Donnerstag, 14. September 2017

Der Jüngling oder: Ein grüner Junge II


Es gehört zum Signum großer Kunst, daß sie es nicht dabei beläßt, Zeitläufe, zumal wenn diese Zeitläufe schreckliche sind, bloß abzubilden und sodann dem beschmutzten Leser zu überlassen, was er nun mit dem Schrecklichen, das ihm übergestülpt wurde, anfängt.

Große Kunst will zur Katharsis. Sie will zur Wahrheit, die befreit.

Bereits die formale Anlage des Romans Der Jüngling macht deutlich, worum es Dostojewski geht. Der Ich-Erzähler ist kein Daherredender, sondern im Grunde ein Beichtender. Seine Aufzeichnungen sind eine einzige große Konfession.

Zu dieser Konfession gehört, daß sie aufrichtig zu sein hat. Daß sie nicht verschleiert, sondern die Dinge beim Namen nennt. Das tut der Jüngling Arkadij Makarowitsch Dolgorukij.

Das deutsche Wort Aufrichtigkeit drückt es sehr gut aus. Die Vorsilbe auf gibt die Richtung vor. Derjenige, der wirklich aufrichtig ist, ist bereits auf dem Weg der Besserung, nämlich auf dem Weg des AUFwärts.

Es gäbe ja auch die falsche Alternative des Umdeutens. Die Dinge zwar zu zeigen, aber den Schrecken des Dargestellten aufzuhübschen zu einem notwendigen Prozeß, zur faszinierenden Chance, zum libertären Fortschritt.

In diese Falle läßt Dostojewski seinen Helden nicht gehen. Im Laufe des Romans gehen dem grünen Jungen mehr und mehr die Augen auf. Ihm wird der Star gestochen. Seine Illusionen, und dazu gehört auch seine stolze »Idee«, die ihm perfekte Autonomie sichern soll, werden ihm Schritt für Schritt genommen.

(Notabene: Man fühlt sich an die heilige Thérèse vom Kinde Jesu erinnert und deren Gebet, daß der Liebe Gott ihr sämtlichen Puder aus den Augen nehmen solle.)

Zu Beginn ist Arkadij noch nicht soweit. Aber sein Autor läßt ihn auf 800 Seiten so lange scheitern und irren und klagen und große Sprüche klopfen, bis er am Ende des Romans kein grüner Junge mehr ist, sondern, um in der angeschlagenen Farbensymbolik zu verweilen, ein erdbrauner Jüngling, einer, der mit beiden Beinen halbwegs auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.

»Sie sind«, so kommentiert in dem abschließenden Epilog des Romans, der weniger ironisch ist als man vielleicht landläufig meint, ein Bekannter die Aufzeichnungen des Jünglings, »Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie«.

Und besagter Kommentator gibt zu bedenken, daß ein zukünftiger Künstler für die Darstellung der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden werde und daß Arkadijs Aufzeichnungen in diesem Sinne verwendet werden könnten als Material für die neu zu schaffende schöne Form.

Das aber heißt, der Roman selbst ist letztlich die künstlerische Anstrengung, den Weg aus der destruktiven Unordnung frei zu machen. Dostojewski versucht das Chaos der zufälligen, zerbrechenden Familien in seinem Roman gleichsam apotropäisch zu bannen. Seine eigentliche Hauptperson ist nicht Arkadij, auch nicht dessen Vater oder der Pilger Makar, sondern die Wahrheit beziehungsweise die AUFdeckung der Wahrheit, die der verborgen-offenkundige Motor der Beichte des Jünglings ist.

Denn die Wahrheit bleibt da. Sie ist nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß nicht das Chaos, nicht die Destruktion, nicht die Unordnung zur Lebensfülle führt, sondern das sich Ausrichten an den nicht zufälligen, sondern an den sinnvollen, gültigen Gesetzen des Lebens, und zu diesen Gesetzen zählt, daß ein Land untergeht, wenn die Familien nur mehr zufällige sind.

Und da die Unordnung dermaßen fortgeschritten ist, zeigt Dostojewski ein Weiteres: Der je Einzelne muß beginnen. Denn zur Unordnung gehört auch dieses, daß es mehr und mehr nur mehr Vereinzelte gibt. Arkadij ist zu Beginn des Romans symptomatischerweise der Einzelgänger schlechthin, der sich verschanzt hinter seiner sogenannten Idee.

Doch mag der Einzelne noch so verwundet sein – und der Jüngling ist aufgrund seiner familiären Biographie ein zutiefst verwundeter –, es werden ihm, wenn er nur den Willen zur Wahrheit hat, anders gesagt, wenn er nur den Willen zur Wirklichkeit hat, wenn er diese Wirklichkeit nicht illusionär retuschiert, sondern seinsgemäß wahrnimmt, es werden ihm dann neue, heilsame Kräfte zufließen, die ihn, den Einzelnen, sowohl aus seinem sollipsistischen Gefängnis herausfinden als auch ineins damit zur Wahrheit echter Mitmenschlichkeit finden lassen.

Mit einem Wort: Die Zerrüttung wird aufhören. Die schöne Form wird keimhaft neu aufblühen.

Und wo bleibt die Liebe in dem Ganzen?

Die Liebe ist stets da, gleich wie die Wahrheit. Aber auch der Liebe muß man sich zu nähern verstehen. Denn der zerrüttete Mensch weiß nicht, was Liebe ist. Er hat Vorstellungen über die Liebe, Wünsche, Begehren, Leidenschaften. Das freilich genügt nicht. Wenn er jedoch bereit ist, sich durch den Anspruch der Wirklichkeit von seinen Zerrissenheiten reinigen zu lassen, wird er anfangen zu lieben. Wohlgemerkt: Anfangen.

Am Ende von Dostojewskis Roman gibt es, was nun nicht weiter verwundern dürfte, etliche solcher Anfänge.

Grafik:    Wassili Grigorjewitsch Perow, wiki commons.