Freitag, 8. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge I

Der Vater hat zwei eheliche und zwei außereheliche Kinder. Er lebt, als Witwer, zusammen mit einer Frau, die eigentlich mit einem anderen verheiratet ist, der jedoch seine Frau großzügig an den Witwer abgegeben hat und danach auf Pilgerschaft geht.

Der eine uneheliche Sohn, der Jüngling, liebt leidenschaftlich Katerina, die Tochter des alten Fürsten Ssokolskij. Sein Vater liebt leidenschaftlich dieselbe Frau. Die legitime Tochter des Vaters beabsichtigt den alten Fürsten zu heiraten, so daß sie – wenn die Ehe zustande käme – die Schwiegermutter ihres eigenen Vaters würde. Alles klar?

Nein, nichts ist klar in diesem späten Roman Dostojewskis. Anything goes wird es exakt 100 Jahre später heißen, ein nachgerade populär gewordener philosophischer Slogan, der einem Musical entstammte. Bei Dostojewski ist das philosophische Kürzel längst Wirklichkeit geworden, denn das wabernde Konturlose ist termitengleich überall am Werk.

Doch kein Musical entsteht, sondern bitterste Realität. Daß dazu wie selbstverständlich Selbstmorde gehören, versteht sich. Ein desillusionierter Revolutionär gibt sich die Kugel, eine sozial Deklassierte erhängt sich, ein Gauner erschießt sich gleichfalls.

Wo der Kern jedes sozialen Gefüges zerbricht – und dieser Kern ist die Familie –, dort zerbricht die Welt.

Das ist kein wohlfeiles Bonmot, sondern der auf 800 Seiten dargelegte Realismus in dem 1875 veröffentlichten Roman Dostojewskis Der Jüngling, neuerdings als Ein grüner Junge ins Deutsche übersetzt. Die Risse der zerbrechenden Welt sind überall. Und diese Risse sind keine nebensächlichen Blessuren, sind nicht euphemistisch herunterzuspielen, sondern werden von Dostojewski bis aufs Mark bloßgelegt.

Vielleicht zeigt nichts mehr den schonungslosen Chirurgen Dostojewski als die folgende Szene, die, dessen darf man gewiß sein, der russichen Seele des Autoren ein Letztes abverlangte:

Andrei Petrowitsch, der Vater des Jünglings, dieser zutiefst Zerrissene, der nicht umsonst von seinem Ich und von seinem Doppelgänger-Ich spricht, nimmt in einem Anfall gesteigerten Wahnsinns ein Heiligenbild, eine dem Russen so verehrungswürdige Ikone, um eben dieses heilige Bild mit aller Kraft an die Kante des Kachelofens zu schleudern, wo die Ikone in zwei Teile zerbricht.

Was bleibt, so die quälende Frage, die im Grunde auf jeder Seite in Dostojewskis Roman Der Jüngling sich stellt, wenn die Welt aus den Fugen gerät?