Das biblische Buch des Alten Testaments, welches den Namen Ester trägt, erzählt von der lebensbedrohlichen Situation, in die das jüdische Volk in Persien gerät. Haman, der mächtige Wesir im persischen Reich, will die gesamte jüdische Bevölkerung ausrotten. Der Plan ist bereits geschmiedet, die entsprechenden Maßnahmen getroffen, der vom König unterschriebene diesbezügliche Erlaß an sämtliche Provinzen ausgehändigt.
In dieser, wie es scheint, ausweglosen Lage richtet Mordechai, der mit anderen Stammesgenossen aus Jerusalem nach Persien verschleppt wurde, an Ester, deren Vormund er ist, eine unmißverständliche Botschaft.
Dazu muß man wissen: Ester lebt in den schönsten Räumen des sogenannten Frauenpalastes, im königlichen Prunkbau, denn Artaxerxes, der herrschende König, ist von ihrer Anmut und Schönheit äußerst angetan, erwählt sie schließlich zur Königin, weiß freilich nicht, daß sie eine gebürtige Jüdin ist.
Als Ester durch ihre Dienerinnen und Kämmerer erfährt, daß ihr Volk in großer Trauer ist, daß es klagt, weint und fastet, schickt sie Mordechai Gewänder, damit er, wie es heißt, »sich bekleiden und das Trauergewand ablegen könne«. Doch Mordechai verweigert diesen Tausch.
Daraufhin will Ester Genaueres wissen und schickt ihren Diener mit der Bitte um Auskunft zu Mordechai. Dieser läßt ihr den mörderischen Erlaß überbringen und zusätzlich ausrichten, daß sie, Ester, zum König gehen und inständig für ihr Volk um Gnade bitten soll.
Wie reagiert nun die Ziehtochter?
Ester antwortet, daß sie nicht nach eigenem Gutdünken zum König gehen könne, nur dann, wenn der König ausdrücklichen Befehl erteile, dürfe man sich ihm nahen. Wer ungerufen in den inneren Hof des Königs vordringe, sei des Todes.
Doch nun geschieht das Außergewöhnliche: Mordechai nimmt die Absage Esters, die scheinbar unantastbar und unwiderlegbar ist, nicht an. Er läßt ihr mitteilen: »Glaub ja nicht, weil du im Königspalast lebst, könntest du dich als einzige von allen Juden retten. Wenn du in diesen Tagen schweigst, dann wird den Juden anderswoher Hilfe und Rettung kommen. Du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen.«
Dies ist die Lektion, die ein jeder, auch Ester, zu lernen hat: Wenn es um das Leben geht, um das Geschenk des Lebens, wenn dieses Geschenk bedroht ist, wenn es sprichwörtlich um Leben oder Tod geht, dann gilt kein Rückzug, kein vornehmes Schweigen, kein Abstandnehmen. Dann gilt nicht länger das Gewöhnliche, sondern das Außer-Gewöhnliche. Dann gilt der Widerstand. Denn man darf nicht schweigen, wenn das Leben auf dem Spiel steht.
Und Ester versteht auf der Stelle. Sie übernimmt die Aufgabe, die allein ihr zusteht. Sie geht zum König, auch auf die Gefahr hin, in tödliche Ungnade zu fallen.
Aber auch dies gilt: Der Widerstand ist nur dann recht, wenn er ein durchbeteter ist. Ester ist nicht die Tollkühne, die Verwegene. Im Gegenteil: Sie ist die, die versteht und also einsieht, daß der Kampf ein geistlicher ist und also mit geistlichen Mitteln geführt wird: Ester betet, fastet, tut Buße, ruft zur Fürbitte auf.
Am Ende steht die Rettung des jüdischen Volkes. Das ist keine billige Gnade. Das ist die eherne geistliche Botschaft der Heiligen Schrift. Wer das Leben verteidigt, geht nicht zugrunde. Denn Gott, der Herr des Lebens, kämpft für ihn.
Grafik: wikicommons / Radbod Commandeur (1890–1955); photo by Deror avi