Mittwoch, 10. März 2021

Hildegard von Bingen – Die Ärztin

V.

Nach dem bisher Gesagten dürfte es einleuchten, daß dann, wenn von der Ärztin Hildegard und der ihr zugeschrieben Heilkunst die Rede ist, mehr auszusagen ist als ein plattes therapeutisches Konzept, dem es lediglich um die Instandsetzung kranker Funktionen geht.

Heilkunst ist Kunst des Heilens und also Lebenskunde. Alle Lebensbereiche sind im Blick der Benediktinerin, die gesamte materielle Welt als Reservoir des göttlichen Heilungswillens – Edelsteine, Steine, Metalle, Kräuter, Bäume, Pflanzen, Tiere – wird befragt, dies stets in der Haltung der discretio, der Unterscheidung, die für Hildegard Mutter aller Tugenden ist. 

Zu dieser Gabe des Unterscheidens gehört, sich einerseits nicht im Fragmentarischen zu verlieren, andererseits nie außer Acht zu lassen, daß der aktuelle Stand des Menschen ein gebrechlicher Zwischenstand ist (destitutio), nämlich zwischen dem verlorenen schönen Urstand (constitutio) und seinem Ziel der Wiederherstellung (restitutio).

Zu fragen hat sich der Kranke: Wie sinnvoll ist meine Lebensführung? Traue ich der guten Schöpfung, der lebensfrischen, nie versiegenden Grünkraft, die meine umfassende Gesundung will? Bin ich bereit, den Weg der Bekehrung und Buße zu gehen und mich und mein habituelles Unglück loszulassen und meine Wunden dem großen Arzt Christus – dem magnus medicus, dem Christus medicus - hinzuhalten und zu übergeben in der Überzeugung: »Heilig bist Du, der Du die eiternden Wunden reinigst.«? Oder, wie es in Scivias aus dem Munde Christi selbst heißt: »Ich bin der große Arzt für alle Krankheiten, und Ich handle wie ein Doktor, der einen Kranken sieht, der so sehr nach einer Medizin verlangt.«

Die Medizin, das remedium, will im wahren Wortsinn re-medium sein, Mittel, um den Menschen zurückzuführen in seine ursprüngliche Ganzheit. Naturkunde, Krankheitslehre, Diätetik, Anthropologie, Kosmologie und theologische Durchdringung verbinden sich in Hildegards Lebenskunde zu einem harmonischen Gefüge.

Für den Arzt bedeutet dies, so der  Medizinhistoriker Schipperges: 

»Krankheit wird nicht als ein pathogenetischer Prozeß beschrieben, sondern eher als Unterbleiben und Versagen, als ein modus deficiens, während Gesundsein als produktives Geschehen gedeutet wird, als creatio continua, eine permanente Zeugung aus dem lichten Grün der viriditas. Deshalb besteht auch das Ethos des Arztes nicht im Sanieren, sondern in der Barmherzigkeit, die man einem notleidenden Menschen entgegenzubringen bereit ist. In der Situation der Not ist es die Hilfe, die von der Barmherzigkeit getragen wird. Es ist die Gestalt der Barmherzigkeit, die denn allein auch der Erscheinung der Herzenshärte die gebührende Antwort zu geben vermag.«

Diese Gestalt der Barmherzigket spricht im Liber vitae meritorum, dem Buch der Lebensverdienste: »Ich aber, die Barmherzigkeit (misericordia), ich bin in Luft und Tau und in aller grünenden Frische ein überaus liebliches Heilkraut. Übervoll ist mein Herz, jedwedem Hilfe zu schenken (…) Den Gebrechlichen helfe ich auf und führe sie zur Gesundung.«

Hildegard selbst ist zeit ihres Lebens von Krankheiten heimgesucht. Sie weiß, was es bedeutet, krank zu sein und zu leiden, ein homo patiens zu sein. Diesbezügliche Äußerungen ihrerseits sind zahlreich; in der Vita II, 14 heißt es:

»Niemals habe ich geruhsam dahingelebt, sondern in vielfachen Trübsalen mich abgemüht (…) Gott verstrickte mich in so viele Unbilden, daß ich nicht mehr zu denken wagte, welch große Güte Er mir in seiner Gnade schenken werde, zumal ich sah, in welches Unglück die gerieten, die sich der Wahrheit widersetzten. Von der Trübsal und den Schmerzen, die ich durch die trockene Hitze zu erleiden hatte, wurde mein Körper so zusammengeknetet, wie wenn lehmige Erde mit Wasser zusammengemengt wird.«

Und in einem Brief an Wibert von Gembloux, ihren späteren Sekretär, schreibt sie: »Und ich werde durch Krankheiten stark gehemmt und oft derart in schwere Schmerzen verstrickt, daß sie mich zu Tode zu bringen drohen. Doch hat Gott mich bis jetzt immer wieder neu belebt.«

Die Gewißheit von Gottes Plan und die Begegnung mit dem Arzt Christus tragen sie letztlich durch alle Prüfungen, wie es anderer Stelle in der Vita heißt (II, 10): »Wären die quälenden Schmerzen, die ich an meinem Leibe erlitt, nicht von Gott gekommen, ich hätte nicht länger zu leben vermocht.«

Darum auch läßt sie sich von den Drangsalen nicht entmutigen, auch aus teuflischen Anfechtungen geht sie kraft der Gnade als Siegerin hervor, denn: »Obgleich ich auch durch dies gepeinigt wurde, so sprach, sang und schrieb ich doch in der göttlichen Schau, was der Heilige Geist durch mich verkünden wollte.«