Beispiel 1
Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon wurde ein Bestseller. Zwei Millionen mal verkauft, schließlich mit Weltstar Jeremy Irons verfilmt.
Berichtet wird von einem Gymnasiallehrer, der sein Gymnasium plötzlich verläßt, um sein Leben neu zu leben. Bevor er geht, erinnert er sich noch einmal an seine Schüler, etwa an Sarah Winter. Von ihr heißt es lapidar:
»Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. ›Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin‹, sagte sie eine Woche später, ›es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.‹«
Beispiel 2
Per Olov Enquist, Das Buch von Blanche und Marie. Erzählt wird die semihistorische Geschichte von Blanche Wittmann (einer Patientin des berühmten Pariser Nervenarztes Charcot, des Lehrers von Sigmund Freud) und der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Geschichte zweier Frauen, die vor der Zeit das leben, was man später ein emanzipiertes, selbstbestimmtes Frauenleben nennen wird. Über Blanche heißt es:
»Aus dem Tagebuch geht hervor, daß Blanche schon als Sechzehnjährige befruchtet wurde. Ihr Vater, der Apotheker war und seine Tochter auf viele Weisen liebte, führte da, auf ihre eindringlichen Aufforderungen hin, eine Abtreibung bei der Tochter durch. Als er das Instrument in sie einführte, begann er, eine Melodie zu summen, die, wie sie glaubte, von Verdi stammte. Da hatte sie Angst bekommen, weil sie erkannte, daß auch ihr Vater, der ja nur in gewissem Maße für die Situation verantwortlich und am Ende gezwungen gewesen war, ihren tränenreichen Bitten und den Appellen an seine Vatergefühle nachzugeben, vor Angst außer sich war.«
Beispiel 3
Commissario Brunetti in seinem ersten Fall. Mitten in der Romanhandlung taucht die beiläufige Frage auf, welche Zeitungen man denn so liest. Darauf der Kommissar:
»(…) wir lesen L’Osservatore Romano«, erklärte Brunetti, indem er das offizielle Organ des Vatikans nannte, in dem noch immer gegen Scheidung, Abtreibung und den verderblichen Mythos der Gleichberechtigung gewettert wurde.«
Das soll genügen, es ist eh stets die alte, abgedroschene Leier.
Abtreibung, so der inszenierte Diskurs, ist, wie die amerikanischen militanten Abtreibungsbefürworter lauthals behaupten, no big deal. Eine Lappalie, und demensprechend lapidar abzuhandeln. Bei einem Täßchen Tee oder, Donna-Leon-like, als ätzender, geschickt plazierter Zwischendurchprügel auf die katholische Kirche. Und wenn von Angst die Rede ist, dann nicht, weil die Abtreibung als der Horror verstanden würde, der sie tatsächlich ist, sondern weil krude Vater-Tochter-Gefühle ins Spiel kommen, welche, ganz im Gegenteil, die Abtreibung zum väterlichen Liebesakt (sic!) der Tochter gegenüber pervertieren. Verdi inklusive.
Man versteht, wenn man diese Ungeheuerlichkeiten liest, besser, warum ein Platon die Dichter aus seinem idealen Staat verbannte. Denn der griechische Weise hatte erkannt, wie viel Macht in der literarischen Lüge liegt. Und eben dieses Lügen war dem Weisen zuwider, denn die Lüge, so war ihm klar, verdirbt den Menschen. Mit anderen Worten: Wenn Dichter, dann nur unter der Voraussetzung, daß sich der Dichter der Wahrheit verpflichtet weiß, ganz gemäß dem Wort der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann, anläßlich einer Preisverleihung: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.«
Heute allerdings gehört die Lüge bereits zum sogenannten guten Ton. Abtreibung – na und? Mehr noch. Wer zum gesellschaftlich tonangebenden Zirkel dazugehören will, der muß auf jeden Fall in der Frage der Abtreibung sein Einverständnis signalisieren, und sei es auch nur in einem beiläufigen Schwenk. Dann, und nur dann, gehört auch er dazu.
Karin Struck ist da ein dekuvrierendes Exempel. In den siebziger, achtziger Jahren publizierte sie bei Suhrkamp, was einer literarischen Weihe gleichkam. Entsprechend akklamierend reagierte das Feuilleton. Die Autorin wurde als Mitbegründerin der Stilrichtung Neue Subjektivität beachtet, geachtet, gefeiert.
Dann jedoch machte Struck einen kapitalen strategischen Fehler. Sie begann, ihre Abtreibung zu thematisieren. Und dies nicht in rosaroten, sondern in grellen, nichts beschönigenden Farben. Damit hatte Struck ihr künstlerisches Todesurteil unterschrieben. Diese neue Subjektivität war schlicht und ergreifend verboten! Sie hätte einfach wissen müssen, daß das goldene Kalb der Abtreibung nicht angetastet werden darf.
Die letzten Jahre ihres Lebens, mittlerweile zur katholischen Kirche konvertiert, widmete Karin Struck dem Kampf gegen die Lüge, welche Abtreibung zu einer Errungenschaft stilisiert. Sie starb, nicht einmal sechzig Jahre alt, in diesem Kampf.