Freitag, 29. Dezember 2017

Das Geschenk der Hirten


Göttliches Kind in der Krippe, meine einzige Liebe.
Ich bringe Dir das Geschenk der Hirten:
Mein Herz, meine Liebe und meine stumme Anbetung.

Marthe Robin, 9. Jänner 1931


Freitag, 22. Dezember 2017

Wer sich bückt

Jeder, der heutzutage nach Bethlehem pilgert und dort die Geburtskirche aufsucht, um bei der Geburtsgrotte Jesu anzukommen, weiß, daß er sich bücken muß.

In weit zurückliegenden Jahrhunderten mag es anders gewesen sein. Heute jedoch ist der Eingang zur Geburtskirche derart niedrig, daß man nur dann Einlaß findet, wenn man sich niederbeugt, um so durch die enge Pforte ins Innere der Basilika zu gelangen.

Das erinnert an ein anderes Bücken. Es steht geschrieben im Neuen Testament, beim Evangelisten Lukas, 24. Kapitel, Vers 12. Frauen, die am Ostermorgen beim Grab Jesu waren, kommen zu den verängstigten Jüngern und berichten, daß das Grab leer sei. Die Apostel halten dies für Geschwätz.

Petrus macht sich schließlich selbst auf den Weg zum Grab, er läuft, er will es wissen, und »als er gebückt hineinging, sah er nur die Leichentücher daliegen« (Übersetzung Berger/Nord).

Geburt und Tod. Zweimal muß man sich bücken. Dann kommt der, der wissen will, weiter.

Freitag, 15. Dezember 2017

Die Tatsachen


Elche sind zur Zeit in.

In den Schaufensterauslagen sind sie die bevorzugten Vierbeiner. Vorzugsweise dekoriert mit Sternen und glitzernden Kugeln und Kunstschnee.

Selbst die österreichische Post darf da nicht hinten anstehen. Gestern am Schalter, als ich Weihnachtsbriefmarken erstehen wollte, sagte mir die freundliche Dame, daß leider schon alle ausverkauft seien. Es gäbe allerdings noch eine 50er-Rolle mit einem anderen Motiv. Sie zeigte mir die Rolle – da war er wieder, der Elch. Und wir beide, die freundliche Dame und auch ich, waren einer Meinung: »Wie dämlich.«

Was ist es letztlich, was diese Dämlichkeit ausmacht?

Es ist die Tatsache, daß krampfhaft Tatsachen geleugnet und durch Surrogate ersetzt werden. Die Geburt Christi ist eine Tatsache, ja, sie ist die Tatsache, die seit ihrem Ereignis die Welt grundlegend verwandelt hat. Wie könnte es auch anders sein? Gottes Sohn wird nicht mal so einfach Mensch und nichts passiert. Vielmehr ist es so: Gott wird Mensch und die Welt ist von Grund auf eine andere. Zeugen dafür gibt’s zuhauf.

Gleich, ob man den religiösen Inhalt, sprich die Frohe Botschaft des Faktums, annimmt oder nicht, die Tatsache bleibt bestehen. Die Geburt Christi ist geschehen und nicht rückgängig zu machen.

Aber da wir nun mal in der Epoche des grenzenlosen Genderns sind, ist es nur zwangsläufig, daß Weihnachten gegendert wird zum Fest der Elche. Keine Krippen in den Schaufenstern, kein Christkindl.

Das Dumme daran ist nur, daß Tatsachen etwas an sich haben, was in das Szenario des Beliebigen nicht paßt: Sie sind widerständig. Man kann noch so viele Elche aufmarschieren lassen und noch so viele rote Zipfelmützen, irgendwann sagt ein Kind: »Der Kaiser ist ja nackt.«

Bleibt die Frage: Warum so viel Beliebigkeit?

Auch da kann die Tatsache weiterhelfen, und zwar das Wort selbst. Das nackte Wort Tatsache bringt nämlich Wesentliches zum Ausdruck. Wenn der Mensch bereit ist, sachlich die Wirklichkeit zu betrachten, und das heißt ohne Vor-Urteile oder Manipulationen, dann gelangt er zusammen mit der seinsadäqaten Annahme der Wirklichkeit (der Sachen) zugleich zum rechten Tun (der Tat). Mit anderen Worten: Tatsachen sind Sachen, die sachlich betrachtet sein wollen und genau so, in der praktizierten Sachlichkeit, zur Tat führen.

Das aber heißt, daß die sachliche Betrachtung der Wirklichkeit mitunter sehr herausfordernd sein kann. Was nämlich tue ich, wenn ich bemerke, daß die Tatsachen meine Auffassung der Wirklichkeit stellenweise als Illusion entlarven? Wenn ich mich also, soll es mit rechten Dingen zugehen, zu ändern hätte? Was mache ich, wenn ich – nehmen wir mal an in einer kritischen Phase meines Lebens – feststelle, daß mich kein Elch rettet, wohl aber der menschgewordene Sohn Gottes mich tatsächlich zu retten vermöchte?

Und man bedenke auch dies: Diskriminieren wir nicht die Elche! Ein Elch freut sich, wenn er mit Ochs und Esel hinter der Krippe stehen oder auch liegen darf. Aber ein Elch kommt aus dem Rotwerden gar nicht mehr heraus, wenn man ihn permanent dazu mißbraucht, das neue Weihnachtsmaskottchen zu sein.

Grafik:    Bethlehem, Geburtsgrotte. Von DE.MOLAI – wikicommons.

Freitag, 8. Dezember 2017

Die Immaculata II

 

Wie oft sind doch unsere Vorstellungen arg verkürzte.

Zum Beispiel: Wenn wir die Muttergottes die Immaculata nennen, die Makellose, die Unbefleckte, die Reine, dann denken etliche sogleich reflexartig ausschließlich in Begriffen der Sexualität und Geschlechtlichkeit. Diese Reduktion mag damit zusammenhängen, daß uns das Konzept von Reinheit nahezu gänzlich aus dem Blick geraten ist.

Kierkegaard kann da weiterhelfen. Nach ihm ist Reinheit: Eines wollen. Das trifft es sehr gut. Denn Reinheit ist ein Konzept, welches den ganzen Menschen angeht, seine Gedanken, seine Gesinnung, seinen Leib.

Paulus schreibt im zweiten Brief an die Korinther: »Wir nehmen alles Denken gefangen, so daß es Christus gehorcht« (10,5), und im berühmten Hymnus des Philipperbriefs mahnt der Apostel, daß es darum gehe, die Gesinnung Christi anzuziehen (2,5).

Maria tut exakt dies: Sie lebt und bewegt sich und ist in Christo. Darum gibt es in ihr keine Stelle, die aus der Einheit mit Christus herausfiele. Maria ist die personifizierte Einheit. Sie will nur das, was ihr Sohn will. In diesem Fall ist allerdings das »nur« keine Formel der Einschränkung oder Minderung, sondern die Formel der Fülle, denn ihr Sohn ist das Leben in Fülle.

Wer folglich zu einer Haltung der inneren wie äußeren Einheit finden will, heraus aus der Gefährdung der modernen Unruhe und Zerrissenheit hin zu dem geraden, reinen Blick, zur nüchternen, weltoffenen Gesinnung, zum unverdorbenen Ja an die göttliche Fügung und dem kummerlosen, da wahrhaft freien Einverständnis den Wellenschlägen des Lebens gegenüber, der sollte Maria zu seiner Lehrmeisterin nehmen.

In einem Hymnus zum Hochfest der Immaculata heißt es:
Sünde hat mit böser Macht
nie dein Innerstes betört (…)
So ist es. Keine Torheit ist in Maria. Sie ist die kluge Lehrmeisterin. Die wahrhaft Vernünftige.

Grafik:    P. Otto Bitschnau, 12 Kopf-Vignetten zu Anfang der Monate (von P. Rudolph Blättler O. S. B.) – Das Leben der Heiligen Gottes. wikicommons

Freitag, 1. Dezember 2017

Carpe diem


Ein altbekannter Hochzeitsbrauch ist folgender:

Wenn die Neuvermählten aus dem Kirchenportal treten und in die Gesichter der Hochzeitsgäste und Gratulanten schauen, die bereits vor der Kirche auf sie warten, dann nimmt die Ehegattin irgendwann ihren Hochzeitsstrauß und wirft ihn in die Menge. Und es heißt, daß diejenige junge Frau, welche diesen Strauß auffängt, als nächste zum Traualtar treten wird.

Ein schöner Brauch. An ihn mußte ich in einem ganz anderen Zusammenhang denken. Und zwar bei einer Beerdigung. Dort wird, wenn für den betreffenden Verstorbenen und für alle Verstorbenen gebetet wird, in den Fürbitten auch desjenigen gedacht, der als nächster vor Gottes Thron treten wird. Auch hier wird eine Art Blumenstrauß überreicht, diesmal in Art einer Fürbitte, für einen anderen Hochzeitsstag, nämlich den endgültigen, da die Seele ihrem himmlischen Bräutigam Christus auf immer vermählt werden soll.

Wenn man diese beiden hohen Tage zusammendenkt, dann gewinnt man eine Vorstellung vom Realismus der Kirche. Sie geht unbeirrt durch die Zeiten und reicht einem jeden der Gläubigen die helfende Hand – dem, der Hochzeit feiert, und dem, der stirbt. Dabei ist die Ausrichtung der Kirche stets die gleiche: Sie will, daß durch die Zeiten hindurch der ihr Anvertraute die Tage seines Lebens gut lebt. Gut leben heißt mehr als satt sein und sich alles leisten können, was nun mal zum Leben dazugehört. Gut leben im Sinne der Kirche heißt, den Ernst des Lebens zu erfassen und jeden Tag sub specie aeternitatis zu leben, was meint: Im Blick der Ewigkeit.

Das ist keine Vertröstung auf das Jenseits, wie billige Christentumskritik meint. Es ist vielmehr die Blickrichtung, die dem Leben die einzig sinnvolle Tiefe oder auch Höhe verleiht, denn sie gibt jedem Tag die unausdenkbare Fülle und den unverlierbaren Ernst.

Wer an einem offenen Grab steht und auf den herabgesenkten Sarg schaut, wem sodann der Totengräber die Schaufel mit Erde in die Hand drückt, damit der Gläubige einen letzten Gruß der Erde dem Verstorbenen mit auf den Weg gibt, der weiß, daß der Realismus der Kirche zugleich radikal bis zum Äußersten und befreiend bis zur Schmerzgrenze ist.

Denn die katholische Kirche macht einem nichts vor. Du Mensch, so sagt sie ungeschönt, bist sterblich. Die nackte Wahrheit wird nicht vertuscht, sondern in die Mitte gerückt. Denn nur wer sich der Wahrheit aussetzt, darf hoffen, in die Weite zu gelangen. Der Blumenstrauß der Braut wird verwelken, aber das macht nichts. Die neue Braut, die auserwählte, die einst den Blumenstrauß ihrer Vorgängerin in Empfang nahm, tritt nach vorne und gibt heute am Altar ihr Jawort.

Doch einmal wird das letzte Jawort fällig. Für diese Bereitschaft bereitet die Kirche vor, auf daß wir, wenn es soweit ist, ein volles, kräftiges, furchtloses Ja zu sprechen vermögen. Dies geht freilich nur, wenn wir uns in der Kirche und mit der Kirche in die ars moriendi haben einüben lassen, in die Kunst des täglichen Sterbens.

Bei Hebbel heißt es in einem wunderbaren, wehmütigen Gedicht:
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
So weit im Leben ist zu nah am Tod!
Ja, Leben und Tod, wie nahe. Welche untrennbaren Geschwister! Der Hochzeitsstrauß, die Schaufel Erde, die Fürbitte für den nächsten Abschiednehmenden – man könnte starr vor Staunen sein, wären sie nicht allesamt Hinweise für den anderen Tag, der nicht verwelkt: Für den jungen, den blühenden, den ewigen Tag.

