Es ist bekannt, daß Marcel Proust von der Kathedrale in Chartres begeistert war.
Aber es war nicht die in Stein gefaßte tiefe Frömmigkeit einer ganzen Nation (die den Ehrentitel älteste Tochter der katholischen Kirche trägt) die den Verfasser der Recherche in Bann schlug, sondern die ästhetische Vollkommenheit der Kathedrale: Die herrlichen Glasrosetten, die Geschichte der französischen Könige, die sich im Licht der Fenster brach, die harmonische Gliederung eines vollendeten Kunstwerks.
Die sieben Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat darum Proust, angeregt durch Chartres, quasi als seine Kathedrale konzipiert. Die Recherche, so Prousts hoher Anspruch, soll gleichfalls ein vollendetes, hochaufragendes Kunstwerk sein, eine Kathedrale, erbaut aus Worten, Worten, Worten.
Das freilich, was die gotische Kathedrale im eigentlichen Sinn zur Kathedrale macht, nämlich das Licht von oben, oder, in der Deutung des Kunsthistorikers Sedlmayr, die Tatsache, daß die Erbauer der Kathedrale gleichsam das himmlische Jerusalem in einem Monument aus Stein und Glas und Licht wie in einem Vor-Schein auf Erden zu repräsentieren gedachten, dieses geistliche Konzept kommt in Prousts Recherche nicht vor.
Der säkularisierte Jude Proust schafft eine säkularisierte Kathedrale, das heißt ein literarisches Werk, welches überaus verbos und in technisch brillanter Architektur daherkommt, aber letztlich, um in der Sprache der Bildhauerei zu bleiben, keine Kathedrale schafft, sondern eine Pyramide.
Dies erkennt man nicht zuletzt daran, daß in dem Proustschen monumentalen Wortgebilde das fehlt, was in der Kathedrale förmlich in jeden Stein eingemeißelt ist: Das Mitleid.
Denn Chartres, erstanden in mühseligster, jahrzehntelanger Arbeit und oft genug mitfinanziert durch die Scherflein ärmster Bevölkerungsschichten, gibt den Menschen des hohen Mittelalters die leuchtende Hoffnung mit auf deren Weg. Der Mensch, so erzählen die Steine der Kathedrale, ist auf einem verschlungenen Weg. Das Labyrinth, in den Boden eingelassen, ist der Weg des Pilgers. Aber dieser Weg führt nicht in den schönen Schein, sondern in die strahlende Wahrheit der himmlischen Rose.
Gerade weil der Mensch der Hoffnung so sehr bedarf und ohne sie stirbt, erhebt sich die Kathedrale voll wahrhaftigen Mitleids als Denkmal der certissima spes, der sichersten Hoffnung auf das himmlische Jerusalem für den, der den Pilgerweg gläubig-vertrauensvoll geht.
Im Kontrast dazu sollte man, paradigmatisch für Prousts säkulare Kathedrale beziehungsweise Pyramide, die Episode am Ende des zweiten Bandes der Recherche sich zu Gemüte führen. Man braucht diese Episode nicht groß zu kommentieren. Ihre Mitleidslosigkeit wäre als Tragödie zu beklagen, wenn die Mauern, in die sie eingefaßt ist, Mauern des Mitleids wären. Aber das sind sie nicht. Wo das Licht von oben kompositorisch ausgelassen ist, da ist die Logik der Mitleidslosigkeit zwingend. Da sind rote Schuhe wichtiger als der bevorstehende Tod eines Freundes.
Hier die Geschichte.
Charles Swann, distinguierter Kunsthändler, der in Paris in den höchsten Adelskreisen des Faubourg verkehrt, wird eingeladen, im nächsten Jahr den Herzog und die Herzogin de Guermantes bei deren Reise nach Venedig zu begleiten. Swann bedauert, absagen zu müssen, und dies aus gesundheitlichen Gründen, denn es steht aufgrund seriöser ärztlicher Auskunft zu befürchten, daß er das nächste Jahr bereits tot sein wird.
Beide, Herzog wie Herzogin, dementieren diese ärztliche Prognose respektive gehen gesellschaftlich geschickt darüber hinweg. Es ist jetzt nicht die Zeit für die düsteren Todesprophezeiungen des Freundes, wohl aber dringende Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen. Der Herzog drängt darum seine Gattin, sich zu beeilen, denn um 20.00 Uhr werden sie bei einem Empfang erwartet, und die Herzogin hat sich dem Anlaß entsprechend noch umzukleiden.
Swann wird vom Herzog gebeten, bereits zu gehen, ansonsten würde Madame de Guermantes, sollte sie Swann nach dem Garderobenwechsel noch antreffen erneut Konversation betreiben und sich also beim wichtigen Soiréetermin, der keinerlei Aufschub dulde, ungebührlich verspäten.
Swann verläßt daraufhin mit dem Erzähler (Marcel) das herzogliche Palais, will allerdings draußen abwarten, bis die Kutsche des Herzogenpaars abgefahren ist.
Schließlich ist es soweit. Das herzogliche Paar erscheint zur Abfahrt. Die Herzogin sagt dem wartenden Swann ein letztes Lebewohl und versichert ihm, man habe ihn töricht in Schrecken versetzt: »Ich glaube kein Wort, von dem, was Sie sagen …« Und sie hebt ihr Kleid an, um den Fuß auf den Wagentritt zu setzen.
Da passiert’s. Ihr Mann bemerkt entsetzt, daß seine Gattin, gänzlich deplaziert, zu ihrer roten Abendgarderobe ihre schwarzen Schuhe anbehalten hat.
»Gehen Sie sofort wieder hinauf und ziehen Sie die roten Schuhe an!«
»Aber mein Lieber«, brachte die Herzogin mit sanfter Stimme vor, da es ihr peinlich war, daß Charles, der mit mir hinausgehen und erst den Wagen abfahren lassen wollte, diese Worte noch hörte, »wir sind auch schon so spät dran …«
»Nicht doch, wir haben noch gut Zeit. Es ist erst zehn vor acht, wir brauchen ja schließlich keine zehn Minuten bis zum Parc Monceau, und was wollen Sie, selbst wenn es halb neun wird, gedulden sie sich auch, Sie können doch nicht in einem roten Kleid und schwarzen Schuhen erscheinen. Im übrigen werden wir nicht die letzten sein, da sind immer diese Sassenages, die kommen nie früher als zwanzig Minuten vor neun.«
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