Samstag, 22. Oktober 2022

Wer erlöst?

Das Thema der Erlösung ist bei Richard Wagner das Dauerthema, welches seit dem Fliegenden Holländer den Komponisten umtreibt. Die dramatische Wendung erfolgt schließlich im Tannhäuser. Und diese Wendung ist Wagners Trick.

Dazu muß man sich die berühmte Romerzählung im dritten Akt des Tannhäusers anhören. Der schwache Held ist mit den anderen Büßern nach Rom gepilgert, um beim Papst endgültig Vergebung seiner Schuld zu erlangen. Während nun die Mitpilger diese Vergebung in der Tat empfangen und im Pilgersang davon künden, erzählt Tannhäuser bei seiner Rückkehr über das vernichtende Urteil des Pontifex, dessen Gnade er doch so sehnlich erheischte:

(…) und um Erlösung aus den heißen Banden
rief ich ihn an, von wildem Schmerz durchwühlt. -
Und er, den so ich bat, hub an: -
«Hast du so böse Lust geteilt,
dich an der Hölle Glut entflammt,
hast du im Venusberg geweilt:
so bist nun ewig du verdammt!
Wie dieser Stab in meiner Hand
nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,
kann aus der Hölle heißem Brand
Erlösung nimmer dir erblühn!» - -
Da sank ich in Vernichtung dumpf darnieder,
die Sinne schwanden mir.
Tannhäusers trotzige Reaktion auf das päpstliche Verdikt: Er will zurück in den Venusberg und also zurück in den lasziven Untergang.

Was Wagner nicht thematisiert, ist das theologisch zur Gänze Unverständliche der Romerzählung. Denn warum sollte Tannhäuser, der ja seine aufrichtige Reue und Bußbereitschaft in stürmischen Bildern und Beispielen beschreibt, keine Vergebung erfahren? Das macht keinen Sinn. Zum katholischen Verständnis der Reue und Buße gehört geradezu, daß der echte Bußwillige absolviert wird, noch dann, wenn seine Sünde maßlos ist. Der gute Schächer am Kreuz ist, neben ungezählten anderen, das hinlängliche Beispiel.

Was also macht Wagner?

Er trickst. Er trickst, so unsere Deutung, die katholische Kirche aus. Nicht sie soll, kraft ihres sakramentalen Amtes, die Erlösung vermitteln, sondern die hehre Frau, die sich für Tannhäuser sterbend opfert. Damit aber bewegt sich Wagner in seinem altbekannten huis clos. Die Frau wird stilisiert zur Heroine, die von Wagner höchstselbst kanonisiert wird.

Die katholische Kirche kann damit abdanken. Sie ist in Wagners Weltbild überflüssig geworden. Daran ändert auch nichts der herrliche Pilgerchor, der das ganze katholische Register zieht (Gnade, Heil, Reue, Buße, Hölle, Erlösung). Wagner, der Protestant mit seinem gelinde gesagt aus der Bahn geworfenen Liebesleben, mutiert in der Gewandung des Librettisten zum Hohenpriester und schafft endlich die so inbrünstig herbeigesehnte Erlösung in einem Salto Mortale: Er, er selbst, erlöst sich und die holde Geliebte. Kein Sakrament, keine Kirche, kein Amt ist vonnöten. Die Liebe ist’s. Nur: Die Wagnersche Liebe ist eine rein innerweltliche private, noch dann, wenn sie Wagner zur sakralen stilisiert.

Das heißt zugleich, daß jetzt das berauschte Ich beziehungsweise die berauschten Ichs schrankenlos agieren, musikalisch wie thematisch. Tristan ist schließlich der Exzeß der Selbsterlösung. Und wie jeder Exzeß endet er tödlich, bei Wagner freilich in betörenden Klängen.

Fazit: Man hätte Wagner einen blitzgescheiten Dogmatiker an die Seite gewünscht. Aber vielleicht hätte Cosima da ein Wörtchen mitgeredet...

Grafik: wikicommons