Die Alten mahnten: Carpe diem! Pflücke den Tag! Es ist allerdings eine Verkürzung, wenn man dies so interpretiert, als hätten sie mit diesem Imperativ dem grenzenlosen Genuß das Wort geredet beziehungsweise dem, was man heute in die Formel preßt: Man muß alles aus dem Leben herausholen. Während die Moderne verzweifelt von einem Vergnügen ins andere taumelt, sich derart in einem Schein von Leben verbeißend, an dessen ewiges Zuhause sie nicht länger glaubt, waren die Alten klüger.

Carpe diem sagen sie. Aber das besagt mehr, viel mehr, als ein gieriger Griff wähnt. Es besagt: Schau die Rose, schau den Tod. Und pflücke das Leben, das ewige.

Grafik:    Photo by Ivan Jevtic on Unsplash

Freitag, 24. November 2017

Was mir der Starez erzählt


Eines Tages war die Rede davon, ob es auf der Welt jemanden gebe, den der Herr nicht liebt. Alle wußten die nach den Lehrbüchern korrekte Antwort und riefen schnell wie aus einem Mund: »Der Herr liebt alle!«

Doch da sagte Vater Rafail auf einmal: »Stimmt nicht! Die Furchtsamen liebt der Herr nicht!«

(aus: Bischof Tichon Schewkunow, Heilige des Alltags, Sankt Ottilien 2017)

Grafik:    Photo by Joshua Ness on Unsplash

Freitag, 17. November 2017

Was mir die Vögel erzählen


Von einem befreundeten Priester weiß ich das Folgende:

Seit geraumer Zeit lebt er in der denkbar größten Spannung. Einerseits weiß er, daß das Meßopfer, welches er täglich darbringt und welches ihm täglich zur unausdenkbaren Freude wird, das größe Geschenk ist, das er der Welt zu bringen hat.

Andererseits weiß er, daß er selbst, der Priester, zur Gänze unwürdig ist, eben dieses Meßopfer darzubringen, derart, daß es ihm vorkommt, es wäre das Angemessenste, aufgrund besagter Unwürdigkeit, eine geraume Zeit auf die Zelebration der heiligen Messe zu verzichten, um sich besser vorzubereiten auf das Geheimnis. Vergleichbar dem, was ein anderer getan hatte, nämlich der Gründer des Jesuitenordens, der nach seiner Priesterweihe nicht sogleich zum Altar geschritten sei, sondern nahezu ein Jahr lang sich auf die erste Feier der heiligen Messe vorbereitet habe.

Wenn ich diesen Priester betrachte, so scheint mir, vorausgesetzt mein Betrachten ist ein rechtes, daß er ein guter Hirte ist. Ich sehe in ihm das Wachsen des Kreuzes.

Das Kreuz ist ein blühender Baum, aber nicht sogleich. Zunächst ist das Kreuz ein Winziges, kaum merklich. Ein Trieb, ein fast Übersehbares. Und irgendwann, und man weiß nicht so genau, wann der Zeitpunkt der Sichtbarkeit kam, ist das Kreuz errichtet. Vielleicht nicht einmal hoch errichtet, vielleicht eher als ein klein errichtetes Kreuz (oder als eine Art Dornenkrone). Aber das macht nichts. Es ist jedenfalls sichtbar. Es ist errichtet. Und auf den Balken dieses Kreuzes oder auch in der Dornenkrone beginnen sich die Vögel des Himmels niederzulassen und zu zwitschern.

Wer ein gutes Gehör hat, vielleicht sogar ein absolutes Gehör, hört womöglich, was die Vögel singen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich einmal das Da pacem, Domine vernommen.

Grafik:    Photo by Andreas P. on Unsplash

Freitag, 10. November 2017

et – et


Das Wort Jesu ist bekannt: Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen (Mt 5,37).

Hier geht es offensichtlich um ein glasklares entweder – oder. Denn dort, wo es sich zu entscheiden gilt zwischen wahr und falsch, gut und böse, Recht und Unrecht, dort kann es keine klebrigen Kompromisse geben, dort ist das eindeutige Wort gefordert.

Doch gibt es auch die Situationen, wo das andere Herrenwort anzuwenden ist: Man soll das Eine tun und das andere nicht lassen.

In diesen Situationen, in denen nicht die Wahl zwischen gut und böse zur Debatte steht, sondern der Fortschritt im Guten, wäre es geradezu fatal, wenn man aus einem rigorosen Schwarzweißdenken heraus, das Ganze aus den Augen verlieren und krampfhaft die Erlebnisfülle auf ein nichts als reduzieren würde.

Das hört sich dann etwa so an: Im Glauben, so konstatiert ein Theologe kategorisch, gehe es nicht um das Fürwahrhalten von Sätzen, gar um das Fürwahrhalten von Aussagen des Katechismus, sondern um Erfahrungen. Oder, so ein Kollege des Vorgenannten: Im Glauben gehe es mitnichten um die Einhaltung von Geboten, sondern um das Erleben liebevoller Beziehungen, und exakt dies, und nur dies, sei das Wesen der Kirche.

Dieses Ausspielen des einen gegen das andere ist schlicht und ergreifend falsch. Natürlich geht es im Glauben auch um das Befolgen von Geboten, nicht umsonst sagt Jesus selbst im Johannesevangelium: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt (14,21).

Diese Fülle des sowohl – als auch, zum Beispiel des Ineinander von Liebe und Gebot, faßt die katholische Theologie in die prägnante lateinische Formel des et – et.

Ob man selbst zu denjenigen gehört, die dazu neigen, die Wirklichkeit sträflich zu verkürzen, wobei, und das ist sehr bezeichnend, meist der Teil der Wirklichkeit unter den Tisch fällt, der als zu anspruchsvoll (»die Gebote«), zu streng (»der Katechismus«), zu präzise fordernd (»die Wahrheit«) gilt, das kann man an einem einfachen Exempel überprüfen.

Es stammt aus den Apophthegmata patrum, der klassischen Sammlung von Wüstenvätersprüchen. Berichtet wird in aller gebotenen Kürze vom Sündenfall und der anschließenden Buße zweier Mönche. Wen der zwei Büßenden, so können wir uns als Leser der Geschichte, die mehr als eine Geschichte ist, fragen, hätten wir selbst auf Anhieb als den echten, liebevollen Büßenden akzeptiert, während wir selbstredend den anderen als den ewig engstirnigen bedauert hätten?

Unsere Geschichte gibt – ganz gegen den simplifizierenden Trend – die überraschende Antwort.
Zwei Brüder, die von der Wollust angefochten wurden, gingen hin und nahmen sich Frauen. Hernach aber sagten sie zueinander: »Was haben wir nun eigentlich gewonnen, daß wir die Ordnung der Engel (gemeint ist: den Mönchsstand) verlassen haben und in diese Unreinheit gekommen sind? Und endlich werden wir in das Feuer und in die künftige Folter kommen? Kehren wir zurück in die Wüste und leisten wir wegen dem, was wir getan haben, Buße.«
Und sie kamen in die Wüste und baten die Väter, daß man ihnen eine Buße auferlege, und bekannten das, was sie getan hatten.
Die Altväter schlossen sie für ein Jahr ein, und beiden wurde die gleiche Menge an Brot gegeben und die gleiche Menge Wasser. Ihrem Äußeren nach glichen sie sich.
Als nun die Zeit ihrer Buße um war, kamen sie beide heraus.
Und die Väter sahen, daß der eine fahl und abgehärmt aussah, der andere aber kräftig und freundlich. Man wunderte sich darüber, hatten doch beide genau das gleiche an Speise und Trank erhalten. Und sie fragten den, der blaß und betrübt aussah: »Welche Gedanken hast du in deiner Zelle gehabt?« Er antwortete: »Ich habe mir die Strafen, die ich für meinen Fehltritt zu erwarten habe, vor Augen gehalten, und aus Furcht vor ihnen fiel mir das Fleisch von den Knochen.«
Sie fragten dann auch den anderen, was für Gedanken er in seiner Zelle gehabt habe, und er antwortete: »Ich habe Gott Dank gesagt, daß er mich aus dem Unrat dieser Welt und von den Strafen der künftigen Welt herausgenommen und mich zurückgerufen hat in diesen engelgleichen Stand. Und in der beständigen Erinnerung an meinen Gott wurde ich froh.«
Da sagten die Altväter: »Beider Buße gilt vor Gott gleich.«

Grafik:    Photo by Billy Pasco on Unsplash

Freitag, 3. November 2017

Unverfügbar


Zum großen Kunstwerk gehört, daß es dem Zugriff entzogen ist.

Das hängt damit zusammen, daß der Rezipient dieses Kunstwerks intuitiv spürt, daß hier etwas am Werk ist, das blitzgleich die menschlichen Fähigkeiten und das Vermögen des Künstlers übersteigt. Man mag dieses Etwas Eingebung nennen oder Inspiration oder Begnadung. Jedesmal wird damit das Nämliche zum Ausdruck gebracht: Dieses Mehr, welches zu dem Bemühen des Künstlers dazukommt und die Sinfonie oder die Plastik oder das Buch herausnimmt aus dem Bereich des Verfügbaren und Manipulierbaren.

Dies läßt sich aufzeigen selbst ex negativo. Denn dort, wo man wähnt, dem großen Kunstwerk zu Leibe rücken zu müssen, indem man es etwa vermarktet bis zum Gehtnichtmehr, selbst dort entzieht sich das Meisterwerk, läßt sich wortwörtlich nicht kleinkriegen, es gelingt der Welt nicht, um Schiller zu zitieren, das Strahlende zu schwärzen. Das Meisterwerk bleibt, wie man schließlich kapitulierend eingestehen muß, unverwüstlich.

Oder, wie es hohe Herzen nennen: Was bleibt, ist das Rätsel und ist das Staunen.

Wie war es möglich, daß ein Pergolesi mit gerade mal 26 Jahren sein Stabat Mater komponieren konnte? Welche Kräfte waren am Werk, die Dantes Divina Commedia inspirierten? Oder Berninis Engel?

Michelangelo hat dem Geheimnis, welches hier waltet und welches ein Geheimnis der Schöpfung ist, in dem ursprünglichen Schöpfungsakt sich anzunähern versucht, in seinem Fresko der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Die beiden Hände von Gott Vater und dem darniederliegenden Adam kommen einander näher und näher. Aber Michelangelo zeigt nicht die Berührung, er zeigt nur die Annäherung, denn das Geheimnis, wie könnte es anders sein, bleibt im Unsagbaren oder zwischen den Zeilen oder in der dem Zugriff entzogenen Stille.

Mit dem Leben ist es nicht anders.

Wahrscheinlich empfindet ein jeder, und sei es noch so vage, unbestimmt, beim Blick in die Augen eines Babies, daß auch hier sich Unsagbares ereignet, angesichts dessen die vielsagenden Reaktionen oftmals das Lächeln oder die kindliche Ehrfurcht sind, welche beide Verhaltensweisen recht eigentlich die zwei Seiten derselben Medaille sind.

Und es gehört zur Unverfügbarkeit dieses Lebens, daß es gerade in seiner Kleinheit uns aus den Angeln hebt. Denn der Erwachsene, nach soundsovielen Enttäuschungen und Niederlagen und Verzweiflungszuständen, ist stets in der Gefährdung, sich Welten auszudenken, in denen die Macht und das groß Daherkommende und die Waffen das Sagen haben.

Bis dann dieser selbe Erwachsene dem Blick des Babies begegnet und plötzlich sich über den Kinderwagen beugt und seltsamste Laute von sich gibt, um den kleinen, winzigen Erdenbürger, der da wehrlos in seinem fahrbaren Bettchen liegt, zu einer Antwort zu bewegen, während der ach so erwachsene große Erdenbürger zugleich weiß oder unbewußt ahnt, daß dieses kleine Geschöpf vor ihm eine unausdenkbare, unverfügbare Macht in sich trägt – die Vollmacht des Schöpfers.

