Samstag, 13. März 2021

Hildegard von Bingen – Die Feder

Vielleicht denkt mancher, eine Visionärin sei eine in ihrem religiösen Elfenbeinturm Lebende, die wenig von den aktuellen Weltläuften erfahre. Weit gefehlt.

Der Briefwechsel Hildegards macht überdeutlich das prophetische Sprechen Hildegards in ihre Zeit hinein. Und dieses Sprechen ist von stupender Aufrichtigkeit, Geradheit und Unbestechlichkeit. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen.

1178, und also ein Jahr vor ihrem Tod, läßt Hildegard einen mutmaßlich exkommunizierten Adligen auf ihrem Klosterfriedhof beerdigen. Tatsächlich hat sich jedoch dieser Adlige vor seinem Tode durch den Empfang der Sakramente wieder mit der Kirche versöhnt. Da die Wiederaufnahme in die Kirche jedoch nicht offiziell stattgefunden hat, sondern lediglich im quasi privaten Rahmen, verlangt das Mainzer Domkapitel von Hildegard die Entfernung der Leiche aus der geweihten Erde.

Der Erzbischof von Mainz ist, als diese Auseinandersetzung beginnt, nicht in Mainz, sondern in Rom, und kann daher nicht eingreifen. Hildegard weigert sich standhaft, der ungerechten Anordnung des Domkapitels nachzukommen. Daraufhin wird die Kirchenstrafe des Interdikts über sie und über ihre Klostergemeinschaft verhängt. Das heißt im Klartext: Verbot der gottesdienstlichen Handlungen, Verbot der Sakramentenspendung, Verbot des Gesangs der Tagzeitenliturgie.

Die Beschneidung des klösterlichen Lebens konnte drastischer nicht sein. Bedenkt man allein die Tatsache, daß der tägliche Psalmengesang, der das benediktinische Klosterleben strukturiert und prägt, für Hildegard, die Schöpferin etlicher geistlicher Hymen und Antiphonen, zugleich geschuldetes Gotteslob wie musikalischer himmlischer Balsam für Körper, Geist und Seele ist, mag man die Grausamkeit der Maßnahme ermessen.

Die Replik Hildegards an die Mainzer Prälaten läßt an geistlicher Schärfe nichts zu wünschen übrig (was man, notabene, auch in Zeiten wie den unsrigen gut bedenken sollte): 

»Diejenigen also, die der Kirche in Bezug auf das Singen des Gotteslobes Schweigen auferlegen, werden – da sie auf Erden das Unrecht begingen, Gott die Ehre des Ihm zustehenden Lobes zu rauben – keine Gemeinschaft haben mit dem Lob der Engel im Himmel, wenn sie das nicht durch wahre Buße und demütige Genugtuung gutgemacht haben.«
Und dennoch: Hildegard ist bereit, den Schmerz des Verzichts zu leben, wenn es die Wahrheit verlangt. Sie ist zu keinem fadenscheinigen Kompromiß, erst recht nicht zu einer Lüge bereit (die Lüge nennt sie »das Laster der Unmenschlichkeit«). Und die Wahrheit, die nicht auslöschbar ist, setzt sich endlich durch. Nach Monaten schrecklicher Prüfung wird das Interdikt aufgehoben. Zeugen bestätigen, daß der Exkommunizierte tatsächlich im Frieden mit der Kirche verstorben ist; sogar der Priester, der ihm die Beichte abgenommen hatte, sagt zu Hildegards Gunsten aus.

Mit diesem letzten Kampf neigt sich das Leben der Äbtissin dem Ende zu. Ein Leben, welches bei aller Begnadung zugleich ein Leben der steten Angefochtenheit ist: »Ich (...) bin ständig von zitternder Furcht erfüllt. Denn keine Sicherheit des Könnens erkenne ich in mir.«

Sie weiß, daß sie die Arme ist, die ganz zu Gott hin Geöffnete, die alle ihre vorzüglichen Gaben nicht sich verdankt, sondern ihrem Schöpfer, in dessen liebender Umarmung sie sich aufhält: »Und so bin ich keineswegs durchtränkt mit einer menschlichen Wissenschaft, auch nicht mit besonderen Geisteskräften, strotze auch keineswegs von körperlicher Gesundheit, sondern fuße allein auf der Hilfe Gottes.«

Sie ist »eine kleine Feder«, die nicht aus sich selbst heraus fliegt, sondern im Windhauch Gottes sich bewegen läßt, so die wirklichkeitsgetreue Selbsteinschätzung der Äbtissin. Gott hat es gefallen, das Federchen zu berühren, auf »daß sie in Wundern emporfliege«. Oder wie es an anderer Stelle heißt: »Doch strecke ich meine Hände zu Gott empor, daß ich von Ihm gehalten werde, wie eine Feder, die ohne jedes Gewicht von Kräften sich im Wind dahinwehen läßt.«

Und das Federchen ist, auch dies gehört zur Selbstbescheidung, nur das Fenster, fenestrum. Wort und Werk der Seherin sind zu verstehen fenestraliter, sie sind nicht das Urlicht selbst, sondern öffnen gleichsam wie ein Fenster den Blick in die Mysterien der Schöpfung, sind durchlässig für das Licht von oben und durchscheinend auf IHN hin, der alles umfängt.