Mittwoch, 11. Januar 2017

Teodor C.

Jeder, der klassische Musik hört, wird’s wahrscheinlich kennen: Die Suche nach der idealen Interpretation.

Ist es Furtwängler? Oder Günter Wand? Oder Karajan? Oder doch Celibidache?

Dann taucht plötzlich ein neuer Name auf: Teodor Currentzis. Teodor Currentzis? Wer ist denn das?

Die Kritiker überschlagen sich in ihren Rezensionen. Der Dirigent aus dem tiefsten Ural – gleichsam am Rande der Welt, wie irritiert betont wird – sprengt alte Hörgewohnheiten auf. Und jetzt hört man Mozart neu. Cosi fan tutte – so muß sie klingen. Endlich. Und die üblichen Vokabeln fallen: Magier. Rebell. Genie.

Ich habe mir Currentzis angehört. Die Musik, die er dirigiert; aber auch die Interviews, die er gibt. Spiritualität, so er, ist erstes Kennzeichen seines musikalischen Ensembles. Zweitens: Die Freiheit. Drittens: Die Hingabe.

Und tatsächlich: Sein Dirigat hörend, muß man oft lächeln – vor Glück. Weil in der Musik das unfaßbare Leben hörbar wird. Dieses Leben, welches staunen macht und welches auch Noten nicht einfangen können, welches aber sehr wohl durch Noten, wenn es gute Noten sind, die gut gespielt werden, zum Aufleuchten gebracht werden kann.

Und ist es nicht das, was die Hörer an Currentzis letztlich fasziniert? Da ist die Begeisterung – zum Beispiel für Mozart (den Currentzis »simply the best« nennt) – zu hören. Doch in dieser Begeisterung und Hingabe sprudelt die Leidenschaft für das Leben, welches die Musik bezeugt und besingt. Und schlagartig ist ein Schmerz zu hören, den man in anderen Aufnahmen nie gehört hat, oder eine Sehnsucht wird wahrnehmbar, die man stets überhört hat, die aber jetzt plötzlich wie unter Schleiern zum Vorschein kommt. Und man weiß wieder, daß das Leben kein Einerlei ist, sondern ein Abenteuer, ein wahres Wunder, eine Reise, oder, wie es die Gläubigen nennen, eine Pilgerschaft zur Ewigkeit.

Die Spieler des Currentzisschen Ensembles – das bezeichnenderweise MusicAeterna heißt – hält es bisweilen nicht auf ihren Sitzen. Dann mag es sein, daß einige der Ausführenden den stürmischen Beethoven und seine Fünfte mitgerissen im Stehen spielen. – Übertrieben? – Vielleicht. Aber könnte es nicht sein, daß wir in Zeiten mitmenschlicher Betäubtheit manchmal erst aufwachen, wenn wir sehen, daß es das wirklich gibt: Mitgerissensein?

In einem Interview sagt Teodor Currentzis: »To create the truth you need a kind of exile.« Das übersetzt der Kommentator mit: um an das Echte der Musik zu kommen. Aber nicht das hat der Dirigent gesagt, sondern Currentzis spricht von der Wahrheit: »Um die Wahrheit zu schaffen, brauchst du eine Art Exil.« Genau darum geht’s – um die Wahrheit. Denn Mozart und Beethoven und Strawinsky wollen zur Wahrheit. Und solange Teodor Currentzis und sein Ensemble diesen Willen zur Wahrheit haben, darf man auf lebendige Hörerlebnisse gespannt sein.

Und die ideale Interpretation?

Die gibt es nicht. Denn das Exil, von dem Currentzis immer wieder spricht, ist nicht nur in Perm im Ural. Das Exil ist überall. Und im Exil, das macht das Exil zum Exil, ist man auf dem Weg zur Heimat, nicht in der Heimat. Und erst dort, in der Heimat, wird es den vollendeten Klang geben. Große Kunst hilft uns, die Sehnsucht nach dieser ewigen Heimat nicht zu verlieren. Gute Interpretationen tun das Gleiche.

Grafik:   Unsplash. ersauunq3ag-kimberly-richards.jpg