»Der Tod bleibt sich immer gleich, doch jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod.« So der programmatische erste Satz in Carson McCullers letztem Roman Uhr ohne Zeiger.
Die Person, die dieses Urteil trifft und die sodann über 400 Seiten lang stirbt, heißt nicht umsonst Malone, denn mitzuhören ist: I am alone. Malone ist im Grunde, wie jede der Figuren in Carson McCullers Südstaatenstädtchen, ein Vereinzelter. Als er seinen letzten Atem tut, ist gerade die Frau in die Küche gegangen, um eiskaltes Wasser ohne Eis zu holen. Der Tod ist ein Einzelgänger, wie alles in diesem Nest Milan in Georgia.
Insofern hält der Roman, was er eingangs verspricht. Eine andere Frage ist, ob dieses Versprechen wahr ist? Sind die Menschen tatsächlich so, wie sie McCullers darstellt? Sind sie letztlich bloße Monaden, deren Wege sich, warum auch immer, bisweilen kreuzen, aber diese Kreuzungen sind weiß Gott keine Berührungen, oder wenn Berührungen, dann sorgt McCullers dafür, daß diese Momente der Nähe schonungslos in die Brüche gehen.
Denn das ist das eigentlich Verstörende an diesem Werk: die Kühle der Autorin. Ein alter, seniler, skurriler Richter wird seziert, als sei McCullers dessen erbarmungslose Entomologin. Sherman, der von Haß und Selbsthaß zerfressene farbige Junge wird pfeilgerade in den Untergang bugsiert. Malone, der Todeskandidat, wird belanglos eingeführt und belanglos entlassen. Nichts Neues unter der Sonne.
Was bleibt, wenn jeder seinen eigenen Tod stirbt? Sagen wir es geradeheraus: Dann bleibt gar nichts. Und tatsächlich bleibt in Uhr ohne Zeiger nichts. Der Titel sagt es ja auch schon: Diese Uhr ist defekt, oder vielmehr, diese Uhr ist keine Uhr, sie ist ein Symbol des Nichts. Und dieses Nichts verschlingt irgendwann alles. Der Nächste im mitleidlosen Abgrund wird der übergewichtige Richter sein, sein Apoplex ist nur mehr eine Frage von Stunden. Aber auch das ist letztlich belanglos, denn wen wird’s kümmern in einer Welt, in der es Stunden eigentlich nicht mehr gibt, da es keine Uhrzeiger gibt?
Der Roman erschien 1961. Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen. Und vermutlich werden die Meisten, wenn sie denn McCullers lesen, ihre Diagnose bejahen. Ja, Atome, brütende Egos in ihren Kokons, »Zigeuner am Rande des Universums (…), das für seine (des Menschen) Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen« (Jacques Monod), das sind wir.
Nein, das sind wir nicht. Oder vielmehr, wir sind es genau dann, wenn wir die Urbeziehung kappen, die Beziehung zu unserem Schöpfer.
Malone, kurz vor seinem Ende, beginnt plötzlich über seine unsterbliche Seele zu räsonieren. Könnte es sein, daß es diese unsterbliche Seele gibt? Und wenn ja, was geschieht mit ihr?
Ein protestantischer Pastor wird’s wohl wissen. Also macht sich Malone auf zu ihm und fragt ihn. Doch es ist symptomatisch für die Krise der totalen Einsamkeit, daß der Pastor genauso ratlos ist wie sein Fragesteller. Die Frage nach der unsterblichen Seele versandet in banalen, nichtssagenden Allerweltsfloskeln. Und um dem absurden Theater die höhnische Krone aufzusetzen, entläßt der Pastor sein Schäfchen mit den Worten: »Ich freue mich, daß Sie vorbeigekommen sind. Meine Pfarrkinder sind mir jederzeit willkommen, wenn sie über spirituelle Fragen sprechen wollen.«
McCullers, wie man sieht, leistet ganze Arbeit. Es darf kein Halt bleiben. Kein Trost. Kein Angelpunkt, kein noch so zarter Ariadnefaden, der aus dem Nichts hinausführen könnte. Die unsterbliche Seele bleibt als kurioses Lexem in der Luft hängen, gleichfalls allein.
Aber wie gesagt, das ist die verzweifelte Perspektive des Mädchens mit den großen Augen, das Carson McCullers heißt. Der Apostel Paulus hat keinen Roman geschrieben, lediglich Briefe. Aber Paulus kommt zu einem ganz ganz anderen Resultat.
Im Römerbrief schreibt er: »Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn« (14,7f).
Das schreibt kein frommer Blinder, sondern ein Sehender. Einer, der zu dem lebendigen Gott gefunden hat. Wenn dies geschieht – gleich ob durch einen Sturz vor Damaskus oder durch eine große Liebe oder durch eine wahre Lektüre –, dann ändert sich alles, auch die Einkapselung. Dann ist der Schmetterling frei. Der Kokon liegt hinter einem. Dann beginnen die Berührungen. Die Beziehungen, die echten. Mitten im Universum. Denn dann hat die Uhr Zeiger und die Zeit ist erfüllt.
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