Grafik:    wiki commons

Freitag, 27. Oktober 2017

Das Kreuz II


»Warum fürchtest du dich vor dem Teufel? Biete ihm nur die Stirn. Fürchtest du für deine Stirne? Siehe – sie ist ja bezeichnet mit dem heiligen Kreuz.«


Grafik:    Photo by Nick Herasimenka on Unsplash

Freitag, 20. Oktober 2017

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«

Drei Beispiele.

Beispiel 1

Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon wurde ein Bestseller. Zwei Millionen mal verkauft, schließlich mit Weltstar Jeremy Irons verfilmt.

Berichtet wird von einem Gymnasiallehrer, der sein Gymnasium plötzlich verläßt, um sein Leben neu zu leben. Bevor er geht, erinnert er sich noch einmal an seine Schüler, etwa an Sarah Winter. Von ihr heißt es lapidar:
»Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. ›Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin‹, sagte sie eine Woche später, ›es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.‹«

Beispiel 2

Per Olov Enquist, Das Buch von Blanche und Marie. Erzählt wird die semihistorische Geschichte von Blanche Wittmann (einer Patientin des berühmten Pariser Nervenarztes Charcot, des Lehrers von Sigmund Freud) und der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Geschichte zweier Frauen, die vor der Zeit das leben, was man später ein emanzipiertes, selbstbestimmtes Frauenleben nennen wird. Über Blanche heißt es:
»Aus dem Tagebuch geht hervor, daß Blanche schon als Sechzehnjährige befruchtet wurde. Ihr Vater, der Apotheker war und seine Tochter auf viele Weisen liebte, führte da, auf ihre eindringlichen Aufforderungen hin, eine Abtreibung bei der Tochter durch. Als er das Instrument in sie einführte, begann er, eine Melodie zu summen, die, wie sie glaubte, von Verdi stammte. Da hatte sie Angst bekommen, weil sie erkannte, daß auch ihr Vater, der ja nur in gewissem Maße für die Situation verantwortlich und am Ende gezwungen gewesen war, ihren tränenreichen Bitten und den Appellen an seine Vatergefühle nachzugeben, vor Angst außer sich war.«

Beispiel 3

Commissario Brunetti in seinem ersten Fall. Mitten in der Romanhandlung taucht die beiläufige Frage auf, welche Zeitungen man denn so liest. Darauf der Kommissar:
»(…) wir lesen L’Osservatore Romano«, erklärte Brunetti, indem er das offizielle Organ des Vatikans nannte, in dem noch immer gegen Scheidung, Abtreibung und den verderblichen Mythos der Gleichberechtigung gewettert wurde.«

Das soll genügen, es ist eh stets die alte, abgedroschene Leier.

Abtreibung, so der inszenierte Diskurs, ist, wie die amerikanischen militanten Abtreibungsbefürworter lauthals behaupten, no big deal. Eine Lappalie, und demensprechend lapidar abzuhandeln. Bei einem Täßchen Tee oder, Donna-Leon-like, als ätzender, geschickt plazierter Zwischendurchprügel auf die katholische Kirche. Und wenn von Angst die Rede ist, dann nicht, weil die Abtreibung als der Horror verstanden würde, der sie tatsächlich ist, sondern weil krude Vater-Tochter-Gefühle ins Spiel kommen, welche, ganz im Gegenteil, die Abtreibung zum väterlichen Liebesakt (sic!) der Tochter gegenüber pervertieren. Verdi inklusive.

Man versteht, wenn man diese Ungeheuerlichkeiten liest, besser, warum ein Platon die Dichter aus seinem idealen Staat verbannte. Denn der griechische Weise hatte erkannt, wie viel Macht in der literarischen Lüge liegt. Und eben dieses Lügen war dem Weisen zuwider, denn die Lüge, so war ihm klar, verdirbt den Menschen. Mit anderen Worten: Wenn Dichter, dann nur unter der Voraussetzung, daß sich der Dichter der Wahrheit verpflichtet weiß, ganz gemäß dem Wort der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann, anläßlich einer Preisverleihung: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«

Heute allerdings gehört die Lüge bereits zum sogenannten guten Ton. Abtreibung – na und? Mehr noch. Wer zum gesellschaftlich tonangebenden Zirkel dazugehören will, der muß auf jeden Fall in der Frage der Abtreibung sein Einverständnis signalisieren, und sei es auch nur in einem beiläufigen Schwenk. Dann, und nur dann, gehört auch er dazu.

Karin Struck ist da ein dekuvrierendes Exempel. In den siebziger, achtziger Jahren publizierte sie bei Suhrkamp, was einer literarischen Weihe gleichkam. Entsprechend akklamierend reagierte das Feuilleton. Die Autorin wurde als Mitbegründerin der Stilrichtung Neue Subjektivität beachtet, geachtet, gefeiert.

Dann jedoch machte Struck einen kapitalen strategischen Fehler. Sie begann, ihre Abtreibung zu thematisieren. Und dies nicht in rosaroten, sondern in grellen, nichts beschönigenden Farben. Damit hatte Struck ihr künstlerisches Todesurteil unterschrieben. Diese neue Subjektivität war schlicht und ergreifend verboten! Sie hätte einfach wissen müssen, daß das goldene Kalb der Abtreibung nicht angetastet werden darf.

Die letzten Jahre ihres Lebens, mittlerweile zur katholischen Kirche konvertiert, widmete Karin Struck dem Kampf gegen die Lüge, welche Abtreibung zu einer Errungenschaft stilisiert. Sie starb, nicht einmal sechzig Jahre alt, in diesem Kampf.

Dienstag, 10. Oktober 2017

Gnothi seauton!

Das Wort, welches in der Oper Don Giovanni vermutlich am häufigsten vorkommt, lautet scellerato (Wüstling, Frevler, Verworfener). Gemeint ist damit die Titelperson. Und tatsächlich ist Don Giovanni genau das: Ein Wüstling.

Was freilich die um ihn Gruppierten nicht einsehen wollen, ist, daß sie selbst beitragen zu diesem Dasein des Wüstlings. Nicht so, als sei der Wüstling ein Opfer der Gesellschaft – was die postmoderne Version des Dramas wäre: der Wüstling ist eigentlich unschuldig, die Anderen, die Gesellschaft ist schuldig –, sondern vielmehr so, daß in Mozarts Oper alle schuldig sind, es gibt keine Unschuldigen.

Das ist das Schreckliche und auch Unauslotbare dieser Oper.

Daß es nur Mitschuldige gibt, erkennt man auch daran, daß Don Giovanni zwar titelgebend, aber eigentlich kein Held ist, noch nicht einmal ein Anti-Held. Dazu bedürfte er wenigstens der zugkräftigen, strahlenden Arien. Doch Fehlanzeige. Der Titelheld hat keine großen Heldenarien vorzuweisen. Selbst seine Champagnerarie kann mit vergleichbaren anderen großen Arien nicht mithalten. Wie überhaupt in der ganzen Oper kein sogenannter Hit anzutreffen ist, auch kein echter Sympathieträger. Bezeichnenderweise. Denn dort, wo alle schuldig sind, gibt es keine herausragenden Arien und keine Stars mehr. Eine Gala samt famosen publikumswirksamen Schmankerln kann man mit Don Giovanni nicht bestreiten.

Was heißt das nun?

Es heißt, daß Mozart zeigt, was zur Unschuld gehörte: Selbsterkenntnis. Aber diese findet in Don Giovanni nicht statt. Darüber kann auch das Abschlußsextett (welches nachträglich hinzukomponiert wurde) nicht hinwegtäuschen. Wie im Finale der Cosi fan tutte wird dem Zuhörer nun die Moral von der Geschicht’ präsentiert. Die sechs überlebenden Protagonisten schmettern heraus, wie es dem Bösen ergeht, nämlich daß der Böse bestraft wird: »So endet, wer Böses tut.«

Die sechs »guten Leutchen« (e noi tutti, o buona gente) haben durchaus recht, denn Mozart hat es offen gelegt: Der Böse wird bestraft. Don Giovannis Höllensturz ist kein billiger, romantischer Effekt, sondern brutale Konsequenz eines frivolen Lebens, in dem Betrug und Lüge im Dauereinsatz waren.

Heute, in einem Zeitalter, welches die Hölle zum Werberequisit degradiert mit Feuergeprassel und lustigen Bockshörnern, schmunzelt man aufgeklärt über diese Höllenfahrt, findet sie womöglich prickelnd oder spannend und den Wüstling virtuos und tollkühn. Sei’s drum. Die Höllenfahrt des Don Giovanni bleibt dennoch, was sie in Mozarts Oper ist: Höllensturz. Grausam, präzise, logisch.

Eine andere Frage ist, ob die Donna Anna und Donna Elvira und Don Ottavio und Leporello und das junge Paar Masetto und Zerlina aus der finalen Tragödie etwas gelernt haben? Ist es damit getan, ständig nach vendetta zu rufen und sich so gütlich zu halten? Wo bleibt die Selbsterkenntnis?

Zum Beispiel: Warum fällt Donna Elvira nicht nur einmal, sondern immer wieder auf die Lügen des Verführers herein? Oder Don Ottavio: Warum singt er zwar zwei schöne Arien und himmelt seine Geliebte an, versagt aber kläglich, wenn es darum ginge, den Wüstling das Handwerk zu legen? Von Masetto und Zerlina ganz zu schweigen, die am Hochzeitstag (!) Don Giovannis Kabalen erliegen. Und Donna Anna? Sie bleibt, so die Ansicht vieler, in merkwürdigem Zwielicht. Könnte es sein, daß auch sie dem Daimon Don Giovannis erlegen ist?

Und der agile Leporello? Auch er: Nichts dazugelernt. Nach der Höllenfahrt seines Herrn will er ein Gasthaus aufsuchen und einen neuen, besseren Herrn acquirieren. Nichts Neues unter der Sonne.

Und doch ist, analog zum Ende der Cosi, nichts mehr beim Alten. Die Welt wackelt. Im Abschlußsextett der Cosi beschwören die Damen und Herren die schöne Ruhe, während die Musik in einem halsbrecherischen Karussell sich aus den Angeln dreht. In Don Giovanni ist der Wüstling am Ende tot und man macht einen auf: Operation gelungen, Patient tot, während ringsum der Gestank des Schwefels in der Luft hängt.

Vielleicht ist die schreckliche Spannweite der Oper letztlich an einem kleinen Wörtchen ablesbar: la mano – die Hand.

Als Don Giovanni Zerlina zu verführen beginnt, singt er ihr die schmeichlerischen Worte ins Ohr: La ci darem la mano (Dort reichen wir uns die Hand). Am Ende, vor seinem Höllensturz, sagt der steinerne Gast, die Statue des Komturs, zum Wüstling: Dammi la mano in pegno (Reich mir die Hand zum Pfand!), und Don Giovanni reicht dem unheimlichen Gast die Hand, um sogleich in Schrecken einzugestehen: Welche Eiseskälte!

Aus der verführerischen, lügnerischen Hand zu Beginn wird am Ende die kalte, wahre Hand des Todes. Die Lüge wird aufgedeckt. Die Maske fällt. Zum Vorschein kommt der Tod, der wahre Antreiber des frivolen Spiels. Um so schlimmer, daß Don Giovanni in seiner Besessenheit seinen eigenen Lügen ein Leben lang auf den Leim ging. Aber wie könnte es auch anders sein. Er, an erster Stelle, demonstriert schließlich in seinen mille e tre Eroberungen, was alle Mitspieler kennzeichnet: Die Weigerung, sich selbst wahrzunehmen.

Gnothi seauton – Erkenne dich selbst! –, so lautete die Inschrift am delphischen Orakel.

