IV.
Wo ist der Platz des Menschen in dem besungenen Kosmos, in der Symphonie der Grünkraft?
Homo est clausura mirabilium Dei – der Mensch ist die Eingeborgenheit der Wundertaten Gottes. Er ist Sein Werk (opus Dei), ja er steht als vollkommenes Werk Gottes mitten im Weltenbau, gestaltet mit Leib und Seele, Geschöpf und Schöpfer zugleich: »Sein Haupt nach aufwärts gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er sowohl die oberen als die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen.«
Alles am ursprünglichen Menschen ist Wohlklang. Gott, der überaus herrliche Künstler, formt sein Ebenbild in leib-seelischer Ganzheit, als Mann und Frau, und Er bildet sein Werk in Analogie zum kosmischen Weltgefüge und schenkt ihm in liebender Zuneigung alle Vermögen, damit der Mensch im Bauplan der Welt Verantwortung zu übernehmen und vernunftbegabt maßvolle, diskrete Entscheidungen zu treffen vermag: »Und Gott übergab dem Menschen die ganze Schöpfung, auf daß er sie mit seiner Manneskraft durchdringe, damit er alles wisse und alles erkenne. Denn der Mensch als solcher stellt die gesamte Schöpfung dar (homo omnis creatura), und der Hauch des Lebens, der kein Lebensende hat, kommt in ihm wesentlich zur Erscheinung.«
Woher dann der Absturz des Menschen? Woher seine Hinfälligkeit? Sein Kranksein?
Das Drama beginnt am Ursprung, im Garten der Liebe, im Paradies. Der erste Mensch, noch ganz Licht, hervorgegangen aus der Hand des höchsten Künstlers (summus artifex), berufen zur Freude des Lebens, wählt in fehlgeleiteter Freiheit den Ungehorsam gegenüber seinem Schöpfer. In kleinlicher egoistischer Sicht, die den Blick auf das gerechte, lichtvolle Ganze und das Wohl der Schöpfung auslöscht, wählt er die Entstellung und die Spaltung.
Da jedoch der Mensch, das auserlesene Geschöpf Gottes, nie nur der solipsistische Einzelne ist, sondern in ihm die Mit-Welt zusammenklingt (symphonein), reißt er in seinem Sündenfall die gesamte Schöpfung in den Mißklang und die Entwurzelung mit hinein. Es ist mehr als eine mittelalterliche Anekdote, wenn in Hildegards Schau die heile Welt eine singende ist, Weltmusik (musica mundana), während der Teufel, der ewig Unheile, lediglich krächst.
Die Abbildung im Rupertsberger Scivias - Kodex zeigt den gefallenen Menschen als denjenigen, der quer zur Schöpfung liegt. Er hat seinen Platz in der Ordnung der Dinge eingebüßt, wird zum Umherschweifer, zum Ruhelosen, zum Heruntergekommenen. Mit der unvernünftigen, finsteren Entscheidung zur Sünde hält das Arsenal des Abtrünnigen Einzug in die urständige Augenweide der Schöpfung: Angst, Krankheit, Sorge, Not, Wankelmut, Umherschweifen, Siechtum, Mißtrauen, Unglauben, Verkrümmung ins Eigene, Gebrechlichkeit, Verstimmung, Verwirrung, Unbeständigkeit und Tod.
Das Erschütternde der Schau Hildegards: Aus dem Wunderwerk der Welt in ihrem lichten anmutigen Schwung wird der Ort der Plage und Schwere. Die Klage der Elemente ist herzzerreißend: »Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.«
Auf diesen Schrei der Not antwortet Gott, der Vir Deus: »Jegliches Geschöpf strebt hin zu seinem Schöpfer. Nur der Mensch ist ein Rebell.« Der Mensch hat »immer den Geschmack des Paradiesapfels im Munde«.
Da jedoch Gott der Gott des Erbarmens ist, beläßt er den Menschen nicht im Unglück der Ferne, sondern geht ihm nach, ja wird zu Seinem Gefährten im Wunder der Inkarnation. Zum gefallenen Menschen kommt der göttliche Arzt, Christus, der barmherzige Samariter: »Dieser goß Öl und Wein in seine Wunden, das Öl Seiner Menschwerdung (...)«
Ergreift der Mensch die ausgestreckte Hand des Menschensohnes, die stets in der heiligen Herberge der Kirche auf ihn wartet, dann beginnt, bereuend und weinend, seine Rückkehr in die verlorene Heimat, in das Refugium der Freude, in die Kirche, die goldene Stadt. Die Reue ist der Schlüssel zur Heimkehr: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel. Das heißt: Gegen das himmlische Kunstwerk, das sich selbst bin.«