Freitag, 8. November 2019

Die konkrete Verantwortung

»Konkrete Verantwortung kann es nur geben, wenn sie zugleich von anderen Verantwortlichkeiten dispensiert (…) Wenn wir alle unsere Handlungen messen müßten an dem, was universell für alle das Beste ist, dann könnten wir überhaupt nicht handeln.«

Robert Spaemann, von dem dieses Diktum stammt, liefert in dem späten Interviewband Über Gott und die Welt zugleich ein konkretes Beispiel, um das Gemeinte zu verdeutlichen:

»Die Nationalsozialisten stellten einen Polizisten vor die sadistische Alternative, eigenhändig ein zwölfjähriges jüdisches Mädchen zu erschießen oder in Kauf zu nehmen, daß zehn andere Juden erschossen würden. Der Polizist schoß. Er glaubte, die Verantwortung zu haben für den Tod der anderen, wenn er nicht geschossen hätte. Anschließend landete er in der Psychiatrie. Nein, er hätte diese Verantwortung nicht gehabt. Er hatte in diesem Augenblick nur die Verantwortung für das Kind.«

In Shusako Endos berühmtem Roman Schweigen, 2016 von Martin Scorsese verfilmt, kommt es am Ende zu folgender Zuspitzung: Der Priester Sebastiao Rodrigues, Jesuit, ist zur Zeit der Christenverfolgung im Japan des 17. Jahrhunderts in Gefangenschaft. Mitgefangene von ihm werden grausamst gefoltert. Das Angebot, welches ihm schließlich von den Exekutoren wie von einem seiner Mitbrüder, der seit Jahren abgefallen ist, gemacht wird: Wenn er, Sebastiao, gleichfalls dem christlichen Glauben abschwört und dies derart bezeugt, daß er gotteslästerlich mit seinen Füßen auf ein Jesusbild tritt, werden seine Mitgefangenen begnadigt.

Sebastiao willigt am Ende ein und tritt auf das Jesusbild.

Mal abgesehen von den verqueren theologischen Deutungen Endos (die im übrigen von vielen seiner christlichen Landsleute vehement kritisiert wurden): Hatte Rodrigues die Verantwortung für die gefolterten Christen? - Ja. Hatte er damit die Verpflichtung, das perverse Angebot der Peiniger anzunehmen? - Nein.

Denn die konkrete erste Verpflichtung des Paters ist, der widerlichen Erpressung zu widerstehen und sich nicht umzubringen. Denn das sadistische Angebot der Folterer läuft genau darauf hinaus: Rodrigues tötet sich, um auf diese Weise das Leben der Anderen zu retten.

Dies ist keine Metapher. Im Abspann des Romans wird in knappen Sätzen der faktische Selbstmord des jungen Jesuiten registriert: Er ist nicht länger Priester, die Frau eines Verstorbenen wird ihm zugeführt, an seinem Lebensende wird er buddhistisch eingeäschert. Mit anderen Worten: Der Priester Sebastiao Rodrigues hat sich durch die Übernahme einer falschen Verantwortung und dem damit einhergehenden Verrat an seiner gottgegebenen Berufung tatsächlich ausgelöscht. Aber geistiger Selbstmord ist keine Hingabe.

Hingabe ist: Sebastiao macht den Häschern freiwillig das Angebot, stellvertretend für die Mitgefangenen in den Tod zu gehen. Sie sollen ihn in die Foltergrube hängen und die Anderen frei lassen.

Wenn die Folterer auf diese Hingabe nicht eingehen und die Mitgefangenen dennoch töten, dann ist dies ihre Entscheidung. Der Pater hat sein Äußerstes getan. Nicht er tötet, die Anderen töten. Für die perverse Logik der Folterer ist er nicht verantwortlich.