Der Imperativ gilt zu jeder Zeit. Die bourgoisen Damen und Herren, gleich ob sie Donna Anna oder Donna Elvira oder Don Ottavio heißen, müssen sich fragen, was sie selbst dazu beigetragen haben, daß Don Giovanni Don Giovanni blieb. Sie selbst! Man kann nur hoffen, daß sie, wie alle anderen Akteure, nach dem Fall des Vorhangs zu dieser Selbstkonfrontation bereit sind. Denn das uralte Lied, welches sie am Schluß allesamt anstimmen, »l’antichissima canzon« (oder the age-old moral, wie das englische Libretto übersetzt), wäre dann exakt dies: Selbstkonfrontation.


Freitag, 6. Oktober 2017

Es


Vielleicht geht es Ihnen ähnlich?

Manchmal möchte man einen guten Film anschauen. Und dann geht man vielleicht in ein Papierwarengeschäft und schaut sich das preiswerte Angebot an DVD’s an. Und was stellt man fest?

Der Horror hat Hochsaison. Sage und schreibe ein geschätztes Drittel des Angebots, wenn nicht noch mehr, präsentiert sich als gruselige, blutrünstige Schocker. Bereits die Covers sprechen für sich. Es geht stets mörderisch zu, abgebildete Gesichter sind zu Fratzen denaturiert, bluttriefende Messer sind Standardrequisiten.

Die letzten Jahre und Jahrzehnte hat man im Gefolge des Zweiten Vatikanums immer wieder die berühmten Zeichen der Zeit beschworen. Hier haben wir nun auch ein solches Zeichen der Zeit, welches im Licht des Evangeliums gedeutet sein will. Und da schlagen wir mal das Folgende vor.

In einer Zeit, in der die Tötung ungeborener Kinder jedes Jahr, und dies seit Jahrzehnten, 40 Millionen und mehr beträgt, und in einer Zeit, in der diese globale Tötung weitestgehend verschwiegen beziehungsweise tabuisiert wird, schafft sich die Wahrheit dieses kaschierten Horrors nun Raum auf den Mattscheiben in unseren Wohnzimmern. Denn dies ist ein geistlicher Grundsatz: Die Wahrheit mag man unterdrücken, sie ist gleichwohl nicht auslöschbar.

Dies gilt im Leben des Einzelnen wie im Leben von Kollektiven. Das ehemalige kommunistische Regime in der Sowjetunion versuchte siebzig Jahre lang, und dies mit brutalsten Methoden, dem christlichen Leben den Garaus zu machen. Christliche Dissidenten wurden in Gulags abtransportiert und gefoltert, umerzogen, terrorisiert, ermordet, Bürger unterlagen der fortwährenden Bespitzelung und Überwachung, Kirchen und Klöster wurden geschändet, zerstört, aufgelöst und bestenfalls als museale Relikte einer feudalen Zeit geduldet.

Doch trotz aller verzweifelten Anstrengungen des Regimes, die Wahrheit der christlichen Religion zu unterdrücken und auszulöschen, blieb die Wahrheit da.

Auch die Wahrheit der millionenfachen Kindstötungen bleibt da. Sie mag unter den medialen Teppich gekehrt werden, sie mag selbst zu einem furchtbaren Recht mutieren. Das blutige, versteckte Geschäft wird dennoch sichtbar, unter anderem auf den millionenfach reproduzierten Covers von Horrorvideos, die jedem ad oculos demonstrieren, in welcher blutigen Zeit wir leben.

Freilich: Man kann auch weiterhin die Augen verschließen und so tun, als sei alles in bester Ordnung, solange es im DVD-Regal der Papierwarengeschäfte ja auch Filme von Rosamunde Pilcher gibt oder vom stets gut gelaunten Bud Spencer oder dem obercoolen Frauenverführer 007 Bond. Man müsse, so das wohlfeile Räsonnement, schließlich keinen Horrorfilm konsumieren.

Ja, muß man nicht. Sollte man auch nicht. Aber das Menetekel bleibt trotzdem da und wartet darauf, entziffert zu werden.

Dazu paßt der neueste Horrorstreifen, diesmal von Profi Stephen King. Es, so der Titel. Und bereits der ist verräterisch genug. Das Böse ist bereits dermaßen anonym geworden, daß es keinen Namen mehr hat. Es ist einfach da und zerstört. Es raubt die Kinder. Es bringt Kinder um. Und Es versteckt sich. Aber nicht irgendwo, sondern im Unterirdischen, in der Abwasserkanalisation. Denn zum Horror gehört zweierlei: Daß er sich verbirgt, maskiert, und daß er von den Verantwortlichen nicht wahrgenommen werden will.

Bezeichnenderweise sagt einer der Protagonisten, in dessen Stadt Derry die Morde geschehen, daß sich die Leute dort daran gewöhnt haben, woanders hinzuschauen: “In Derry, people have a way of looking the other way.” Man schaut weg. Das ist bequemer. Das beruhigt scheinbar die Nerven. Während Es weiterhin im Untergrund Kinder tötet.

Und bezeichnenderweise sind es Kinder, die in der Routine des Wegschauens noch nicht so trainiert sind, die in Kings Werk mit der Aufdeckungsarbeit beginnen.

Als Kings Buch 1990 erstmals verfilmt und im Fernsehen gezeigt wurde, war der Horror selbst den Drehbuchautoren wohl zu viel. Am Ende ließen sie Ben und Beverly, zwei der Hauptdarsteller, heiraten, und – die Beiden erwarteten ein Kind.

Das Kind: Wer würde darin nicht den Träger der Hoffnung und der Zukunft sehen? Doch Zukunft setzt voraus, daß die Schrecken der Gegenwart nicht länger vertuscht, sondern aufgedeckt und beendet werden. Es muß demaskiert werden. Die Abtreibung muß demaskiert werden. Denn die Wahrheit ist da, vor unseren Augen.

Grafik:    https://unsplash.com/photos/hn5YtNkWUXw/

Freitag, 29. September 2017

Der Spiegel


»Denn die angstfrei verkündete Wahrheit, wie bitter und unverständlich sie anfangs auch erscheinen mag, bleibt für immer im Gedächtnis eines Menschen. Und sie wird ihm so lange den Spiegel vorhalten, bis er sie annimmt oder für immer verwirft. Beides liegt ganz und gar in der Hand des Einzelnen.«

(Aus der wunderbaren Neuerscheinung: Bischof Tichon Schewkunow, Heilige des Alltags, Sankt Ottilien 2017, 182. Das Buch gehört mit zwei Millionen verkauften Exemplaren in Rußland mittlerweile zu den Meilensteinen der zeitgenössischen geistlichen Literatur.)

Grafik:    EOS Verlag

Freitag, 22. September 2017

»Und die Kinder?«

Ein cineastisches Meisterwerk ist anzuzeigen: Die Kinder des Fechters.

In einer geschwätzigen, lauten, alles zerredenden Welt kommt ein Film daher, der das Dezente, Diskrete und Sparsame zu seinen Gegenmitteln erwählt. Und es ist wie immer: Das sanfte Gesetz, von dem der österreichische Dichter Adalbert Stifter schrieb, überzeugt.

Ein neuer Lehrer kommt in eine Schule in Estland, nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Dorf, wo er hinkommt, ist ein trostloses Nest. Die sowjetische Besatzungsmacht hat das Sagen, und das heißt, das Regime regiert mit brutaler Unterdrückung. Wer nicht systemkonform spurt, wird abtransportiert in die Lager.

In diesem Umfeld der Angst und des Mißtrauens will der neue Sportlehrer Endel Nelis, ein versierter Fechtmeister, der auf der Flucht vor Stalins Geheimpolizei in besagtem Nest untertaucht, seinen Eleven das Fechten beibringen.

Die Handlung soll hier nicht vorweggenommen werden. Nur soviel:

In wunderbaren, gänzlich unaufdringlichen Bildern, in Zwischentönen und ruhigen Einstellungen, die mehr mitteilen im Schweigen als in vielen Worten, zeigt dieser Film, was einen Vater zu einem Vater macht: Die Bereitschaft zum Leiden und zur Verantwortung.

In der finalen Zuspitzung des Dramas wählt der Lehrer, weil ihm die Kinder ans Herz gewachsen sind, nicht die egoistische Flucht (wiewohl ihm ein Freund schon die Tickets in die sichere Zone besorgt hat), sondern das Opfer der Verantwortung.

In einer Schlüsselszene des Films, ebenso unaufdringlich wie soundsoviele andere stillen Sequenzen, trifft der Fechtlehrer in Leningrad auf den Direktor der Schule, an der er angestellt ist. Dieser Direktor ist der Funktionär, der stets die Treppe hochfällt, gleich unter welchem Regime, denn er versteht sich anzupassen und mitzulaufen. Der Direktor als Wendehals, Karriere inklusive.

Die Szene spielt, auch dies paßt, auf einer Treppe. Der Sportlehrer will nach unten, ins Freie, als er plötzlich feststellen muß, daß auf dem Stiegenabsatz der Direktor zigaretterauchend den Weg versperrt. Offensichtlich gibt es keinen Ausweg. Der Lehrer versteht, daß der Direktor mit der staatlichen Geheimpolizei unter einer Decke steckt, daß der Direktor ihn denunziert hat.

Was tun?

Als der Direktor erkennt, wer sich da die Treppe hinabgehend ihm nähert, drückt er die Zigarette aus, rechtfertigt sein Verhalten und gibt, die Treppe hochgehend, Endel den zynischen Rat, sich aus dem Staub zu machen, die Sowjetunion sei schließlich ein großes Land … . Endels Frage an den Direktor besteht aus drei Wörtern: »Und die Kinder?«

Es ist die Frage nach den Opfern.

Denn die Macht steht stets auf der Seite der Täter. Die Opfer werden entweder zu Schuldigen deklariert oder ihr Opferstatus wird brutal ausgeblendet, so daß derjenige, der gleichwohl die Opfer in die Mitte stellt, als der Idiot gebrandmarkt wird, der die Welt verkennt.

Der Fechter Endel Nelis stellt sich auf die Seite der Opfer. Als ihn die Geheimpolizei abführt, geht er zugleich auf das Kreuz zu und dem Licht entgegen, denn die Kamera zeigt diese Abführung derart, daß im Hintergrund ein schwarzes Kreuz ins Bild ragt – freilich ein Fensterkreuz und also ein Kreuz zum Licht hin.

Und darum endet die Geschichte auch nicht mit der Verhaftung des Fechtlehrers. Sie endet … aber das muß jeder selbst sehen.

Donnerstag, 14. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge II


Es gehört zum Signum großer Kunst, daß sie es nicht dabei beläßt, Zeitläufe, zumal wenn diese Zeitläufe schreckliche sind, bloß abzubilden und sodann dem beschmutzten Leser zu überlassen, was er nun mit dem Schrecklichen, das ihm übergestülpt wurde, anfängt.

Große Kunst will zur Katharsis. Sie will zur Wahrheit, die befreit.

Bereits die formale Anlage des Romans Der Jüngling macht deutlich, worum es Dostojewski geht. Der Ich-Erzähler ist kein Daherredender, sondern im Grunde ein Beichtender. Seine Aufzeichnungen sind eine einzige große Konfession.

Zu dieser Konfession gehört, daß sie aufrichtig zu sein hat. Daß sie nicht verschleiert, sondern die Dinge beim Namen nennt. Das tut der Jüngling Arkadij Makarowitsch Dolgorukij.

Das deutsche Wort Aufrichtigkeit drückt es sehr gut aus. Die Vorsilbe auf gibt die Richtung vor. Derjenige, der wirklich aufrichtig ist, ist bereits auf dem Weg der Besserung, nämlich auf dem Weg des AUFwärts.

Es gäbe ja auch die falsche Alternative des Umdeutens. Die Dinge zwar zu zeigen, aber den Schrecken des Dargestellten aufzuhübschen zu einem notwendigen Prozeß, zur faszinierenden Chance, zum libertären Fortschritt.

