergreifen: »Jetzt bin ich bereit. So Gott will, werde ich mein Werk vollbringen.« Und das Werk, welches er wählt, ist die Geburt Christi.

Damit ist Gogols Geschichte noch nicht zu Ende.

Der Sohn des Malers, der gleichfalls Maler ist und also in die Fußstapfen seines Vaters tritt, besucht als Zwanzigjähriger seinen Vater in dessen klösterlicher Einsamkeit, um von ihm Abschied zu nehmen, bevor er auf eine Kunstreise nach Italien aufbricht. Er erwartet, einen ausgezehrten, vertrockneten Greis anzutreffen. Um so überraschter ist er, »als ich einen schönen, fast göttlichen alten Mann vor mir sah.«

Die Begegnung ist ergreifend in ihrer Schlichtheit und Größe. Der Vater spricht zu seinem Sohn über die Verantwortung des Künstlers: »Wer Talent in sich birgt«, so heißt es gleichsam testamentarisch, »dessen Seele muß reiner als alle anderen sein. Anderen wird vieles vergeben werden, ihm nicht.«

Es dürfte klar sein: Hier spricht jemand, der über die gefälligen Worte längst hinaus ist. Das Gesicht des Vaters, sein Leib, seine Augen, sein ganzes Wesen strahlen die herrliche Verantwortung aus, von der er in einfacher Festigkeit Zeugnis gibt. Leben und Kunst vereinen sich zur wunderbaren Einheit, ja, das Leben, das schöne, makellose Leben des Heiligen ist das Kunstwerk in seiner überzeugendsten Ausprägung.

Und der Vater segnet seinen Sohn und bittet diesen, das besagte Bildnis, sollte er es finden, um jeden Preis zu vernichten. Daß dies (ohne Schuld des Sohnes) vereitelt wird, spricht für die Unbestechlichkeit des gogolschen Realismus. Der Leser der Erzählung jedenfalls weiß genug. Er weiß, was Kunst darf. Und er weiß, was Kunst nicht darf.