Samstag, 28. Mai 2022

Der Marienmonat und der Missionar und Molokai

Molokai wurde bekannt durch den heiligen Damien de Veuster. Es ist die Insel der Leprakranken. Dorthin ließ sich der belgische Missionar 1873 senden, um sein Leben für die Leprakranken hinzugeben.

Ein anderer Missionar, ebenfalls nach Molokai aufgebrochen, berichtet Jahrzehnte später von seinem Aufenthalt auf der Leprainsel.

Es ist der Marienmonat Mai. Der Missionar kommt auf die Insel, um dort den Marienmonat zu eröffnen und zugleich die Statue Unserer Lieben Frau von Fatima zu segnen und aufzustellen.

Auf der Insel angekommen, erfaßt den Missionar das Erschrecken angesichts der entstellten Kranken. Mutlosigkeit will sich breit machen. Wie soll das gehen? Die wunderschöne Statue der Madonna aufstellen und dabei in die ungestalten, zerstörten Gesichter der Leprosen schauen?

Während er noch seinen bedrückenden Gedanken nachhängt, kommt eine Schwester und bittet ihn, sofort zu einem Sterbenden zu kommen. Die Marienstatue solle er mitnehmen, denn der Sterbende wünsche sich, bevor er sterbe, die Madonna zu sehen.

Der Missionar, die Madonna in den Armen, folgt der Schwester mit beklommenem Herzen. Sie erreichen das Lager des Sterbenden. Dieser stammelt bewegt: »Die Madonna.« 

Ist es nun die Beklemmung des Missionars, seine Angst zu versagen oder ganz einfach seine Hilflosigkeit? Als er sich dem Bett des Kranken nähert, stolpert er und fällt. Bevor er zu Boden geht, ruft er, um die Statue zu retten, aus: »Maria, hilf.«

Als er sich erhebt, gilt sein erster Blick der Madonna. Die Muttergottes ist an vielen Stellen verletzt. Die Hände halten zwar weiterhin den Rosenkranz, sind aber beschädigt. Der Lack im Gesicht ist an etlichen Stellen abgesplittert, auf den Wangen sind nun dunkle Flecken zu sehen, das Lächeln der Muttergottes weist einen schmerzlichen Zug auf. Nur die Augen sind unversehrt und schauen mit derselben Güte und Zärtlichkeit den Betrachter an.

Der Missionar zögert. Was soll er tun? Die Schwester ruft ihn ans Lager des Sterbenden. Dieser, als er die Madonna wahrnimmt, wird von einer Welle der Liebe und Sehnsucht und Glaubenserschütterung erfaßt. Er versteht, ohne viele Worte: Die himmlische Mutter kommt zu ihrem sterbenden Kind.

Denn so ist Maria. Sie steigt herab. Aus Liebe zu ihrem kranken, entstellten Kind verzichtet sie auf ihre makellose Schönheit.

Samstag, 21. Mai 2022

Die Freude

In der Freude will jeder sein. Depression ist keine Wunschvorstellung. Nur: Wie kommt man zur Freude?

Im Johannesevangelium spricht Jesus nicht nur von der Freude, sondern von der vollkommenen Freude. Und diese vollkommene Freude – man höre und staune - ist dem Menschen zugedacht. Es heißt in Joh 15, 9-11:

»In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch sei und damit eure Freude vollkommen werde.«

Vollkommene Freude – das will man. Aber vielleicht haben wir das Wesentliche überhört. Denn bevor Jesus von der vollkommenen Freude für uns spricht, erwähnt er ausdrücklich Seine Freude: Seine Freude soll in uns sein.

Die Abfolge ist klar. Derjenige, der Jesus nachfolgen will, muß in Jesu Liebe bleiben. Das ist grundlegend. Der Prüfstein, ob dieses Bleiben tatsächlich verwirklicht wird, ist das Einhalten der Gebote. Das Befolgen der Gebote zeigt nämlich, daß man nicht nur schöne Worte im Mund führt, sondern sich wirklich um ein christliches, gottwohlgefälliges Leben bemüht. Der Kompaß der Überprüfung ist dabei stets derselbe: Jesus. An Ihm ist ablesbar, was zu lieben heißt und was zu gehorchen heißt.

Was aber meint Jesus genau, wenn Er von Seiner Freude spricht? Worin besteht Jesu Freude?

