Geboren wird Hildegard in eine »weibische Zeit«. So kennzeichnet sie selbst ihr Zeitalter. Es ist eine Zeit der großen Gefährdungen und Versuchungen, eine Zeit der Betrügereien, der Täuschungen, der Häresien. Es ist vor allem die Zeit geistigen und moralischen Niedergangs, in der selbst der Klerus seine Aufgaben sträflich vernachlässigt: »Weh, wehe – die heutige Zeit ist nicht kalt, sie ist auch nicht warm, sie ist einfach lau.«
Dem Menschen ist jedoch aufgetragen, was sie einst dem Erzbischof von Bremen vorschreibt: »Sei ein heller Stern, der in der Finsternis der Menschen in ihrer Verderbnis leuchtet (…).«
Sie selbst, Hildegard, ist zeitlebens eine im Licht Lebende. Das Licht, das unfaßbare, das ursprüngliche, hat ein Beiwort. Hildegard spricht immer wieder vom lebendigen Licht. Auch das Adjektiv wahr legt sie dem Licht bei. Oder das Adjektiv mild. Oder geheimnisvoll.
Und dann gibt es noch den Schatten des Lichts, in dem Hildegard, so sie, beständig lebe, gleichsam das Fenster zum übergroßen lebendigen Licht.
Spät, vier Jahre vor ihrem Tod, schreibt sie an Wibert ausführlich über das Geheimnis ihrer visionären Gabe. Da heißt es:
»Von meiner Kindheit an, als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreue ich mich dieser Gabe der Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, da ich doch schon mehr als siebzig Jahre alt bin (…) Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel, viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. Weder Höhe noch Länge noch Breite vermag ich an ihm zu erkennen. Es wird mir als der Schatten des Lebendigen Lichtes bezeichnet (…) Die Gestalt dieses Lichtes vermag ich aber nicht zu erkennen, wie ich ja auch die Sonnenscheibe nicht ungehindert anschauen kann. In diesem Licht sehe ich zuweilen, aber nicht oft, ein anderes Licht, das mir das lebendige Licht genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen.«
Als die Seherin Hildegard 1179 in ihrem Kloster auf der Bergeshöhe stirbt, bleibt das Licht. Denn es sei – so steht es in ihrer Lebensbeschreibung – am Tag ihres Heimgangs in die Ewigkeit am Himmel eine wunderbare Lichterscheinung aufgestrahlt, welche »die nächtliche Finsternis vom Sterbehaus zu vertreiben« schien. »In diesem Lichte«, so fährt die Vita fort, »sah man ein rotschimmerndes Kreuz, das zuerst klein war, dann aber zu ungeheurer Größe anwuchs.« Die Lichterscheinung hüllt schließlich »den ganzen Berg in strahlendes Licht«
Und die Verfasser der Vita bezeugen abschließend: »Wir müssen wohl glauben, daß Gott durch diese Zeichen offenkundig machte, mit welcher Lichtfülle Er seine Geliebte im Himmel verherrlicht hat.«
Am 7. Oktober 2012 hat Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin (Doctor Ecclesiae universalis) erhoben.