In diese Falle läßt Dostojewski seinen Helden nicht gehen. Im Laufe des Romans gehen dem grünen Jungen mehr und mehr die Augen auf. Ihm wird der Star gestochen. Seine Illusionen, und dazu gehört auch seine stolze »Idee«, die ihm perfekte Autonomie sichern soll, werden ihm Schritt für Schritt genommen.

(Notabene: Man fühlt sich an die heilige Thérèse vom Kinde Jesu erinnert und deren Gebet, daß der Liebe Gott ihr sämtlichen Puder aus den Augen nehmen solle.)

Zu Beginn ist Arkadij noch nicht soweit. Aber sein Autor läßt ihn auf 800 Seiten so lange scheitern und irren und klagen und große Sprüche klopfen, bis er am Ende des Romans kein grüner Junge mehr ist, sondern, um in der angeschlagenen Farbensymbolik zu verweilen, ein erdbrauner Jüngling, einer, der mit beiden Beinen halbwegs auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.

»Sie sind«, so kommentiert in dem abschließenden Epilog des Romans, der weniger ironisch ist als man vielleicht landläufig meint, ein Bekannter die Aufzeichnungen des Jünglings, »Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie«.

Und besagter Kommentator gibt zu bedenken, daß ein zukünftiger Künstler für die Darstellung der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden werde und daß Arkadijs Aufzeichnungen in diesem Sinne verwendet werden könnten als Material für die neu zu schaffende schöne Form.

Das aber heißt, der Roman selbst ist letztlich die künstlerische Anstrengung, den Weg aus der destruktiven Unordnung frei zu machen. Dostojewski versucht das Chaos der zufälligen, zerbrechenden Familien in seinem Roman gleichsam apotropäisch zu bannen. Seine eigentliche Hauptperson ist nicht Arkadij, auch nicht dessen Vater oder der Pilger Makar, sondern die Wahrheit beziehungsweise die AUFdeckung der Wahrheit, die der verborgen-offenkundige Motor der Beichte des Jünglings ist.

Denn die Wahrheit bleibt da. Sie ist nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß nicht das Chaos, nicht die Destruktion, nicht die Unordnung zur Lebensfülle führt, sondern das sich Ausrichten an den nicht zufälligen, sondern an den sinnvollen, gültigen Gesetzen des Lebens, und zu diesen Gesetzen zählt, daß ein Land untergeht, wenn die Familien nur mehr zufällige sind.

Und da die Unordnung dermaßen fortgeschritten ist, zeigt Dostojewski ein Weiteres: Der je Einzelne muß beginnen. Denn zur Unordnung gehört auch dieses, daß es mehr und mehr nur mehr Vereinzelte gibt. Arkadij ist zu Beginn des Romans symptomatischerweise der Einzelgänger schlechthin, der sich verschanzt hinter seiner sogenannten Idee.

Doch mag der Einzelne noch so verwundet sein – und der Jüngling ist aufgrund seiner familiären Biographie ein zutiefst verwundeter –, es werden ihm, wenn er nur den Willen zur Wahrheit hat, anders gesagt, wenn er nur den Willen zur Wirklichkeit hat, wenn er diese Wirklichkeit nicht illusionär retuschiert, sondern seinsgemäß wahrnimmt, es werden ihm dann neue, heilsame Kräfte zufließen, die ihn, den Einzelnen, sowohl aus seinem sollipsistischen Gefängnis herausfinden als auch ineins damit zur Wahrheit echter Mitmenschlichkeit finden lassen.

Mit einem Wort: Die Zerrüttung wird aufhören. Die schöne Form wird keimhaft neu aufblühen.

Und wo bleibt die Liebe in dem Ganzen?

Die Liebe ist stets da, gleich wie die Wahrheit. Aber auch der Liebe muß man sich zu nähern verstehen. Denn der zerrüttete Mensch weiß nicht, was Liebe ist. Er hat Vorstellungen über die Liebe, Wünsche, Begehren, Leidenschaften. Das freilich genügt nicht. Wenn er jedoch bereit ist, sich durch den Anspruch der Wirklichkeit von seinen Zerrissenheiten reinigen zu lassen, wird er anfangen zu lieben. Wohlgemerkt: Anfangen.

Am Ende von Dostojewskis Roman gibt es, was nun nicht weiter verwundern dürfte, etliche solcher Anfänge.

Grafik:    Wassili Grigorjewitsch Perow, wiki commons.

Freitag, 8. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge I

Der Vater hat zwei eheliche und zwei außereheliche Kinder. Er lebt, als Witwer, zusammen mit einer Frau, die eigentlich mit einem anderen verheiratet ist, der jedoch seine Frau großzügig an den Witwer abgegeben hat und danach auf Pilgerschaft geht.

Der eine uneheliche Sohn, der Jüngling, liebt leidenschaftlich Katerina, die Tochter des alten Fürsten Ssokolskij. Sein Vater liebt leidenschaftlich dieselbe Frau. Die legitime Tochter des Vaters beabsichtigt den alten Fürsten zu heiraten, so daß sie – wenn die Ehe zustande käme – die Schwiegermutter ihres eigenen Vaters würde. Alles klar?

Nein, nichts ist klar in diesem späten Roman Dostojewskis. Anything goes wird es exakt 100 Jahre später heißen, ein nachgerade populär gewordener philosophischer Slogan, der einem Musical entstammte. Bei Dostojewski ist das philosophische Kürzel längst Wirklichkeit geworden, denn das wabernde Konturlose ist termitengleich überall am Werk.

Doch kein Musical entsteht, sondern bitterste Realität. Daß dazu wie selbstverständlich Selbstmorde gehören, versteht sich. Ein desillusionierter Revolutionär gibt sich die Kugel, eine sozial Deklassierte erhängt sich, ein Gauner erschießt sich gleichfalls.

Wo der Kern jedes sozialen Gefüges zerbricht – und dieser Kern ist die Familie –, dort zerbricht die Welt.

Das ist kein wohlfeiles Bonmot, sondern der auf 800 Seiten dargelegte Realismus in dem 1875 veröffentlichten Roman Dostojewskis Der Jüngling, neuerdings als Ein grüner Junge ins Deutsche übersetzt. Die Risse der zerbrechenden Welt sind überall. Und diese Risse sind keine nebensächlichen Blessuren, sind nicht euphemistisch herunterzuspielen, sondern werden von Dostojewski bis aufs Mark bloßgelegt.

Vielleicht zeigt nichts mehr den schonungslosen Chirurgen Dostojewski als die folgende Szene, die, dessen darf man gewiß sein, der russichen Seele des Autoren ein Letztes abverlangte:

Andrei Petrowitsch, der Vater des Jünglings, dieser zutiefst Zerrissene, der nicht umsonst von seinem Ich und von seinem Doppelgänger-Ich spricht, nimmt in einem Anfall gesteigerten Wahnsinns ein Heiligenbild, eine dem Russen so verehrungswürdige Ikone, um eben dieses heilige Bild mit aller Kraft an die Kante des Kachelofens zu schleudern, wo die Ikone in zwei Teile zerbricht.

Was bleibt, so die quälende Frage, die im Grunde auf jeder Seite in Dostojewskis Roman Der Jüngling sich stellt, wenn die Welt aus den Fugen gerät?

Samstag, 2. September 2017

Frage


»Wie ist es möglich, daß der wundersamste und heiligste Raum im Menschen – der Mutterschoß – zum Ort unsagbarer Gewalt geworden ist?«

Papst Benedikt XVI., 17. Juli 2008, Sydney, in seiner Ansprache beim Willkommensfest der Jugendlichen.

Samstag, 26. August 2017

Die Lügen der Abtreibungsindustrie


Die Lügen der Abtreibungsindustrie, die man kennen sollte, sind die immerselben.

Da ist zum einen die Lüge, das ungeborene Kind sei kein Kind. Es wird als Gewebe bezeichnet oder als Zellhaufen oder als irrelevantes biologisches Etwas.

Die Vermeidungsstrategien, die etwa Beraterinnen in Abtreibungsstätten beigebracht werden, sind aberwitzig. Sie sollen der Schwangeren gegenüber nicht vom Kind sprechen, sondern von der Schwangerschaft. Mit anderen Worten: Die Schwangere erwartet kein Kind, sondern eine Schwangerschaft, folglich wird ihr kein Kind durch Abtreibung getötet, sondern lediglich eine Schwangerschaft entfernt.

Die zweite Lüge besagt, daß Abtreibung konsequenzenlos ist. Die Uhr werde einfach zurückgedreht. Nach der Abtreibung kann das Leben, so die Lüge, weitergehen, als sei nichts geschehen.

Um diese Lüge zu widerlegen, genügt bereits ein kurzer Blick in eine x-beliebige entsprechende Internetseite, wo Betroffene von ihrer Abtreibung berichten. Da wird dem Lügner – hoffentlich – Hören und Sehen vergehen. Wer es lieber wissenschaftlich mag, sollte sich mal hier kundig machen über die desaströsen psychischen, physischen und mentalen Folgen von Abtreibungen.

Und die dritte Lüge gibt vor, Abtreibung sei sicher. Auch diesbezüglich reden die Fälle von verpfuschten Abtreibungen (tagein tagaus im Internet nachzulesen) eine klare Gegenrede.

Es gibt allerdings eine weitere Lüge im Abtreibungsgeschäft, die weniger offen auftritt als die oben angeführten, die aber im Grunde die perverse schlechthin ist. Es ist die Lüge, die der Abtreibung den hehren Anstrich der Freiheit verpaßt.

Dies geschieht, man ahnt es bereits, in einer Rhetorik der Zwielichtigkeit, der klandestinen Unterstellungen, der geschickten Suggestionen.

Im Amerikanischen hat sich als Slogan der aggressiven Abtreibungsbefürworter das Motto pro choice durchgesetzt. Damit wird insinuiert, daß nur derjenige, der pro Abtreibung votiert, zugleich derjenige ist, der für das Recht der Wahl und der Entscheidungsfreiheit eintritt. Der Abtreibungsbefürworter, im Klartext derjenige, der für die Tötung des Kindes plädiert, gilt als der souveräne Freie. Er ist so frei, noch über Leben und Tod entscheiden zu können.

Und wer steht dieser angemaßten souveränen Freiheit im Wege? – Das Kind. Folglich kommt das Kind in den vielbeschworenen pro-choice-Debatten erst gar nicht mehr vor, es ist noch nicht einmal Gegenstand des Interesses, es ist der Feind der Freiheit, über den es kein ernsthaftes Wort zu verlieren gilt.

Daß die so verstandene Freiheit, da sie losgelöst von jedem Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch daherkommt, ein Götze ist, wird verständlicherweise nicht gesagt. Es muß noch nicht einmal explizit betont werden, daß das Kind der Feind ist. Es genügt das Stichwort Freiheit oder auch nur die nebulöse Beschwörung der Freiheit durch oszillierende, verführerische Labels, damit das Goldene Kalb der pro-choice-Ideologie losstampft und alle Argumente niedertrampelt. Denn frei sein will doch jeder, oder?

Am Ende der Vergötzung offenbart sich das, was jeder Götze im Schlepptau führt: Das absolute Gegenteil von Freiheit – der Tod. Wortwörtlich für das ungeborene Kind, sprichwörtlich für die Frau, weswegen bezeichnenderweise ungezählte Frauen nach der Abtreibung davon sprechen, etwas in ihnen sei gestorben.

Das Gegenteil der Lüge ist die Wahrheit.

Die Lüge führt in die Knechtschaft, in die neuheidnischen Gefängnisse. Die Wahrheit führt ins Freie, ins Leben, wo die Luft zum Atmen ist. In den Worten Jesu: »Die Wahrheit wird euch frei machen« (Johannes-Evangelium 8,32) – die Wahrheit, nicht die Lüge.

