Freitag, 15. Februar 2019

Das ganze Leben


Der verräterische Satz fällt neun Seiten vor Schluß: «Er war nie in die Verlegenheit gekommen», heißt es da über den Protagonisten Andreas Egger, «an Gott zu glauben (…).»

Dieses Bekenntnis gehört im modernen Literaturbetrieb dazu, es ist gleichsam das Schibboleth, welches erst die Tür zum Erfolg öffnet. Nach diesem kurzen Credo des selbstverständlichen Atheismus ist man im Feuilleton willkommen.

Es verwundert dann nicht länger, wenn im Buch selbst viel gestorben wird und die Traurigkeit eine ebenfalls selbstverständliche ist. Denn wo Gott fehlt, will sich die Freude, vom dauerhaften Glück ganz zu schweigen, nicht einstellen. Das heidnische Fatum hat das Sagen, mit anderen Worten die unvernünftige, grausame Natur. Die aufkeimende Liebe zwischen Egger und seiner Baut, dann Ehefrau Marie, geht, noch ehe sie zum rechten Blühen kommt, in den Massen einer gnadenlosen Lawine unter, die Marie auf immer unter sich begräbt.

Erbarmen? Gnade? - Fehlanzeige.

Denn  die gottlose Welt, die Robert Seethaler schildert, ist kein christliches Schöpfungsbuch, welches über sich hinausweist, sondern das huis clos eines Sartre, diesmal transponiert in den alpenländischen Lebenslauf eines Erniedrigten und Gemarterten.

Egger, so Seethaler, verzweifelt dennoch nicht. Egger, so weiterhin Seethaler, konnte „auf sein Leben (…) ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.»

Camus läßt grüßen. Sein Sisyphos, der immer wieder den Felsblock zum Gipfel wälzt, um sodann, zurückgeworfen, aufs neue in der Niederung beginnen zu müssen, soll man sich, so Camus, als Glücklichen vorstellen.

Seethalers Egger soll man sich als Staunenden vorstellen. Das ist die halsbrecherische Volte des Existentialisten. Es gibt zwar am Ende nichts zu lachen, aber dennoch verleiht der Autor seinem Helden das große Staunen. Denn die pure Endlichkeit, so ist zu vermuten, hält niemand aus, auch kein Egger, auch kein Seethaler. Die Sehnsucht des Menschen, die ins Un-Endliche drängt, bricht sich staunend Bahn noch im existentialistischen geschlossenen Raum. Und vielleicht ist das die wirkliche Lektion dieses Romans, der sich Ein ganzes Leben nennt.

Denn auch dieser Titel ist falsch. Das Leben der Hauptperson ist bestenfalls ein halbiertes Leben. Dort, wo man dem Menschen die Ewigkeit nimmt, bleibt ein Kastrat zurück. In den Worten Camus‘: «Diese Welt vernichtet mich.»

Aber diese Welt ist, Gott sei Dank, mehr als diese Welt. Das ist keine Ewigkeitsvertröstung, sondern reale Sicht auf die nicht auslöschbare Sehnsucht des Menschen.

Egger wird schließlich neben seiner Frau Marie ins Grab gelegt. Aha, denkt der Leser verdutzt, Sehnsucht über den Tod hinaus, gar Liebe über den Tod hinaus. Mon Dieu, höre ich da Ionesco sagen, comme c'est bizarre, que c'est curieux, et quelle coïncidence!

Doch das absurde Rätsel löst sich, wenn man bedenkt, daß Egger, was Seethaler nicht weiß (als Künstler jedoch ahnt), das ganze Leben noch vor sich hat.

Grafik: Photo by Pablo Heimplatz on Unsplash