Das ganze Johannesevangelium (wie im übrigen auch die anderen Evangelien) geben darauf eine unmißverständliche Antwort. Die Freude Jesu ist die, ganz im Willen des Vaters geborgen zu sein. Ganz Sohn zu sein. In den Worten von Joh 4,34: »Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat.«. Mit anderen Worten: Die Freude Jesu besteht in der unverbrüchlichen Liebesgemeinschaft mit dem Vater. Diese Gemeinschaft der Liebe ist Alles: Ursprung, Leben, Licht, Fülle, Rast, Labsal, seliges Glück, unendlicher Austausch.

In diesen strömenden Austausch der Liebe lädt uns Jesus ein. Denn die Liebe will mitteilen und schenken. Wenn wir bereit sind, uns hineinnehmen zu lassen in die Teilnahme, dann wachsen wir hinein in das Versprochene: In die vollkommene Freude.

Die Freude ist folglich das Zweite.

Wir neigen wohl alle zu dem Fehler, krampfhaft die Freude zu suchen. Aber die Freude findet man so nicht. Denn der erste, entscheidende Schritt ist nicht zu überspringen: Unser Ja dazu, Jesu Freude aufzunehmen. Nicht unsere Vorstellungen von Freude durchzusetzen, sondern einverstanden zu sein, Seine Freude zu bejahen.

Dann, erst dann, werden wir wahrhaft Frohe. Dann, erst dann, verstehen wir nämlich, daß, wie Paulus es nennt, »denjenigen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht« (Röm 8,28).

Unser Irrtum ist, daß wir, da wir unsere weltlichen Konzepte von Freude für die gültigen halten, die Freude ausschließlich an wohlige Ereignisse binden. Wenn wir von Heiligen lesen, die in Schmerz oder Krankheit nicht verzweifelten, sondern eine tiefe Freude erfuhren, kommt uns dies, gelinde gesagt, verwegen vor. Wir lesen es und wehren das Gelesene zugleich ab, indem wir entgegnen: Das sind halt Heilige. Damit halten wir uns die Heiligen vom Leib, obgleich wir wissen, daß Jesus uns selbst zu dieser Heiligkeit beruft (»Seid also vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist.« Mt 5,48).

Was machen die Heiligen anders als wir?

Sie haben sich, ohne jeden Vorbehalt, die Freude Jesu schenken lassen. Damit sind sie Mitbürger des Himmels geworden. Sohn im Sohn. Der Vater, den wir im Vater Unser bekennen, ist tatsächlich ihr Vater geworden. Sie wissen, daß dieser Vater allmächtige, unwandelbare, unfaßbare Liebe ist. Und da dem so ist, zweifeln sie nicht länger. Die Liebe des Vaters ist Liebe. Immer. Daher die reine Dankbarkeit des Heiligen: »Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leid die gleiche Dankbarkeit einflößen« (Simone Weil).

Gleich was geschieht, der Heilige weiß, daß Alles aus der liebenden Hand des Vaters zu ihm kommt. Er ist gelassen. Wie es im Prinzip und Fundament der Exerzitien des heiligen Ignatius von Loyola heißt: »Auf diese Weise sollen wir von unserer Seite Gesundheit nicht mehr verlangen als Krankheit, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Schmach, langes Leben nicht mehr als kurzes, und folgerichtig so in allen übrigen Dingen.« 

Der Heilige bleibt in der befreienden Indifferenz. Er murrt nicht, wenn er krank ist. Wozu auch? Noch die Krankheit ist ein Liebesbeweis Gottes. Das mag sich verrückt anhören. Und es ist auch verrückt. Denn die Liebe, von der wir hier sprechen, ist verrückt, was so viel meint wie, daß sie nicht mit menschlichen, kleinlichen Maßstäben zu messen ist.

Irgendwann werden es auch die Anderen wahrnehmen. Wieso gibt es da jemanden, der sich freut? Nicht nur an Sonnentagen, sondern auch, wenn die Wolken die Sonne verdecken? Manche werden über diese Freude, die, da sie eine geistliche Freude ist und also Geschenk des Heiligen Geistes und also nicht von dieser Welt, staunen. Andere werden, aus Neid und der dämmernden bitteren Erkenntnis, daß ihr Leben ein verfehltes ist, diese selbstverständliche Freude des Heiligen zu schmähen suchen.