Grafik:    Photo by Yaoqi LAI on Unsplash

Samstag, 19. August 2017

Der hl. Dominikus und der Rosenkranz

Von der streitenden Kirche, die im Lateinischen ecclesia militans bezeichnet wird, hört man heutzutage wenig.

Woran liegt’s?

Vermutlich daran, daß man nirgends anecken will. Denn die streitende Kirche setzt voraus, daß es Lehren, Situationen, Meinungen etc. gibt, die für einen Christen unannehmbar sind und gegen die folglich kämpferisch Stellung zu beziehen ist.

Das Leben ist, und dies ist durchgängige biblische Sichtweise, kein gemütlicher Spaziergang, sondern ein Kampf. Ein geistlicher Kampf. Kampf meint freilich zuallererst Kampfansage an die eigene Bequemlichkeit, Lauheit und Feigheit, die sich gerne einrichten würden im Gehäuse der Welt, selbst auf die Gefahr hin, damit den christlichen Sendungsauftrag zu verraten, der uns als Fremdlinge in die Welt schickt, nicht als gemütlich Seßhafte.

Die Heiligen aller Zeiten haben dies bestens verstanden. Sie sind dem Kampfe nicht ausgewichen, sondern haben sich unerschrocken mitten in den Kampfplatz gestellt. So auch der Gründer des Dominikanerordens, dessen 800jähriges Gründungsjubiläum bis zum Beginn des Jahres 2018 gefeiert wird, der hl. Dominikus.

Einer seiner Biographen schreibt über die Zeit, in die der Heilige hineingeboren wurde: »Es ist die Zeit, in der die Bischöfe fast lauter stumme Hunde sind, um ein hartes Wort Papst Innozenz’ III. aufzugreifen; es stammt aus dem Propheten Jesaja (Jes 56,10). Vielleicht aus Mangel an Wissen wagen sie nicht zu bellen! Die Kirche befand sich damals in der traurigen Zeit des schlimmen Schweigens (pessima taciturnitas)«.

Naturgemäß schweigt der hl. Dominkus nicht auf schlimme Weise. Er spricht, mit Freimut, in Wahrheit und mit Liebe. Denn es geht ihm nicht darum, den Gegner – sei es den Irrgläubigen, den im Glauben Unwissenden oder den gänzlich Fernstehenden (wie man heute sagen würde) beziehungsweise den der Kirche feindlich Gesinnten – zu zerstören, sondern ihn zu überzeugen und derart seine Seele zu retten, und dies kraft der Gnade, des echten apostolischen Lebenszeugnisses und der verantwortungsvollen Rede und Antwort.

Was nun die Gnade betrifft, so kam die Mittlerin aller Gnaden, die Jungfrau Maria, dem heiligen Dominikus wirkmächtig zu Hilfe.

Wie diese Hilfe ausschaute, ist auf unzähligen Abbildungen zu sehen: In Kirchen, Kapellen, Oratorien, Museen. Eine davon kann man im Kunsthistorischen Museum (KHM) zu Wien betrachten, auf einem berühmten Gemälde von Caravaggio.

Zu sehen ist die Madonna, die dem heiligen Dominikus, der ihr zur Linken mit offen dargebotenen Händen steht, Rosenkränze überreicht hat. Und diese Rosenkränze soll der heilige Ordensgründer weiterreichen an die vor ihm knienden Menschen, die – mit sehnsüchtiger Gebärde – sich nach eben diesen Rosenkränzen ausstrecken.

Nun ist die Übergabe der heiligen Rosenkränze in dieser heiligen Reihenfolge – aus den Händen der Muttergottes in die Hände des heiligen Dominikus in die Hände des Volkes – mehr als ein frommes Geschichterl. Denn man muß wissen, daß eben der Rosenkranz kein frommer Devotionsgegenstand unter unzähligen anderen ist, sondern vom Himmel gezielt eingesetztes Instrument der Gnade im Kampf gegen die Häresien. Und der hl. Dominikus und seine Brüder sind die Herolde im Gebet und in der Verbreitung dieses himmlischen Kampfmittels.

Der selige Papst Pius IX. drückte es folgendermaßen aus:
»Nachdem der heilige Dominikus den Predigerorden gegründet hatte, war sein Verlangen, den Irrtümern der Albigenser (einer damaligen häretischen Sekte, die von zwei gleich mächtigen schöpferischen Prinzipien, nämlich dem Guten und dem Bösen, ausging) ein Ende zu setzen. Von göttlicher Inspiration bewegt, begann er, die Hilfe der Unbefleckten Muttergottes anzurufen, der allein es gegeben ist, alle Häresien des Universums auszumerzen; und er predigte den Rosenkranz als unfehlbaren Schutz gegen Häresien und Laster.«
Papst Benedikt XVI. sprach in einer Generalaudienz aus dem Jahre 2010 davon, daß der heilige Dominikus »vor allem die Marienverehrung … seinen geistlichen Kindern als kostbares Erbe hinterließ; diese haben in der Geschichte der Kirche das große Verdienst, das Gebet des heiligen Rosenkranzes zu verbreiten (…).«

Heute, da die Häresien gleichsam überall aus dem Boden sprießen, wobei, im Unterschied zu den Zeiten eines heiligen Dominikus, diese Häresien nicht länger als Irrlehren kenntlich sind, sondern quasi als neue Heilslehren gehandelt werden und längst in der gängigen Meinung des sogenannten mainstreams, auch des kirchlichen mainstreams, angekommen sind, ist es folglich dringender denn je, dieses so wirksame geistliche Mittel des Rosenkranzes zu beherzigen, zu pflegen, zu verbreiten.

»Kinder helft mir, die Übel der Kirche und der Gesellschaft zu bekämpfen, aber nicht mit dem Schwerte, sondern mit dem Rosenkranz!«

Diesem Aufruf des seligen Papstes Pius IX. hätte der heilige Dominikus, wie man getrost annehmen darf, ohne weiteres zugestimmt.


Freitag, 11. August 2017

Der Spargel


Es gibt viele Möglichkeiten, Gott aus dem Weg zu gehen.

Vielleicht besteht eine der raffiniertesten Methoden, seinen Unglauben zu pflegen (denn es handelt sich um Unglauben und um Methode), welche selbst unter Katholiken weitverbreitet ist, darin, aus dem Lieben Gott jemanden zu machen, der zwar allmächtig sein mag und auch weise und auch meinethalben liebevoll, aber gewiß nicht Einer, der selbst die Haare auf meinem Kopf allesamt gezählt hat (Mt 10,30), wie es die Heilige Schrift ausdrückt. Mit anderen Worten: Gott mag alles mögliche sein, nur Eines ist Er nicht und darf Er auch nicht sein: konkret.

Und in der Attitüde des jovialen und verzeihenden Bonhomme, der die Spielregeln der Welt durchschaut hat, sagt der betreffende Ungläubige dann womöglich noch: Ich versteh’ das ja, denn der Liebe Gott hat sich um weitaus wichtigere Dinge zu kümmern als um meine Angelegenheiten.

Dieser Liebe Gott ist freilich kein Lieber Gott, sondern ein kümmerlicher und bedauernswerter.

Und um diesen Zerrbild den Garaus zu machen, könnte es hilfreich sein, mal ein klitzekleines konkretes Beispiel aus dem Leben des heiligen Johannes vom Kreuz an sich heran zu lassen.

Es ist am Ende seines Lebens, als Juan, ausgezehrt, krank, verstoßen, verbraucht bis auf die Knochen, sich auf der letzten seiner ungezählten Reisen seines Lebens befindet. Die Karmelitin Teresia Benedicta a Cruce (bürgerlich Edith Stein) berichtet über diese letzte Reise in ihrem Buch Kreuzeswissenschaft. Darin heißt es:
»Es ist ein richtiger Leidensweg. Er (Johannes vom Kreuz) hat seit mehreren Tagen nichts mehr genießen können und kann sich vor Schwäche kaum im Sattel halten. Und sein krankes Bein schmerzt, als würde es ihm abgeschnitten. Dort war ja der Sitz des Übels: Es war erst angeschwollen, dann hatten sich nacheinander fünf eiternde Wunden geöffnet. Sie gaben dem Heiligen Anlaß zu dem Gebet: ›Vielmals danke ich Dir, mein Herr Jesus Christus, daß Eure Majestät mir an diesem Fuß allein die fünf Wunden verleihen wollte, die Eure Majestät an Füßen, Händen und Seite hatte: wodurch habe ich eine so große Gnade verdient?‹

Und er klagte auch bei den denkbar größten Schmerzen nicht, sondern ertrug alles mit der größten Geduld.

Nun muß er in diesem Zustand sieben Meilen weit auf Bergwegen reiten. Es geht sehr langsam voran. Er spricht mit dem Bruder, der ihn begleitet, von Gott.

Als sie drei Meilen zurückgelegt haben, schlägt der Gefährte eine Rast am Ufer des Guadalimar vor: ›Im Schatten dieser Brücke können Hochwürden etwas ruhen; die Freude, das Wasser zu sehen, wird Ihnen Appetit auf einen Bissen machen.‹ ›Gern will ich ruhen, denn ich habe es nötig; aber essen kann ich nicht, denn von allem, was Gott geschaffen hat, habe ich auf nichts Appetit als auf Spargel, und die gibt es jetzt nicht.‹

Der Bruder hilft ihm absteigen und niedersitzen. Da bemerken sie auf einem Stein ein Bündel Spargel, mit einem Weidenband gebunden, wie für den Markt. Der Bruder glaubt an ein Wunder. Aber Johannes will nichts davon hören. Er läßt ihn nach dem Eigentümer suchen, und als nirgends jemand zu entdecken ist, muß er einen cuarto als Entschädigung auf den Stein legen.«
Wie bitte? Ein Bündel Spargel?

Ja, ein Bündel Spargel. Denn der Liebe Gott ist sich tatsächlich nicht zu schade, sich noch um ein Bündel Spargel für einen seiner Lieblinge zu kümmern.

Grafik:    http://www.karmelocd.de

Freitag, 4. August 2017

Ars

Manchmal (sehr selten) ist man an einem Ort und kann erleben, daß selbst die Luft anders ist.

Ich erinnere mich sehr genau, als ich zum ersten Mal in Ars war.

Alles war anders. Die Luft, der Himmel, der Weizen. Und ich mußte nicht lange überlegen, wem diese Transformation zu verdanken war. Offensichtlich war das Gebet des armen Pfarrers, wie der heilige Pfarrer von Ars sich zu nennen pflegte, weiterhin wirkmächtig genug, um selbst metereologische Änderungen als das Allerselbstverständlichste möglich zu machen.

Das ist die Macht der Heiligen. Wo ein Heiliger lebt und schafft, dort wird die gefallene Erde zurückgewonnen. Dort ersteht das Leben neu. Tatsächlich neu.

Voltaires Diktum, daß es darauf ankomme, seinen Garten zu bebauen – ein Ausspruch, der als satirische Demaskierung aller geistlichen hohen Ansprüche gedacht war – findet ausgerechnet bei den Heiligen, den Paradebeispielen hoher Tugend, seine Einlösung. Denn sie, diese mutigen, furchtlosen, unberechenbaren heiligen Männer und Frauen, haben, aus der Hingabe an die Quelle allen Lebens – Christus –, den Garten in der Tat bebaut, die Erde erneuert, und dies ohne großen Pomp und prätentiöses Gerede, stattdessen in aller Einfachheit, Stille, Beharrlichkeit und Demut.

Und das Schöne: Die Menschen, die um den Heiligen sind und die ihr Land und ihre Scholle durchaus kennen, nehmen wahr, wie das altbekannte Land sich wandelt – zum Guten hin. Gleich, ob der Heilige Pater Pio heißt oder Franziskus oder Hildegard oder halt Jean-Baptiste Marie Vianney.

