Freitag, 27. Januar 2017

Das Gewissensurteil

Es hat sich heutzutage die Rede eingebürgert von der Gewissensentscheidung. Gleich, wie der Einzelne sich entscheidet, das Gewissen muß herhalten, um die getroffene Entscheidung zu rechtfertigen. Das betrifft nun auch die verheerenden Entscheidungen.

Die Freundin von Herrn P. ist in der neunten Schwangerschaftswoche. Für Herrn P. ist die Sache schnell geregelt. Die Freundin soll das Kind abtreiben. Herr P. nennt das seine rechtmäßige Gewissensentscheidung, an der es nichts weiter zu debattieren gibt; schließlich ist die private Gewissensentscheidung, dem Zeitungeist ganz konform, das unhinterfragbare Nonplusultra, gleichsam der Ausweis echter Humanität. Wer die Gewissensentscheidung praktiziert, erweist sich als Mensch. Wer sie widerlegt, gilt als Unmensch.

Ist dem so?

Nein. Es verhält sich radikal anders.

Gaudium et spes 16 gibt folgende Beschreibung der Würde des sittlichen Gewissens:
»Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selber gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat.«
Mit anderen Worten: Der Mensch, der dem in ihm verankerten Gesetz widerspricht oder es verneint, widerspricht damit nicht nur Gott, sondern auch sich selbst, indem er seine personale Verfaßtheit, zu der die Orientierung am göttlichen Gesetz gehört, zutiefst mißversteht oder auch mißbraucht als Lizenz zum eigenwilligen Setzen dessen, was auf der Waage des Seins als gut und böse zu gelten hat.

Die moderne Rede von der Gewissensentscheidung legt nahe, daß der Mensch, der sich zu einer Entscheidung durchringt, gleichsam der kreative Urheber des Gewissens sei. Dem gegenüber betont Robert Spaemann zurecht:
»Das Wort ›Gewissensentscheidungen‹ ist (…) irreführend. Entscheidungen können dem Gewissen entsprechen oder widersprechen. Aber wenn sie dem Gewissen entsprechen, dann heißt das nicht, daß ›das Gewissen entschieden hat‹, sondern daß der Mensch so entschieden hat, wie es dem Urteil des Gewissens entspricht.«
(in: Personen, Kapitel »Gewissen«, 175–190, hier 183)
Zeiten der Verwirrung sind stets auch Zeiten sprachlicher Verwirrung. Platon konnte in seiner sophistischen Umgebung ein Lied davon singen. Da tut es gut, ja, es ist wortwörtlich lebensnotwendig, die Begriffe zu klären. Herr P. hat dem Gewissen nicht zugehört, sondern schlechterdings weggehört. Das hat ein Leben gekostet.

Grafik:   tokamuwi / pixelio.de