Samstag, 30. Oktober 2021

Berührend

 
Gidon Kremer, der weltberühmte Geiger, erzählt in seinem Buch Obertöne gleich zu Beginn über eine kurze Begegnung.

Es ist nach einer Konzertprobe (Brahms), als eine Mutter mit ihrem Kind ihn anspricht. Das junge Mädchen, welches, wie sich herausstellt, von Geburt an blind ist, sagt ein Gedicht auf russisch auf. Danach fragt die Mutter Kremer, welche Geige er spiele. Kremer gibt zur Antwort: »Eine Stradivari.« Die Mutter, die daraufhin zur Tochter sagt: »Stell dir vor, zum ersten Mal hast du eine echte Stradivari gehört«, fragt anschließend den Geiger, ob ihre Tochter die Stradivari berühren dürfe. Kremer berichtet:

»Natürlich«, sagte ich. Das Mädchen begann tastend mit seinen Fingern über die ganze Geigenfläche zu wandern, mit äußerst sachten Bewegungen, als ob es einen lieben Menschen zu erkennen versuche. Dem Gesicht waren dabei Aufregung und Begeisterung deutlich anzumerken. Die geschlossenen Augen standen dazu in schmerzhaftem Widerspruch.«
Kremer läßt die Geschichte damit nicht enden. Die Begebenheit mit dem blinden Mädchen wirkt weiter. Die Berührung der Stradivari wirkt weiter. Denn als Kremer am selben Abend schließlich das Brahmskonzert spielt, hat er, bereits bei den ersten Tönen, das Gefühl, als sei das Instrument »von einem besonderen Geist beseelt«.

Hier wird keine esoterische Geschichte erzählt. Es ist vielmehr eine Geschichte von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Berührung. Davon, was ein versehrter Mensch, in diesem Fall ein blindes junges Mädchen, an Strahlkraft auslöst, wenn er die Welt nicht herrisch in Besitz nimmt, sondern behutsam sich schenken läßt.

Und es ist auch die Geschichte über das Wunder der Musik. Über Töne, die zu Herzen gehen und die, wenn man nur aufnahmebereit ist, einen verwandeln, da die große Musik das macht, was alle große Kunst macht: Sie führt ins Leben, ins echte.