Und nicht nur das. Selbst die Tiere merken auf. Auch sie, eingefügt in die in Unordnung geratene Schöpfung, nehmen instinktiv wahr, wenn die Gegenwart des heiligen Menschen da ist, der ohne Wenn und Aber allen Ernstes Tag und Nacht vom Heiligen lebt und dadurch die verlorene kosmische Ordnung wieder herstellt.

Ich muß diesbezüglich an ein sehr gut dokumentiertes Ereignis aus dem Leben des Curé d’Ars denken.
»Im Jahre 1856«, so einer der Biographen des heiligen Priesters, »war am Sonntag in der Fronleichnamsoktav eine Kutsche bis vor die Kirche vorgefahren, aus deren weitgeöffneten Türen das ausgesetzte Allerheiligste leuchtete. Die Pferde hielten plötzlich in vollem Galopp und ließen sich nicht mehr von der Stelle weitertreiben, mochte der Postillion noch so erbost auf sie einschlagen, sie blieben stehen wie die Eselin unter dem Stock des Propheten Bileam …«
Das ist Ars.

Donnerstag, 27. Juli 2017

Die Kathedrale


Es ist bekannt, daß Marcel Proust von der Kathedrale in Chartres begeistert war.

Aber es war nicht die in Stein gefaßte tiefe Frömmigkeit einer ganzen Nation (die den Ehrentitel älteste Tochter der katholischen Kirche trägt) die den Verfasser der Recherche in Bann schlug, sondern die ästhetische Vollkommenheit der Kathedrale: Die herrlichen Glasrosetten, die Geschichte der französischen Könige, die sich im Licht der Fenster brach, die harmonische Gliederung eines vollendeten Kunstwerks.

Die sieben Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat darum Proust, angeregt durch Chartres, quasi als seine Kathedrale konzipiert. Die Recherche, so Prousts hoher Anspruch, soll gleichfalls ein vollendetes, hochaufragendes Kunstwerk sein, eine Kathedrale, erbaut aus Worten, Worten, Worten.

Das freilich, was die gotische Kathedrale im eigentlichen Sinn zur Kathedrale macht, nämlich das Licht von oben, oder, in der Deutung des Kunsthistorikers Sedlmayr, die Tatsache, daß die Erbauer der Kathedrale gleichsam das himmlische Jerusalem in einem Monument aus Stein und Glas und Licht wie in einem Vor-Schein auf Erden zu repräsentieren gedachten, dieses geistliche Konzept kommt in Prousts Recherche nicht vor.

Der säkularisierte Jude Proust schafft eine säkularisierte Kathedrale, das heißt ein literarisches Werk, welches überaus verbos und in technisch brillanter Architektur daherkommt, aber letztlich, um in der Sprache der Bildhauerei zu bleiben, keine Kathedrale schafft, sondern eine Pyramide.

Dies erkennt man nicht zuletzt daran, daß in dem Proustschen monumentalen Wortgebilde das fehlt, was in der Kathedrale förmlich in jeden Stein eingemeißelt ist: Das Mitleid.

Denn Chartres, erstanden in mühseligster, jahrzehntelanger Arbeit und oft genug mitfinanziert durch die Scherflein ärmster Bevölkerungsschichten, gibt den Menschen des hohen Mittelalters die leuchtende Hoffnung mit auf deren Weg. Der Mensch, so erzählen die Steine der Kathedrale, ist auf einem verschlungenen Weg. Das Labyrinth, in den Boden eingelassen, ist der Weg des Pilgers. Aber dieser Weg führt nicht in den schönen Schein, sondern in die strahlende Wahrheit der himmlischen Rose.

Gerade weil der Mensch der Hoffnung so sehr bedarf und ohne sie stirbt, erhebt sich die Kathedrale voll wahrhaftigen Mitleids als Denkmal der certissima spes, der sichersten Hoffnung auf das himmlische Jerusalem für den, der den Pilgerweg gläubig-vertrauensvoll geht.

Im Kontrast dazu sollte man, paradigmatisch für Prousts säkulare Kathedrale beziehungsweise Pyramide, die Episode am Ende des zweiten Bandes der Recherche sich zu Gemüte führen. Man braucht diese Episode nicht groß zu kommentieren. Ihre Mitleidslosigkeit wäre als Tragödie zu beklagen, wenn die Mauern, in die sie eingefaßt ist, Mauern des Mitleids wären. Aber das sind sie nicht. Wo das Licht von oben kompositorisch ausgelassen ist, da ist die Logik der Mitleidslosigkeit zwingend. Da sind rote Schuhe wichtiger als der bevorstehende Tod eines Freundes.

Hier die Geschichte.

Charles Swann, distinguierter Kunsthändler, der in Paris in den höchsten Adelskreisen des Faubourg verkehrt, wird eingeladen, im nächsten Jahr den Herzog und die Herzogin de Guermantes bei deren Reise nach Venedig zu begleiten. Swann bedauert, absagen zu müssen, und dies aus gesundheitlichen Gründen, denn es steht aufgrund seriöser ärztlicher Auskunft zu befürchten, daß er das nächste Jahr bereits tot sein wird.

Beide, Herzog wie Herzogin, dementieren diese ärztliche Prognose respektive gehen gesellschaftlich geschickt darüber hinweg. Es ist jetzt nicht die Zeit für die düsteren Todesprophezeiungen des Freundes, wohl aber dringende Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen. Der Herzog drängt darum seine Gattin, sich zu beeilen, denn um 20.00 Uhr werden sie bei einem Empfang erwartet, und die Herzogin hat sich dem Anlaß entsprechend noch umzukleiden.

Swann wird vom Herzog gebeten, bereits zu gehen, ansonsten würde Madame de Guermantes, sollte sie Swann nach dem Garderobenwechsel noch antreffen erneut Konversation betreiben und sich also beim wichtigen Soiréetermin, der keinerlei Aufschub dulde, ungebührlich verspäten.

Swann verläßt daraufhin mit dem Erzähler (Marcel) das herzogliche Palais, will allerdings draußen abwarten, bis die Kutsche des Herzogenpaars abgefahren ist.

Schließlich ist es soweit. Das herzogliche Paar erscheint zur Abfahrt. Die Herzogin sagt dem wartenden Swann ein letztes Lebewohl und versichert ihm, man habe ihn töricht in Schrecken versetzt: »Ich glaube kein Wort, von dem, was Sie sagen …« Und sie hebt ihr Kleid an, um den Fuß auf den Wagentritt zu setzen.

Da passiert’s. Ihr Mann bemerkt entsetzt, daß seine Gattin, gänzlich deplaziert, zu ihrer roten Abendgarderobe ihre schwarzen Schuhe anbehalten hat.

»Gehen Sie sofort wieder hinauf und ziehen Sie die roten Schuhe an!«

»Aber mein Lieber«, brachte die Herzogin mit sanfter Stimme vor, da es ihr peinlich war, daß Charles, der mit mir hinausgehen und erst den Wagen abfahren lassen wollte, diese Worte noch hörte, »wir sind auch schon so spät dran …«

»Nicht doch, wir haben noch gut Zeit. Es ist erst zehn vor acht, wir brauchen ja schließlich keine zehn Minuten bis zum Parc Monceau, und was wollen Sie, selbst wenn es halb neun wird, gedulden sie sich auch, Sie können doch nicht in einem roten Kleid und schwarzen Schuhen erscheinen. Im übrigen werden wir nicht die letzten sein, da sind immer diese Sassenages, die kommen nie früher als zwanzig Minuten vor neun.«


Grafik:    Von Harmonia Amanda – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7652789; Von Ssolbergj – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23252646

Freitag, 21. Juli 2017

Alles oder Nichts


Was geschieht in der Beichte?

Die Sünden werden vergeben. »So spreche ich dich los von deinen Sünden«, so betet der Priester, und der Pönitent kann wieder aufatmen.

Um das, was hier geschieht, tiefer zu verstehen, kann es hilfreich sein, sich das Gebet anzuschauen, welches im lateinischen Rituale der Priester vor der eigentlichen Absolution zum Pönitenten hin spricht. Da heißt es: Indulgentiam, absolutionem et remissionem peccatorum tuorum tribuat tibi omnipotens et misericors Dominus. Amen (Nachlaß, Vergebung und Verzeihung deiner Sünden schenke dir der allmächtige und barmherzige Herr. Amen).

Uns geht es hier um das dritte Wort: remissionem. Wörtlich übersetzt heißt es: Zurückschickung. Dem Beichtkind wird also, nach dem gültigen Sündenbekenntnis, versichert, daß der Herr ihm die Zurückschickung der Sünden gewährt.

Was heißt das? Wohin werden die Sünden geschickt?

Dorthin, woher sie kommen – ins Nichts. Denn die Sünde ist im Grunde nichts. Daß es sie überhaupt gibt, hängt nicht damit zusammen, daß sie ein eigenes Wesen vorzuweisen hätte. Sünde ist angewiesen auf den Sünder, und das heißt, sie wird erst überhaupt zu einem Etwas durch uns, indem nämlich wir, die Sünder, dem Nichts von unserem Leben abtreten. Anders gesagt: Indem wir dem Widersacher, der Unperson, dem toten Schatten, zu dessen usurpierenden Macht aus unserem Eigenen verhelfen.

Man kann es auch mit einem der bekannten Filmtopoi erklären: Der Vampir ist der Tote der Finsternis. Zum makabren Scheinleben des Vampirs kommt es dadurch, daß der Finstere das Blut seiner Opfer saugt. Im Vorgang des Sündigens geschieht Vergleichbares: Der Sünder tritt von seinem ureigenen Leben an das finstere Nichts ab, welches sich danach aufbläht, als sei es etwas, während es weiterhin Nichts ist, allerdings nun ein Nichts, welches unter der Maske des Seins auftritt.

In der heiligen Beichte schickt der Priester in persona Christi dieses angemaßte, aufgeblähte Nichts in sein angestammtes Nichts zurück. Will man ein weiteres Bild bemühen, so könnte man sagen: Der Schatten, der sich in der Sünde zum dominierenden Dunkel aufplustert, fällt in der heiligen Beichte, da der Priester die lichtvolle Lossprechungsformel betet, in Nichts zusammen, denn vor dem Licht Christi hat der Schatten keinen Bestand.

Im Credo, dem Glaubensbekenntnis der katholischen Kirche, jeden Sonntag feierlich gebetet, wird diese Tatsache noch einmal verbindlich bekannt. Denn auch hier heißt es: in remissionem peccatorum – ich glaube an die Vergebung der Sünden. Ich glaube, daß die Sünden kraft Gottes im Nichts verschwinden.

Nach einem spätmittelalterlichen Legendentext aus dem 15. Jahrhundert hat man die 12 Artikel des Credo jeweils einem Apostel zugeschrieben. Den Artikel der Sündenvergebung hat man dabei dem heiligen Judas Thaddäus zugeordnet, dem Patron der schwierigen und menschlich aussichtslosen Fälle.

Uns scheint diese Legendenfassung der volkstümlichen Frömmigkeit durchaus vielsagend. Denn ist es nicht so, daß der Sünder oft genug in der Versuchung steht, an seinen schweren Sünden zu verzweifeln, da er sie für nicht-verzeihbar hält, mit anderen Worten: Weil er wähnt, das Dunkel sei unaufhellbar?

Doch diesem Sünder versichert der hl. Judas Thaddäus, der die Lüge der Aussichtslosigkeit aufdeckt, die befreiende Wahrheit: Nicht die Finsternis siegt, sondern das Licht, denn in der heiligen Beichte geschieht die Zurückschickung deiner Sünden ins Nichts, auf daß das Alles triumphiert: »Siehe, Ich mache alles neu« (Offenbarung 21,5).

Grafik:    Darstellung der Beichte der Sophie von Bayern bei Johannes Nepomuk in der Servitenkirche in Wien. Von Herzi Pinki – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16738064

Freitag, 14. Juli 2017

Veni Sancte Spiritus


Was ist das Ziel des christlichen Lebens?

