Es gibt sie – gute Filme. Filme, die nicht die gängigen Klischees bedienen, Filme, die sich den Fragen des Lebens stellen, die wirklich zählen. Filme, die abseits von Hollywood gedreht werden. Zum Beispiel: Brüder, Feinde.
Daß kleine Länder im politischen Geschehen stets aufs Neue Spielball der Großmächte wurden, ist historische Tatsache. Estland ist ein Beispiel unter anderen.
Von der russischen Armee 1940 gewaltsam annektiert, werden in der Folgezeit tausende von Esten zwangsdeportiert in die Sowjetunion, etliche kommen in den Gulags um.
Schon ein Jahr später, nach der Aufkündigung des Nichtangriffspaktes zwischen Deutschland und der Sowjetunion, besetzen die Nazis das kleine Land und rekrutieren Esten mit Gewalt in die deutsche Armee. Damit ergibt sich plötzlich die furchtbare Konstellation, daß zwangsrekrutierte Esten der deutschen Wehrmacht zwangsrekrutierten Esten der roten Armee in den mörderischen Kriegsschauplätzen gegenüberstehen. Landsleute, Brüder, geraten unfreiwillig zwischen die Fronten und werden im Maelstrom des Krieges zerrieben.
Genau davon erzählt Brüder, Feinde.
Der Film ist zweigeteilt. Während im ersten Teil die Geschichte des Soldaten Karl erzählt wird, der auf Seiten der Deutschen gegen die Besatzermacht der Russen kämpft, erzählt der zweite Teil von Jüri, der, gleichfalls Este, als Rotarmist gegen die Deutschen in den Krieg zieht. Und das Unausweichliche geschieht. Die beiden Landsmänner treffen in einem Gefecht aufeinander, wobei Jüri Karl erschießt.
Mit dieser Tatsache kann Jüri fürderhin nicht leben. In der Brusttasche des Getöteten findet er einen Brief Karls an eine Frau. Jüri nimmt den Brief, gleichsam als Testament des Verstorbenen, an sich und bringt in einer späteren Szene, als die russische Armee in Tallinn einmarschiert, das Schreiben an die auf dem Brief notierte städtische Adresse.
Die Empfängerin des Briefes, so ergibt sich aus der anschließenden Begegnung, ist nicht Karls Frau, sondern dessen Schwester. Womit Jüri nicht rechnete: Er, der Karl getötet hat, verliebt sich in die fremde Frau, vermag freilich nicht auf deren Frage nach den Umständen des Todes ihres Bruders die ganze Wahrheit zu gestehen. Er weicht aus, um zu verschweigen, daß er der Täter ist. Aber eine Träne rinnt seine Wange hinunter, als Karls Schwester beiläufig feststellt, er habe eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl, und daß die Unschuldigen stets die Schuld spüren würden, während die wirklichen Schuldigen nichts spürten.
Mehr soll an dieser Stelle nicht gesagt werden. Nur noch so viel. Der Film endet mit einer schwebenden Frage Jüris. Sie wird aus dem Off gestellt. Es ist die Bitte um Vergebung: … bitte verzeih mir, wenn du kannst.
Wann erfährt man dies in einem modernen Film? Daß die Frage der Schuld nicht kleingeredet wird, daß die Arbeit des Gewissens nicht kleingeredet wird, daß die Frage des Verzeihens still, aber prägend das Geschehen grundiert?
Und auch dies ist dieses filmische Meisterwerk aus Estland: Eine Erzählung über Mut und Ehrlichkeit, über Menschlichkeit trotz unmenschlicher Bedrohung, über Einzelne (denn es sind immer Einzelne), die sich der Lüge widersetzen, und über die vielen Anderen (denn es sind immer Viele), die Mitläufer sind und gegebenenfalls wortwörtlich über Leichen gehen.
Und schließlich: Brüder, Feinde zeigt unsentimental die uralte Geschichte: Daß der Stärkere untergeht und genau so siegt. Und daß der weite, stille, hohe Raum der Kirche, in welcher das Kreuz unübersehbar den Blick beherrscht, der gemeinsame Ort ist, wo zwei Liebende sich finden können.