Samstag, 14. Mai 2022

Vincent

Manche Lebensläufe sind derart erschütternd, daß man Mühe hat weiterzulesen. Dabei ist man lediglch der Leser, und man wird weiterlesend gewahr, daß das eigentlich Erschütternde die Tatsache ist, daß ein konkreter Mensch dieses Leben gelebt hat - nicht in Buchstaben, sondern im Fleisch und im Blut.

Eine Geschichte des Scheiterns. Kunsthändler, Verkäufer, Lehrer, Missionar – allesamt Stationen auf einem Weg der Niederlagen. Ein Beispiel unter anderen: Das Elend der Grubenarbeiter und Weber läßt ihn, als einen vom Evangelium Entzündeten, nicht kalt. Er predigt mit glühendem und gepeinigtem Herzen. Dem protestantischen Konsistorium ist dieser Eifer zu viel des Guten. Dem Prediger mit dem großen Herzen wird gekündigt.

Seine Versuche, eine Künstlerkolonie zu gründen, gehen in die Brüche oder kommen über Gedankenentwürfe nicht hinaus. Die Freundschaft mit Gauguin endet nahezu tödlich.

Die hunderte von Zeichnungen und Bilder und Skizzen, die er anfertigt, werden, bis auf wenige, durchwegs mißverstanden, abgelehnt, belächelt oder gleich als wertlos abgetan. Ein einziges Werk von ihm findet zu seinen Lebzeiten einen Käufer.

Abgrundtiefe Einsamkeit, Melancholie, Traurigkeit, seelische Finsternisse, Hunger, Not, Armut, Elend, Unverständnis… die Liste der Trübsale ist lang.  »Hätte man mich nur nicht durch den Dreck geschleift«, stöhnt er einmal.

Und doch entstehen in diesem gequälten Leben die Meisterwerke. Das ist das Wunder. Statt sich zu verlieren im Meer der Schmerzen, hißt er die Segel, selbst wenn es zerfetzte Tücher sind, um Bilder zu schaffen, die das Unendliche widerspiegeln. Oder den Adel des Schmerzes. Oder das Brennen des südlichen Himmels. Oder die gelben Kornfelder und die zerbrechliche Gestalt eines Antlitzes.

Damit wir, die Nachgeborenen, im Staunen bleiben, verzehrt sich sein Leben in den Staub. Gab es Liebe? Ja. Die unverbrüchliche Liebe des Bruders, der zu ihm hält, wenn andere ihn fallen lassen. Dieser große Bruder, der sich zu verstehen bemüht und der die Hand ausstreckt und hilft und finanziert. Und der, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Tod des Verkannten, im Alter von nur 33 Jahren in einer Nervenheilanstalt stirbt und schließlich an der Seite seines geliebten Bruders begraben wird.

Dieser ist 38 Jahre alt geworden. »Arbeiter in Christo« hatte er sich in einem Brief an den Bruder genannt. Er hatte sich dazu entschieden, »besser ein Schaf zu sein als ein Wolf«. Sein Name wurde immer wieder falsch geschrieben. Darum beschloß er, die Bilder, die er für vollendet hielt, mit seinem Vornamen zu signieren: Vincent.

Grafik: Van Gogh, Vase mit 12 Sonnenblumen. wikicommons