Was würden Sie antworten? Haben Sie sich schon mal die Frage gestellt?

In einem nachgerade berühmt gewordenen Gespräch mit einem Gutsbesitzer, den besagte Frage nicht in Ruhe ließ, sagt der heilige Seraphim von Sarov, daß das Ziel des christlichen Lebens darin bestehe, den Heiligen Geist zu erwerben.

Die gesamte Passage, aus der dieses Diktum stammt, lautet wie folgt:
»Man sagte Euch: Geh zur Kirche, bete zu Gott, erfülle die Gebote Gottes, tue Gutes – da hast du das Ziel des christlichen Lebens! Einige zürnten Euch sogar, daß Ihr von einer nicht gottwohlgefälligen Neugierde ergriffen wäret, und sagten: Suche nicht nach höheren Dingen über dir! Sie haben Euch nicht so geantwortet, wie sie es hätten tun sollen. Ich, der armselige Seraphim, will Euch auseinandersetzen, worin dieses Ziel nun wirklich besteht.

Gebet, Fasten, Wachen und alle anderen christlichen Werke mögen an und für sich noch so gut sein, aber das Ziel unseres Christenlebens ist nicht nur im Verrichten dieser Werke zu suchen, wiewohl sie unerläßliche Mittel sind, um dieses Ziel zu erreichen. Das wahre Ziel unseres christlichen Lebens besteht in dem Erwerben des Heiligen Geistes Gottes. Achtet wohl darauf, daß nur ein um Christi willen verrichtetes gutes Werk Früchte bringt. Alles aber, was nicht um Christi willen geschieht, wenn es auch gut ist, trägt uns keinen Lohn ein im künftigen Leben. So ist das, mein Gottesfreund!

So besteht denn in dem Erwerben eben dieses göttlichen Geistes das wahre Ziel unseres christlichen Lebens; Gebet aber, Wachen, Fasten, Almosen und andere um Christi willen getane gute Werke sind nur Mittel für die Erwerbung des Geistes Gottes.«
Vielleicht ist so mancher erstaunt über diese Antwort des Heiligen, was nicht zuletzt daran liegen mag, daß der Heilige Geist im Leben etlicher Christen zumeist ein kümmerliches, wenn nicht vergessenes Dasein führt. Der Heilige Geist – wer ist das?

Laut Auskunft Jesu selbst ist die Person und die Vollmacht des Heiligen Geistes sehr deutlich benannt: Wenn aber jener kommt, so sagt der Herr, der Geist der Wahrheit, wird Er euch in die ganze Wahrheit führen (Joh 16,13).

Da haben wir’s: Die Wahrheit. Und gar noch die ganze Wahrheit. Kann es sein, daß wir uns vor dieser ganzen Wahrheit sträuben? Etwa vor der ganzen Wahrheit unseres Lebens?

Ist es womöglich harmloser, um nicht zu sagen bequemer, ein Almosen zu verrichten, als inständig um die Gabe des Heiligen Geistes zu bitten, weil man subkutan weiß, daß es ungemütlich werden könnte, wenn unsere Bitte um den Geist tatsächlich erhört werden würde? Mit anderen Worten: Ist es uns lieber, die ganze Wahrheit nicht zu wissen, statt sie zu wissen und damit ineins aufgestört zu werden aus Gewohnheiten, die nicht die Wahrheit sind?

Die Feststellung des russischen Heiligen hat es in sich. Im Grunde geht sie Hand in Hand mit der klassischen ersten Frage des katholischen Katechismus: »Wozu sind wir auf Erden?« und der entsprechenden Antwort: »Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, Ihm in Liebe und Treue zu dienen und so zum ewigen Leben zu gelangen.«

Zum ewigen Leben jedoch gelangt man nicht im gewohnten Schlendrian. Und wenn noch so oft leichthin geträllert oder gar postuliert wird, daß alle, alle in den Himmel kommen, so gilt doch weiterhin, daß dieser Unernst in die Schranken zu weisen ist. Denn von Faschingsliedern werden wir nicht gerettet, wenn es ernst wird, wohl aber vom Heiligen Geist; denn es ist, so ein anderes Herrenwort, genau dieser Geist, der lebendig macht (Joh 6,63). Und das ewige Leben ist die Heimat eben jener, die lebendig sind und darum das ewige Leben, welches das Leben in Fülle (Joh 10,10) ist, genießen können.

»So ist das, mein Gottesfreund!«

Grafik:    Roland Noé

Freitag, 7. Juli 2017

MitArbeiter

Vielen wird es ähnlich ergehen.

Ist es nicht widersprüchlich, so der Gedanke, was die Heilige Schrift einem bisweilen zumutet?

Da heißt es in der berühmten Bergpredigt: Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet (Mt 7,7).

In der Offenbarung des Johannes jedoch sagt Jesus: Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten (3,20).

Vielleicht sagt nun ein mancher unwillig: Also was nun? Wer klopft? Klopft Jesus oder bin ich es, der da klopfen soll?

Der scheinbare Widersinn löst sich auf, wenn man das dritte Herrenwort, diesmal aus dem Johannesevangelium dazunimmt. Dort sagt Jesus im 15. Kapitel, Vers 5 wörtlich zu Seinen Jüngern: Getrennt von Mir könnt ihr nichts tun.

Diese Aussage Jesu ist offensichtlich ein Schlag in das Gesicht jeder menschlichen Überhebung. Die Einheitsübersetzung setzt an die Stelle des Verbs tun das Verb vollenden, was freilich ungenügend ist. Denn tatsächlich ist im Griechischen vom Tun die Rede und nicht von einem Vollenden. Letzteres würde dem Menschen die stolze Initiative überlassen, und der Herr könnte am Ende die vollendende Patina über unser Werk gießen.

Doch es ist anders. Wir sollen das Wirkliche lernen: Daß wir nichts ohne IHN vermögen.

Und das heißt dann in unserem Zusammenhang: Noch das Anklopfen muß uns beigebracht werden, denn noch nicht einmal das beherrschen wir. Und darum geht Jesus in Seiner unendlichen Entäußerung auch diesbezüglich selbst voran und ist der Erste, der anklopft. Wenn wir Sein Tun beherzigen, dann vermögen wir das Zweite: Selbst anzuklopfen, in der rechten Weise zu bitten.

Anders gesagt, mit einem weiteren Wort des hl. Apostels und Evangelisten Johannes, aus dessen drittem Brief. Unsere Aufgabe ist die der Mit-Arbeiterschaft. Wir sollen Mitarbeiter Gottes sein, wir sollen Mitarbeiter der Wahrheit werden: cooperatores veritatis (3 Joh 8). Wir sind nicht die Urheber, nicht die Copyrightinhaber. Wir sind lediglich die Verwalter, die Angestellten, die Mitarbeiter.

Der Stolze wird sich über diese Anordnung grämen oder hinwegsetzen. Doch wer vernünftig darüber nachdenkt, der wird ausrufen: Deo gratias! Gott sei Dank ist die Ordnung so, denn er weiß, daß er heillos überfordert wäre, wenn man ihm die Urheberschaft aufbürden würde. Und er ist überglücklich, daß er dennoch mitarbeiten darf.

Samstag, 1. Juli 2017

Gerettet


Ein 13jähriger Bursche beim Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Gewässer. Eine Winterszene, wie sie sich soundsoviele Male ereignet. Nichts Besonderes.

Doch dann geschieht folgendes: Das Eis unter den Füßen des Jungen beginnt zu brechen. Die Eisdecke gibt nach. Der Dreizehnjährige stürzt und versinkt im eiskalten Wasser. Er schreit und schreit.

Ein zweiter Bursche, Christoffer mit Namen, der Bruder des Verunglückten, kommt dem Untergehenden zu Hilfe. Es gelingt ihm tatsächlich, den Gefährdeten aus dem eiskalten Tod zu befreien. Der Gerettete kriecht ans Ufer. Kraftlos. Erschöpft.

Und jetzt geschieht das Schreckliche: Der Bruder, der Retter, bricht seinerseits ein und stürzt in die eiskalte Flut. Der gerettete Bruder am Ufer, unterkühlt, ohne Energie, ist zu schwach, ihm zu Hilfe zu kommen. Er muß tatenlos zusehen, wie sein um ein Jahr jüngerer Bruder in den Fluten untergeht.

Die Nachwelt weiß um diese Geschichte, weil der gerettete Bruder später Berühmtheit, ja schließlich Weltberühmtheit erlangt. Es handelt sich um Caspar David Friedrich, den Vorzeigemaler der romantischen Bewegung.

Das traumatische Erlebnis seiner Jugend, wen wundert’s, hat den Maler nachhaltig geprägt. Sein späterer Kampf mit der Depression ist bekannt. Von einem Selbstmordversuch in seinen jungen Mannesjahren ist die Rede. Und die Tatsache, daß immer wieder schwermütige Sujets in seinen Bildern bestimmend wirken – programmatisch in dem wüsten Gemälde mit dem Titel Das Eismeer –, sagt mehr als viele Worte.

Und dennoch wäre eine Sicht auf Friedrichs Biographie, die bei dieser düsteren Diagnose stehenbliebe, zu kurz gegriffen. Denn das eigentlich Erstaunliche ist, daß der Maler, trotz lebensbedrohlicher Traumatisierung, sich durchkämpft zum Leben. Theologisch gesprochen: Der Schrecken des Todes, den Friedrich in seiner ganzen Härte in jungen Jahren erfährt, wandelt sich unter dem letztlich unbegreiflichen Einfluß der Gnade weg von der Verzweiflung hin zum Gekreuzigten: Zum Kreuz, welches trotz erfahrener und womöglich im Inneren weiterhin drohender, berstender Eisschollen dennoch feststeht.

»Auf einem Felsen«, so der Maler, »steht aufgerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest, wie unser Glaube an Jesum Christum. Immer grün durch alle Zeiten während stehen die Tannen ums Kreuz, gleich unserer Hoffnung auf ihn, den Gekreuzigten.«

Dies schreibt er als Kommentar zu seinem bereits damals bewunderten Tetschener Altarbild. Zu sehen ist ein steil aufragendes Kreuz, welches verklärt in den Strahlen der abendlichen Sonne die unverbrüchliche Ordnung der Welt garantiert. Keine Klage. Kein Weh erhebt sich hier. Stattdessen der ruhige, sieggewisse, stille Gesang des Gekreuzigten.

In dieser künstlerischen Überwindung von der gescheiterten jungen Hoffnung zur Hoffnung der abendlichen Höhe scheint uns mehr als nur biographische Transformation aufzustrahlen. Es dünkt uns ein tiefes Gleichnis, das uns alle betrifft.

Denn – in welcher Härte immer –: Das Kreuz ist da, in jedem Leben. Die Schläge kommen, die Wunden kommen. Doch wie gehen wir mit dem um, was uns verletzt, verstört, lebensgefährlich trifft?

Die Rebellion liegt gleichsam stets in Reichweite. Sie ist der schnelle Zorn, der sich dem Unvermeidlichen nicht beugen will. Non serviam. Aber diese Rebellion, wie jeder Aufruhr, bleibt letztlich unfruchtbar.

Die tatsächliche Aufgabe, und es ist wortwörtlich das uns Aufgegebene, besteht dagegen darin, den Schlag, der uns trifft, mit Hilfe der stets dargereichten Gnade anzunehmen, gerade dann, wenn uns das Unverständliche überwältigen will, und uns derart wandeln zu lassen in das größere Geheimnis hinein – in das Einverständnis.

Das Mittel dahin? Laut einem Herrenwort die Geduld, so jedenfalls im Lukasevangelium, Kapitel 21, Vers 19: In patientia vestra possidebitis animas vestras (wörtlich: In der Geduld werdet ihr eure Seelen besitzen, nach der Vulgata).

Und ist es nicht so: Sind die Gemälde des Caspar David Friedrich sehr oft nicht genau das: Meditationen der Geduld?

Grafik:    wiki commons