Freitag, 22. Februar 2019

Die Abwesenden


Wer kennt das nicht?

Man sitzt in der U-Bahn oder in der Straßenbahn und ist umgeben von den Abwesenden. Da sitzen Zehnjährige, Zwanzigjährige, Dreißigjährige und auch Vierzigjährig-Fünfzigjährige und haben ihre Stöpsel im Ohr oder sind abgesunken in diese kleinen, glitzernden Mattscheiben vor ihnen.

Die Generation der Abwesenden.

Nur: Warum sind sie abwesend? Warum diese Flucht in die virtuellen Welten?

Die Soziologen geben ihre Antworten. Die Pädagogen geben ihre Antworten. Die Politiker, die bekanntlich zu allem was sagen, melden sich auch zu Wort. Und die Schar der Konsumenten hat gleichfalls Antworten parat.

Was man jedoch im Stimmengewirr nahezu nie vernimmt, ist die unbequeme Antwort, daß ein hoher Prozentsatz oder vielleicht sogar die Mehrzahl dieser Abwesenden Abtreibungsüberlebende sind.

Mit diesem Begriff bezeichnen der Kinderpsychiater Philip G. Ney und seine Frau, die Ärztin Marie Peeters-Ney, all die Personen, die, aus welchen Gründen immer, eine Abtreibung überlebt haben. Danach ist beispielsweise ein Abtreibungüberlebender ein Kind, welches in eine Familie hineingeboren wird, in der eine oder mehrere Abtreibungen stattgefunden haben. Warum hat besagtes Kind überlebt, während seine Geschwister durch Abtreibung getötet worden sind?

Die Neys haben in jahrzehntelanger Forschungsarbeit die Symptome mit Krankheitswert von Abtreibungsüberlebenden untersucht und gaben schließlich dem Symptomenkomplex die Bezeichnung: PASS – Post-Abortion-Survivor-Syndrom (das Syndrom der Abtreibungsüberlebenden).

Welche pathologischen Konsequenzen hat das Faktum der geschehenen Abtreibung auf diejenigen, die der Abtreibung entkommen sind? Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, wenn man sie, die geborenen, zu sogenannten „Wunschkindern“ stilisiert, d.h. zu Kindern, die deswegen das Licht der Welt erblicken durften, weil sie erwünscht waren – was einschließt, daß es offensichtlich andere Kinder gibt, die nicht  erwünscht, keine Wunschkinder sind und daher beseitigt werden dürfen? Welche globalen Auswirkungen hat das Phänomen der globalen Abtreibung und ihrer Opfer?

Läßt man die Daten und Schlußfolgerungen, welche die Neys darlegen, an sich heran, dann ist es ein Schock. Denn aufgrund der vorliegenden Resultate beginnt sich der Blick zu schärfen und man versteht besser, was heute passiert.

Zum Beispiel: Warum gibt es die no-future-Generation? Warum grassieren unter Jugendlichen Computerspiele, in denen das Ego-Shooting (das Abknallen von Personen) erklärtes Ziel ist? Wie kommt es, daß Menschen und ganze Bewegungen sich leidenschaftlich für bedrohte Tiere einsetzen, während sie zur selben Zeit den bedrohten Menschen aus dem Blick verlieren? Oder: Woher die Gewalt, die Verzweiflung, die zerbrochenen Beziehungen, die Bindungslosigkeit, die Scheu vor der Verantwortung, die aus den Fugen geratene menschliche Ökologie? 

Denkt man über die Ergebnisse der Neys nach und schaltet den eigenen gesunden Menschenverstand nicht vorzeitig aus, dann leuchtet es einem irgendwann ein, warum es zunehmend die Generation der Abwesenden gibt.

Diejenigen, die da im Bus sitzen und ihren konkreten, realen Sitznachbarn nicht mitbekommen, weil sie untergehen im neuesten Computerspiel oder in der dreiundfünfzigsten sms, welche es einem nicht anwesenden Fernen zu schreiben gilt, fürchten die Konfrontation mit der nackten Wirklichkeit. Denn sie wissen oder ahnen oft genug, daß die Wirklichkeit eine horrende ist. Was nämlich ist horrender als aufzuwachsen in einer Familie, in der die eigenen Geschwister durch Abtreibung getötet wurden?

Woher soll ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit kommen, in das reale Heute, wenn der Ort, wo zuallererst einmal dieses Vertrauen eingeübt wird – die Familie - , gerade der Ort wurde, in dem eben dieses Vertrauen zerstört wurde? Und wenn das eigene Leben offenbar am seidenen Faden des Erwünschtseins hängt?

Die Verführung liegt so nahe, in die Scheinwelt des Virtuellen zu flüchten, wenn die tatsächliche Welt extrem verletzt. Ein Geschwister, welches aufgrund von Abtreibung fehlt, ist nicht zu löschen, während man Mails, die unbequem sind, mit einem Klick aus dem Leben schaffen kann.

Es ist simpel, auf die Abwesenden einzuschlagen und womöglich vom Damals zu schwärmen, als »die Jugend« und die Welt überhaupt noch so frisch und fröhlich waren. Gescheiter wäre es, an die eigene Brust zu schlagen und sich zu fragen, wo man selbst zur Generation der Abwesenden beigetragen hat oder diese Generation im Stich läßt? Augenöffnend wäre allemal, das Buch der Neys zu lesen. Man kann es hier bestellen: immaculata.at.

 Grafik: immaculata.at