Wohin man schaut in Michel Houellebecqs 400-Seiten-Roman Karte und Gebiet, grassiert die Tristesse, die freilich routiniert in Szene gesetzt wird. Wie man freilich als Rezensent einer einstmals berühmten deutschen Tageszeitung dahin kommt festzustellen, keiner beherrsche »die Entfremdung und Dekadenz unserer Epoche so genau und lustvoll wie Michel Houellebecq«, bleibt das Geheimnis des Rezensenten.
»Lustvoll«? – Davon ist Houellebecq meilenweit entfernt. Er zeigt vielmehr wie unter dem Seziermesser die Verwüstungen der Moderne oder auch Postmoderne, die allerdings bereits so alltäglich sind, daß sie normal sind. Über den Personen, über den Dingen, ja über der Welt in toto liegt der Schleier der Vergeblichkeit, und dieser Schleier ist, wie könnte es anders sein, grau. Das Glück ist weg. Gott ist weg. Was bleibt, sind Zuckungen, die Menschen halt so machen, wenn es gilt, die Leere zu füllen.
Denn die Leere muß gefüllt werden. Also sättigt sich der horror vacui mit Versatzstücken. Mit müden Reaktionen und Erinnerungen. Ein späterer Leser, falls es ihn noch gibt, mag sich denken: Ja, so muß es mal gewesen sein bei den letzten Erscheinungsformen der Gattung homo sapiens. Man lebte so dahin, das heißt man starb so dahin. Nichts Besonderes. Das Übliche halt. Nur ab und an ein seismographischer Ausschlag. Ein entsetzlicher Mord zum Beispiel. Aber genaugenommen paßt auch dieser in das Wachsfigurenkabinett der leblosen Postmoderne, das sich dreht und dreht und dreht, weil sich Karussells nun mal drehen. Und die Figuren drehen sich mit. Aber das drehende Karussell mit den lackierten Wägen und den grellbunten Kirmesfarben und den rotierenden Figuren dreht sich stumm. Denn das Karussell der Postmoderne, anders als die üblichen Jahrmarktsattraktivitäten, ist musiklos, freudlos. Da spielt noch nicht mal ein Leierkastenmann. Und das Ende ist kein Tusch, sondern der Triumph des leblosen Teppichs, der alles unter sich begräbt: »Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon«, so der letzte Satz des Romans.
C’est la vie, könnte man meinen und das Buch zuklappen.
Merkwürdig nur, daß Houellebecq selbst seinen seitenlang rotierenden Leerlauf durchkreuzt. Über sein im Roman auftretendes alter ego, den Schriftsteller Michel Houellebecq, der bestialisch ermordet wird, notiert er: »Zur Überraschung aller war bekannt geworden, daß sich der Autor der Elementarteilchen, der sein Leben lang einen kompromißlosen Atheismus vertreten hatte, sechs Monate zuvor (nämlich vor seiner Ermordung) in einer Kirche in Courtenay unauffällig hatte taufen lassen.«
Und merkwürdig schließlich, daß gegen Ende des Romans ein anderer der Protagonisten plötzlich radikal dreinschlägt in das tödliche Spinnwebnetz der dekadenten Entropie.
Jed, der Maler, fährt nach Zürich. Sein alternder, kranker Vater hat sich dort, bei dem berüchtigten Suizidunternehmen, die tödliche Dosis verabreichen lassen. Jed, der Sohn, will es genau wissen und sucht die Todesstätte auf. Er will die Akte seines Vaters einsehen, die man ihm widerwillig aushändigt. Und dann passiert’s. Nachdem er die Akte, die lediglich aus einem Blatt Papier besteht, der Funktionärin der Todesstätte wieder zurückgegeben hat, schlägt Jed zu. Er verpaßt der »Frau in hellem Kostüm« Ohrfeigen und Hiebe und Tritte, bis sie zu Boden stürzt. Dann verläßt er seelenruhig die Dignitas-Zentrale, wo, wie die Funktionärin zuvor vermeldet hatte, »die Prozedur«, sprich die Tötung von Jeds Vater, »ganz normal verlaufen« sei.
Das ist die unvermutete, gewalttätige Erregung Houellebecqs. Das Leben ringsum, so zeigt er auf Schritt und Tritt, ist nur mehr Abziehbild des Lebens. Eine Tätowierung unter anderen. Aber die Wahrheit, mag sie noch so sehr entstellt oder entleert oder auch unterdrückt sein, sie ist dennoch nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß der Mensch sich nach Leben sehnt – nicht nach Prozeduren, sondern nach wirklichem, echten, erfüllten Leben.
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