Der Heilige selbst kann Stunden erleben, da er in der Versuchung ist, die Quelle der Freude sich trüben zu lassen. Celano, der frühe Biograph des heiligen Franziskus, bemerkt:

»Daher trachtete der Heilige danach, stets im Jubel des Herzens zu verharren, die Salbung des Geistes und das Öl der Freude zu bewahren (vgl. Ps 45,8). Die Krankheit des Überdrusses suchte er als die schlimmste mit der größten Sorgfalt zu vermeiden. Sobald er merkte, daß sie auch nur ein wenig in seinem Geist Eingang gefunden hat, eilte er schnell zum Gebet. Er pflegte nämlich zu sagen: Der Knecht Gottes, der, wie es vorkommen kann, aus irgendeinem Grund verwirrt ist, muß sich sofort zum Gebet erheben und so lange vor dem höchsten Vater verharren, bis er ihm die Freude seines Heiles wiedergibt (vgl. Ps 51,14).«

Vor dem höchsten Vater: Denn eben dort empfängt der Heilige stets neu seine Sicherheit des herrlichen Geliebtseins.

Ein Letztes. Wer wirklich in der geistlichen Freude ist, ist unbesiegbar. Nicht, weil er aus Eigenem so stark und mächtig wäre, sondern weil er, um die eigene katastrophale Schwäche wissend, sich in den Schutzschild des Vaters flüchtet, um dort, in dessen unbesiegbarer Liebe, geborgen zu sein. Der Teufel, der kommt um zu stehlen und zu morden und zu verderben (s. Joh 10,10), beißt sich an dem wahren Frohen die Zähne aus.

Grafik: praedica.de

Samstag, 14. Mai 2022

Vincent

Manche Lebensläufe sind derart erschütternd, daß man Mühe hat weiterzulesen. Dabei ist man lediglch der Leser, und man wird weiterlesend gewahr, daß das eigentlich Erschütternde die Tatsache ist, daß ein konkreter Mensch dieses Leben gelebt hat - nicht in Buchstaben, sondern im Fleisch und im Blut.

Eine Geschichte des Scheiterns. Kunsthändler, Verkäufer, Lehrer, Missionar – allesamt Stationen auf einem Weg der Niederlagen. Ein Beispiel unter anderen: Das Elend der Grubenarbeiter und Weber läßt ihn, als einen vom Evangelium Entzündeten, nicht kalt. Er predigt mit glühendem und gepeinigtem Herzen. Dem protestantischen Konsistorium ist dieser Eifer zu viel des Guten. Dem Prediger mit dem großen Herzen wird gekündigt.

Seine Versuche, eine Künstlerkolonie zu gründen, gehen in die Brüche oder kommen über Gedankenentwürfe nicht hinaus. Die Freundschaft mit Gauguin endet nahezu tödlich.

Die hunderte von Zeichnungen und Bilder und Skizzen, die er anfertigt, werden, bis auf wenige, durchwegs mißverstanden, abgelehnt, belächelt oder gleich als wertlos abgetan. Ein einziges Werk von ihm findet zu seinen Lebzeiten einen Käufer.

Abgrundtiefe Einsamkeit, Melancholie, Traurigkeit, seelische Finsternisse, Hunger, Not, Armut, Elend, Unverständnis… die Liste der Trübsale ist lang.  »Hätte man mich nur nicht durch den Dreck geschleift«, stöhnt er einmal.

Und doch entstehen in diesem gequälten Leben die Meisterwerke. Das ist das Wunder. Statt sich zu verlieren im Meer der Schmerzen, hißt er die Segel, selbst wenn es zerfetzte Tücher sind, um Bilder zu schaffen, die das Unendliche widerspiegeln. Oder den Adel des Schmerzes. Oder das Brennen des südlichen Himmels. Oder die gelben Kornfelder und die zerbrechliche Gestalt eines Antlitzes.

Damit wir, die Nachgeborenen, im Staunen bleiben, verzehrt sich sein Leben in den Staub. Gab es Liebe? Ja. Die unverbrüchliche Liebe des Bruders, der zu ihm hält, wenn andere ihn fallen lassen. Dieser große Bruder, der sich zu verstehen bemüht und der die Hand ausstreckt und hilft und finanziert. Und der, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Tod des Verkannten, im Alter von nur 33 Jahren in einer Nervenheilanstalt stirbt und schließlich an der Seite seines geliebten Bruders begraben wird.

Dieser ist 38 Jahre alt geworden. »Arbeiter in Christo« hatte er sich in einem Brief an den Bruder genannt. Er hatte sich dazu entschieden, »besser ein Schaf zu sein als ein Wolf«. Sein Name wurde immer wieder falsch geschrieben. Darum beschloß er, die Bilder, die er für vollendet hielt, mit seinem Vornamen zu signieren: Vincent.

Grafik: Van Gogh, Vase mit 12 Sonnenblumen. wikicommons

Samstag, 7. Mai 2022

Nach oben

»Die Schwerkraft des Geistes läßt uns nach oben fallen.«

Simone Weil

Grafik: Photo by Karl Fredrickson on Unsplash