Freitag, 3. Februar 2017

Das irrende Gewissen

Herr P., von dem wir im letzten Beitrag berichteten, hat noch einen anderen Trumpf im Ärmel. Denn wenn alle Stricke reißen, sprich, wenn er doch irgendwann darauf kommen sollte, daß seine sogenannte Gewissensentscheidung bereits im Ansatz die falsche war, dann – und auch das ist übliche moderne Einrede – kann er sich derart lossprechen, daß er behauptet, er habe halt lediglich seinem irrenden Gewissen Folge geleistet.

Mit anderen Worten: Herr P. ist, wie man es auch dreht und wendet, immer auf der Siegerseite. Sein Gewissen ist nicht länger die göttliche Instanz in ihm, sondern sein Gewissen ist nun tatsächlich mutiert zu seinem Gewissen, und dieses autonome Gewissen ist imprägniert gegen alle Einwände. Herr P. bestimmt, Herr P. gibt vor, Herr P. ist der Unschuldige. Noch das irrende Gewissen bringt nicht zum Nachdenken. Ganz im Gegenteil. Das irrende Gewissen, gleichsam sakrosankt, muß jetzt dazu herhalten, endgültig zugunsten von Herrn P. zu votieren: Er hat halt nicht anders können.

Und ist Herr P. ein Theologe, dann kann man fast sicher sein, daß er Thomas von Aquin herbeizitieren wird, um kraft dessen Autorität ein für allemal seine Position zu zementieren. Schließlich habe doch auch der engelgleiche Lehrer nichts anderes behauptet, als daß man seinem irrenden Gewissen auf jeden Fall folgen müsse.

Weiß es Herr P. nicht oder verschweigt er absichtlich, was er weiß?

Denn der heilige Thomas von Aquin ist ein denkbar ungeeigneter Apologet für Herrn P.’s verwerfliches Handeln. Auch diesbezüglich stellt Robert Spaemann die Faktenlage richtig:
»Bei der Berufung auf die Heiligkeit des irrenden Gewissens wird oft Thomas von Aquin zitiert, der feststellt, es sei auch dann schuldhaft, gegen das Gewissen zu handeln, wenn das Gewissen irrt. Leider wird fast nie der zweite Teil desselben Textes zitiert, in dem es heißt, dem in sittlicher Hinsicht irrenden Gewissen folgen, sei ebenfalls schuldhaft, weil nämlich der Gewissensirrtum des Nichtvernehmens eines unbedingten Anspruchs selbst ein sittlicher Defekt sei. Es komme also vor allem darauf an, diesen Defekt zu beheben«.
(in: Grenzen, Kapitel »Das Entscheidungsrecht der Frau …«, 382–391, hier 389)
Es bleibt dabei: Herr P. hat dem Gewissen nicht zugehört, sondern schlechterdings weggehört. Das hat ein Leben gekostet.

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